[dropcap style=“normal or inverse or boxed“]Y[/dropcap]our text with dropcaps hereHelmut Kohl war, dies wird jetzt mit seinem Tod häufig geschrieben, der Kanzler der Einheit. Wer ihm begegnet ist, konnte ihn nicht übersehen. Dieser Mann, der als CDU-Chef und Gegenspieler des Kanzlers Helmut Schmidt(SPD) lange unterschätzt wurde, war schon vom Äußeren her eine mächtige Gestalt, groß und in jeder Hinsicht schwergewichtig. Wenn Helmut Kohl den Raum betrat, passte sonst kaum noch etwas neben ihn. Mit raumgreifenden Schritten ging er oft zielgerichtet auf seine politischen Gegner und internen Kritiker zu. Er wich nicht aus, wenn er wusste, dass sein Gegenüber ihm kritisch gegenüber stand. Schwarzer Riese, nannten ihn viele Journalisten, dahinter steckte durchaus eine Menge Anerkennung. Als die Spendenaffäre ihn in die Tiefe riss und er seinen Ehrenvorsitz der CDU verlor, bemerkte der Gründer und Herausgeber des Hamburger Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, Rudolf Augstein, fast wehmütig: „Dabei stand der doch schon auf dem Sockel!“. Wegen der deutschen Einheit. Und das war der Punkt, wo Augstein Kohl inhaltlich nahestand, weil Augstein kein Gegner der Einheit war, sondern wie Kohl davon geträumt, aber sie nie für möglich gehalten hatte.
Aufstieg aus der Provinz
Helmut Kohl, das ist eine Karriere wie ein Bilderbuch. Fast. Ein Aufstieg aus der Provinz zu einem Politiker, der in der ganzen Welt geschätzt wurde, ein Mann, der sie alle kennengelernt hat, die was zu sagen hatten. Und der ganz offensichtlich sein Ziel, zu regieren, erst das Land, dann die Republik, nie aus den Augen verlor. Dabei stammt er aus kleinen Verhältnissen. Sein Vater ist Finanzbeamter, er ist das jüngste von drei Kindern geht zur Volksschule, dann zur Oberschule, macht die Kinderlandverschickung mit, muss dann ins Wehrertüchtigungslager Berchtesgaden, mit 15 Jahren, der Krieg ist aus, geht es zurück in die Heimat. Kohl macht eine Ausbildung in der Landwirtshaft, kann dann zurück auf die Oberrealschule und legt sein Abitur 1950 ab. Dazwischen tritt er in die CDU ein, ist Mitbegründer der Jungen Union Rheinland-Pfalz. Der junge Kohl studiert in Frankfurt, später in Heidelberg, Hauptfach Geschichte. 1958 wird er promoviert. Er arbeitet zunächst als Direktionsassistent bei einer Eisengießerei, dann beim Verband der Chemischen Industrie.
Seine politischen Ziele verliert er nicht aus den Augen, Kohl wird mit 29 Jahren Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Ludwigshafen und zieht als Abgeordneter in den Mainzer Landtag. Er lernt also die Partei von unten her kennen mit der Folge, dass er wirklich alle kennt und auch alle Schliche kennenlernt, um an die Macht zu kommen und um Macht zu verteilen, wenn man sie denn selber hat. Mit 30 Jahren heiratet er Hannelore Renner. Und schon im seligen Jahr wird Helmut Kohl Vorsitzender der CDU-Fraktion im Stadtrat von Ludwigshafen, dann Vize-Chef der Landtags-Fraktion von Rheinland-Pfalz, zwei Jahre weitere Jahre und er ist dort Chef, drei weitere Jahre, bis er den Landesvorsitz der CDU übernimmt. 1969 wird er Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und 1973 Bundesvorsitzender der CDU.
1976 verpasst er die absolute Mehrheit knapp
1976 verliert er als Kanzlerkandidat der Union gegen den Kanzler Helmut Schmidt(SPD). Aber mit welchem Ergebnis: 48,6 Prozent, das ist knapp unter der absoluten Mehrheit. Was Kohl intern nicht hilft, seine Kritiker bleiben. Kohl wird Oppositionschef und er ist schlau genug, seinem Kontrahenten von der CSU, Franz-Josef Strauß die Herausforderer-Rolle bei der Wahl 1980 gegen Schmidt zu überlassen. Kohl geht davon aus, dass Strauß verliert, weil viele CDU-Wähler zu Hause bleiben und er erwartet zu Recht, dass die FDP von Hans-Dietrich Genscher Strauß nicht zum Kanzler küren werde. Was geschieht. Die FDP hält sich da noch an ihre Wahlaussage: FDP wählen, damit Helmut Schmidt Kanzler bleibt. Aber schon im Herbst 1982 ist es so weit, die Differenzen in der Koalition und in der SPD wegen der Außen- und Sicherheitspolitik Schmidts und in sozial- wie finanzpolitischen Fragen sind nicht mehr zu übersehen. Es kommt zur Wende und zum Sturz von Helmut Schmidt. Kohl wird am 1. Oktober 1982 in einem konstruktiven Misstrauensvotum zum Kanzler der Bundesrepublik gewählt. Das Verfahren treibt die FDP um, es spaltet die Partei fast, einige treten aus der FDP, andere wie Ingrid Matthäus-Maier werden SPD-Mitglied.
Als ich Anfang der 90er Jahre einen Chefredakteur, ebenfalls kein Leichtgewicht, ins Kanzleramt in Bonn begleiten durfte, weil ein Interview gemacht werden sollte, begrüßte Kohl seinen Gast freundlich und mit den Worten: „Ihnen sieht man an, dass es Ihnen schmeckt.“ Und dann wies er, auch dies nicht unfreundlich, auf seinen journalistischen Berater Andreas Fritzenkötter und auf mich: „Anders als diese Hungerleider.“ Da kannte Helmut Kohl, der Genussmensch, keinen Spaß. So war er halt, lachte laut über seinen eigenen Spruch und freute sich diebisch, dass er uns einen eingeschenkt hatte. Ähnlich ging er mit Mitarbeitern in seinem Amt um. Wenn es zum Essen ging, wurde kräftig verzehrt. Wehe, man ließ ein Stück Fleisch auf dem Teller. Oder man aß nur ein Stück Kuchen statt derer drei. Dann konnte es passieren, dass Kohl denjenigen anging mit den Worten. „Ihnen gefällt es wohl nicht in unserer Runde.“
Er war die CDU, die CDU war Kohl
Helmut Kohl. In seiner Glanzzeit war er die CDU, die CDU war Kohl. Er kannte seine Partei, hatte ein Netzwerk über alle Gliederungen gespannt, er wusste genau, was in der Partei vor sich ging. Als Heiner Geißler. Lothar Späth, Rita Süssmuth und Norbert Blüm einen Plan ausgeheckt hatten, den Kanzler zu einem Verzicht auf den Parteivorsitz zu bewegen, hatte er früh Wind davon bekommen. Er sah das als Putsch, als Majestätsbeleidigung an. Und als Geißler den folgenden Parteitag in Bremen mit ihm besprechen wollte, offenbarte ihm Kohl, dass er nicht die Absicht habe, Geißler erneut zum Generalsekretär vorzuschlagen. Das Ergebnis ist bekannt, auch Lothar Späth bekam die Rache des Oggersheimers zu spüren.
Ja, der Oggersheimer, über seinen Dialekt machten sich seine Kritiker gern lustig, versuchten, ihn entsprechend nachzuäffen. Dabei machten sie einen entscheidenen Fehler: Sie unterschätzten ihn, seinen Machtinstinkt und seinen Machtanspruch. Sie hatten zudem nie zur Kenntnis nehmen wollen, dass dieser Helmut Kohl ein sehr belesener Mann war, er hatte Geschichte studiert und wusste geschichtliche Ereignisse einzuordnen. Er kannte die Daten und die dazu gehörenden Frauen und Männer, die Geschichte geschrieben hatten. Und die Pfalz, aus der er stammte, lieferte ihm immer wieder Gelegenheiten, europäische Geschichte zu erklären.
Der Historiker Kohl war ein wandelndes Geschichtsbuch. Kein Datum, das er vergessen hatte. Wenn man ihn auf die deutsche Einheit ansprach, kamen ihm fast die Tränen. Da war er der richtige Mann am richtigen Platz. Er hatte die Kontakte zu Gorbatschow, Mitterand und Bush so eng geknüpft, sie vertrauten ihm und stimmten deshalb der Einheit und dem Risiko des größeren Deutschland zu, weil sie davon ausgingen, dass diese Bundesrepublik nicht abdriften werde, dass dieses Deutschland mit diesem Kanzler nicht gefährlich werde für die Nachbarn. „Wo wären wir geblieben ohne Bush und Gorbatschow“ fragte Kohl mal in einem Gespräch mit Redakteuren der WAZ Anfang 2000. Und er beklagte, dass diese beiden Politiker in einer Feierstunde des Bundestages keine Erwähnung gefunden hatten.
Gnade der späten Geburt
Kohl und die Geschichte. Ich durfte ihn wie andere Journalisten auf seiner Reise nach Israel 1984 begleiten, kein leichter Termin für keinen Deutschen, weil wir dort angegriffen wurden als Nazis, die wir natürlich nicht waren. Kohl hatte mehrfach das Wort geprägt von der Gnade der späten Geburt, was ich verstehen konnte. Gemeint war nichts anderes, dass er als Jahrgang 1930 eben nicht in die Verlegenheit einer möglichen Verstrickung in die Nazi-Geschichte gekommen war. Dazu war er zu jung. Später sagte er mit Bezug auf die DDR und Verfahren gegen Eltern, die wegen ihrer Kinder und deren Weiterkommen Mitglieder der SED geworden waren: „Ich wüsste nicht, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich drüben hätte leben müssen.“ Wer kann das schon für sich behaupten!
Dabei hatte Helmut Kohl sehr persönliche Erinnerungen an die Nazi-Zeit. Sein Bruder Walter starb kurz vor Kriegsende. „Ich habe das Grab meines Bruders 1947 zum ersten Mal sehen können. Es liegt im Ruhrgebiet“. Dieses und andere Erlebnisse wie die Bombenangriffe und Flüchtlingstrecks haben den Pfälzer geprägt. Und daraus erwuchs für ihn die Pflicht. „Nie wieder Krieg.“ Die Bilder des zerstörten Ruhrgebiets- es lag ja fast alles in Trümmern- hatte er behalten. Und er hatte nicht vergessen, dass die Amerikaner den Wiederaufbau maßgeblich unterstützt hatten. Und dieses Ruhrgebiet, das aus den Ruinen wieder auferstand und das er Jahre danach wiedersah, war für ihn der Ansporn, daran zu arbeiten, dass „wir blühende Landschaften in den neuen Bundesländern erleben werden.“
Und schon war er wieder bei Gorbatschow, weil es ohne den KP-Chef keine Einheit gegeben hätte. Kohle erzählte in dem WAZ-Interview von einem nächtlichen Telefongespräch mit Gorbatschow, bei dem er, Kohl, den Russen davon überzeugt habe, dass keine Gefahr für sowjetische Soldaten in Deutschen bestünde und dass es friedlich bleiben werde. Dankbar erwähnte Kohl die Rolle des SPD-Ehrenvorsitzenden Willy Brandt, der gegenüber Gorbatschow die Position Kohls bestätigt habe.
Aufstieg wie eine Seilschaft
Der Aufstieg des Pfälzers, der sie alle überlebt hatte, die Albrechts, die Stoltenbergs, die Kieps, die Biedenkopfs, Kritiker würden von „weggebissen“ reden. Ein Journalist verglich die Kohlsche Karriere gern mit einer Seilschaft, mit der der Pfälzer die Spitze des Bergs erklomm. Oben angekommen habe er gemerkt, dass dort nur Platz für eine Person war-für ihn. Geschichten.
Am Ende seiner Laufbahn standen die weniger schönen Geschichten. Der Selbstmord seiner Frau, die Distanz seiner Söhne zum Vater, die Spendenaffäre, die ihn um den verdienten Ruhm brachte. „Fehler“ hat er dabei eingeräumt, aber dass er die Verfassung und den Amtseid gebrochen habe, weil er die Namen der Spender nicht nannte, so wie es das Gesetz vorschreibt, das hat er nie auf sich sitzen lassen. „Eine Sünde ja“, hat er eingestanden, „aber ich bin doch kein Krimineller.“ Diesen Vorwurf nannte er „schlicht absurd.“ Und zu einem anderen Kapitel seiner langen Amtszeit als Kanzler und CDU-Chef: Er sei weder Pate noch Patriarch gewesen. Jeder habe sich in den Gremien zu Wort melden können, es habe keine Denk- und keine Sprechverbote gegeben.
Helmut Kohl. Selbstbewusst und selbstgerecht. So sah er sich immer. Selbstzweifel plagten ihn nie.
Eigentlich schade, dass es so gekommen ist, dass mit dem Namen Kohl immer auch die Spendenaffäre verbunden sein wird. Schade um den Mann, der 16 Jahre Bundeskanzler der Bundesrepublik war und vor dessen politischer Leistung selbst Kritiker den Hut ziehen.
Bildquelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-F074398-0021 / Engelbert Reineke / CC-BY-SA 3.0 via Wikipedia