Die parteilose Oberbürgermeisterin von Zwickau, Constance Arndt, erhielt kürzlich eine Mail mit der Androhung „Denken Sie an Walter Lübke. Immer schön aufpassen“. Gemeint ist der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke, der 2019 wegen seiner menschenwürdigen Flüchtlingspolitik auf der Terrasse seines Hauses von einem Rechtsextremisten erschossen wurde. Unterzeichnet war die Mail mit „Adolf Hitler“, als Absenderadresse war angegeben nsu@gmail.com. Leider gehören solch ekelhaften Einschüchterungsversuche inzwischen zum Alltag insbesondere in kleineren Städten und Ortschaften nicht nur Ostdeutschlands. Das zeigt auf, wie brisant die gesellschaftspolitische Großwetterlage in Deutschland geworden ist. Es ist aber auch ein alarmierendes Signal dafür, dass mit den erschreckend hohen Zustimmungswerten für die rechtsnationalistische AfD gewaltbereite Rechtsextremisten und Neonazis in den Vorfeldgruppierungen der AFD immer unverhohlener auftreten und unliebsame Bürger:innen bedrohen können. Im Oelsnitz/Erzgebirge hat jetzt eine Lehrerin die dortige Schule vorzeitig verlassen, nachdem sie im Januar von drei vermummten Menschen an ihrem Parkplatz aufgelauert wurde. Die Vermummten hätten „Sieg Heil“ gerufen und „Wir schicken dich ins KZ!“. Der Vorgang wurde von Schüler:innen bestätigt, die sich in der Nähe aufhielten, aber aus Angst nicht eingriffen. Ob es sich bei den Tätern um Schüler gehandelt hat, ist noch nicht aufgeklärt.
Wenn sich politischer Extremismus mit Gewalt verbindet und wenn Autokraten weltweit das Recht aushebeln und Meinungs- wie Wissenschaftsfreiheit einschränken, um der Willkür Raum zu geben und Kritik im Keim zu ersticken, dann wird es mehr als gefährlich. Genau in der Situation befinden wir uns in Deutschland, Europa und weltweit. Niemand sollte sich das schönreden. Welch verhängnisvolle Dynamik solch ein fataler Zersetzungsprozess der freiheitlichen Demokratie und eines friedlichen Zusammenlebens erreichen kann, zeigen schon die biblischen Erzählungen über das Leiden und Sterben Jesu auf. An Jesu Kreuzestod nach einer Art Volksgerichtshof-Tribunal erinnern Christen in aller Welt in der Karwoche. Zunächst scheint es unvorstellbar, dass ein Mensch, der so bewusst und überzeugend wie Jesus auf jede Gewalt verzichtet, sich dem einzelnen Menschen zuwendet, ihn in seiner Persönlichkeit achtet, anerkennt und in seinem Selbstbewusstsein stärkt, solchen Volkszorn, solche Ablehnung und Gewaltexzesse auf sich ziehen kann. Doch genau dieses Nichtbegreifen, dieses lähmende Erstarren führen auch heute zu zwei Verhaltensweisen:
- Menschen ziehen sich angstvoll ins Private zurück, ducken sich weg vor den sich abzeichnenden Auseinandersetzungen.
- Menschen wechseln schnell die Fronten: vom begeisterten „Hosianna“ zum geifernden „Kreuzige ihn“. Plötzlich spielt all das, was so faszinierend war an Jesus, an Freiheit, an Frieden, an demokratischer Teilhabe keine Rolle mehr. Es scheint entbehrlich bis störend.
Warum kann es aber überhaupt so weit kommen? Warum werfen sich Menschen so leichtfertig denen an die Brust, die sie nur für ihre Machtinteressen ausnutzen wollen und dann fallenlassen? Warum wird plötzlich der zu einem Feind, der nichts Böses getan hat? Warum begegnen wir den Menschen, die so anders leben als wir selbst, mit so viel Misstrauen und Ablehnung? Warum setzen wir im Netz die übelsten Zoten über afghanische Geflüchtete an, obwohl uns einer von ihnen gerade das Amazon-Paket in den 4. Stock gebracht hat? Warum schauen wir weg, wenn die Neonazis den Jugendclub aufmischen oder eine Schülerin ein Hakenkreuz in den Schultisch ritzt – und beim nächsten Dorffest kaufen wir am Stand von „Der III. Weg“ doch die Thüringer Bratwurst?
Diese Fragen werden aufgeworfen – spätestens, wenn in der Thomaskirche Leipzig die Bachsche Matthäus-Passion aufgeführt wird: „Was hat er (Jesus) denn Übels getan?“ fragt Pilatus die brodelnde Menschenmenge. Aber da ist es schon zu spät. Die Menschen haben sich längst für das „Kreuzige ihn“ oder für „abschieben, abschieben“ entschieden. Sie sehen nur noch sich selbst, ihre kleine heile Welt voller Frust und Unzufriedenheit. In dieser ist ein Jesus, ein Geflüchteter, ein Fremder auch dank der Propaganda der braunen und blauen Drahtzieher längst zum bedrohlichen Monster geworden. Das muss beseitigt werden. Später soll dann noch alles verschwinden, was zusätzlich stört: Menschen mit anderen Lebensentwürfen, anderen weltanschaulichen Vorstellungen, anderen politischen Überzeugungen, anderen Glaubensweisen. Zurück bleiben Menschen mit leeren Herzen, kalten Händen, bitter-rachsüchtigen Gedanken.
Im Matthäusevangelium wird berichtet, dass nach dem Tod Jesu am Kreuz ein zerstörerisches Erdbeben aufkommt. Warum eigentlich? Ich denke, das Beben soll Zweierlei bewirken:
- Wir sollen erkennen, dass am Ende von extremistischer Gewalt und gewalttätigem Autokratismus immer ein zerstörerisches Beben steht – nicht nur durch Krieg.
- Das Beben soll jeden Menschen zu der Erkenntnis führen, die der römische Hauptmann zusammen mit seinen Leuten im Angesicht Jesu am Kreuz ausruft: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“ Mit diesem Satz aus dem Mund derer, die für die Exekution Jesu verantwortlich waren, werden lähmendes Erstarren, Angst und Anpassung überwunden.
Nach der biblischen Erzählung scharen sich viele Frauen um den römischen Hauptmann und seine Soldaten. Denn nun beginnt eine neue Geschichte – die Geschichte derer, die bewusst anknüpfen an das, was das Leben menschlich und hoffnungsvoll macht. Es ist die Geschichte von der Auferstehung Jesu von den Toten, mit der alles ins Recht gesetzt wird, was zuvor mit Gewalt beseitigt werden sollte: Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Nächsten- und Feindesliebe, Ehrfurcht vor dem Leben. Das sind die Grundwerte, die bleiben und für die es sich lohnt aufzustehen. Darum ist so wichtig, dass wir uns immer wieder um die versammeln, die wie die Oberbürgermeisterin von Zwickau oder die Lehrerin in Oelsnitz täglich bedroht werden, und im Angesicht der Bedrohungen für das menschenwürdige Leben ein- und aufstehen.
Dieser Beitrag wurde am 17.4.25 erstveröffentlicht im Blog unseres Autors Christian Wolff
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