Als ich am Morgen in den Rundfunknachrichten vom Tod von Benjamin Ferencz hörte, fiel mir seine Autobiografie ein, die der körperlich kleine, aber große Mann im Alter von 100 Jahren geschrieben hatte. Titel: „Sag immer deine Wahrheit“. Der einst in Siebenbürgen geborene Mann war Chefankläger bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen gewesen, er hatte, wie er selber gestand, „einen Blick in die Hölle geworfen“. Vielleicht kann man so in etwa in Worte fassen, was eigentlich unfassbar und unbeschreiblich war und immer noch ist: ich meine den Holocaust, die Verbrechen der Nazis an den Juden, an Roma, an all den anderen, die man umlegte, erschoss, krepieren ließ. Im Nürnberger Prozess wurden Nazi-Größen der Prozess gemacht, wie Hermann Göring, der sich dann umbrachte, Rudolf Heß, der viele Jahre in Spandau einsaß, und vielen anderen wie zum Beispiel General Ohlendorf, Vater von fünf Kindern. Hitler, Goebbels, Himmler hatten sich das Leben genommen.
Es war ein Prozess, der in Nürnberg, der Stadt der Reichsparteitage stattfand, einer Stadt, die 1945 in Trümmern lag, stehengeblieben war u.a. das Schloss der Bleistift-Dynastie Faber-Castell, in dem die Weltkriegs-Sieger das Presse-Camp einrichteten, Berichterstatter aus aller Welt trafen sich hier, um über den Prozess zu berichten, um zu beschreiben, was wegen seiner einzigartigen Bestialität kaum zu beschreiben war und manchen der berühmten Journalistinnen und Journalisten hin und wieder zusammenbrechen ließ. Weil es so schlimm war, was sie hören mussten. „Das Schloss der Schriftsteller“ nennt der Germanist Uwe Neumahr sein bemerkenswertes und mich bewegendes Buch. Hier traf Weltliteratur auf Weltgeschichte, wie Neumahr das beschreibt. Erika Mann ist darunter, Erich Kästner, Martha Gellhorn, die amerikanische Starreporterin, Willy Brandt, der spätere Bundeskanzler und damals als Journalist für eine norwegische Zeitung tätig, Markus Wolf war dabei, der spätere Spionagechef der DDR, der dem Kanzler den Agenten Guillaume ins Netz setzte, was zu seinem Rücktritt führte. Hunderte waren es, die auf Feldbetten nächtigen mussten, abends traf man sich in der Bar des als ziemlich hässlich geltenden Schlosses(German Schrecklichkeit) bei Whiskey und Wodka, man tanzte und trank und diskutierte, um die Abgründe zu ergründen, in die man täglich blicken musste. Robert Jungk zählte dazu, Walter Lippmann, Wolfgang Hildesheimer, der als Dolmetscher fungierte, Rebecca West, Elsa Triolet, der Chinese Xiao Qian, John Dos Passos, Ila Ehrenburg, Walter Cronkike, Peter de Mendelssohn und Gregor von Rezzori. Es trafen sich Rückkehrer aus der inneren Emigration, Resistance-Kämpfer, Überlebende des Holocaust, Frontberichterstatter, Kommunisten. Sie alle auf der Suche nach der Antwort, wie das passieren konnte mit einer als hoch gebildet eingestuften Gesellschaft wie der Deutschen.
Als die Amerikaner am 29. April 1945 das KZ Dachau als letztes dieser Mordstätten befreiten, war die US-Journalistin Gellhorn ein paar Tage später vor Ort. Nie habe diese Frau in keinem Krieg, über den sie berichtet habe, auch nur eine Schramme abbekommen, die Erlebnisse von Dachau hätten sie ins Mark getroffen, heißt es in Uwe Neumahrs „Schloss der Schriftsteller“. Sie habe sich gefühlt, als sei sie von einer Klippe abgestürzt, sagte sie später. „Nichts am Krieg war jemals so wahnsinnig brutal wie diese verhungerten und misshandelten, nackten, namenlosen Toten.“ Die Überlebenden hätten alle gleich ausgesehen, alterslos, ohne Merkmale. „Einige der Lagerinsassen waren Versuchspersonen gewesen: Man hatte sie Sauerstoffmangel ausgesetzt, um zu messen, wie lange Piloten in großen Höhen überleben konnten, in gefrorenes Wasser getaucht, um die Auswirkungen der extremen Temperaturen zu untersuchen, hatte ihnen Malaria injiziert, um festzustellen, ob ein Impfstoff für deutsche Soldaten entwickelt werden konnte. Andere waren kastriert oder sterilisiert worden.“
Mit dabei in Nürnberg etwas später eben auch als Ankläger Benjamin Ferencz, ein Sohn orthodoxer Juden, der mit seinen Eltern in die USA ausgewandert war, und der dank eines Stipendiums an der Elite-Uni Harvard Jura studieren konnte. Ferencz wurde Soldat der US-Armee im 2.Weltkrieg und als Jurist beauftragt als Ermittler von Kriegsverbrechen in Nazi-Deutschland. Und als solcher wurde er Zeuge von Verbrechen, die man Deutschland nie zugetraut hatte. Vom 20. November 1945 mussten sich führende Nationalsozialisten vor Gericht verantworten, erstmals in der Geschichte wurden Vertreter eines Unrechtsregimes angeklagt. Die alliierten Siegermächte stellten 21 ranghohe Kriegsverbrecher vor ein internationales Gericht ohne deutsche Beteiligung. Der Prozess endete nach einem Jahr mit 12 Todesurteilen. Ferencz war Chefankläger im sogenannten „Einsatzgruppen-Fall“ 1947/48(der neunte von zwölf Nachfolgeprozessen), und brachte dort zwei Dutzend SS-Führer, darunter auch Generäle, wegen Mordes an einer Million Menschen vor Gericht. Es war der größte Mordprozess der Geschichte.
Otto Ohlendorf, SS-Brigadeführer und Befehlshaber der Einsatzgruppe D während des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion, gestand in Nürnberg seine Taten. Einsatzgruppe bedeutete nichts anderes als Vernichtungskommando. Die Männer um Ohlendorf „töteten nicht gleichbewaffnete Gegner in einer Schlacht, sie erschossen im Namen der nationalsozialistischen Rassen- und Völkermordpolitik wehrlose Menschen, Juden, Roma, Kommunisten, vermeintliche Partisanen, sogenannte Asoziale, psychisch und physisch Kranke“. In Polen ermordeten sie im Auftrag Himmlers und „mit Wissen der Wehrmacht“ über 60000 Menschen, vornehmlich Angehörige staatlicher Eliten. Später „weiteten sie ihre Mordaktionen auf das Gebiet der Sowjetunion aus. Ohlendorf war schon Zeuge im Hauptkriegsverbrecherprozess gewesen. Dort hatte er auf Fragen des amerikanischen Colonels John Amen, wie viele Personen durch seine Einsatzgruppe in der Sowjetunion liquidiert wurden, ohne Zögern geantwortet: „90000.“ Die Nachfrage, ob diese Zahl Männer, Frauen und Kinder einschlösse, hat Ohlendorf kurz beantwortet mit: „Jawohl.“ Und Ohlendorf gestand auch ein, dass man Juden und kommunistische Funktionäre in der von den Nazis besetzten Sowjetunion einfach „liquidieren“ musste. So die Anweisung. Liquidieren heißt „töten“, antwortete Ohlendorf auf Fragen.
Männer wie Ohlendorf glaubten mi ihren freimütigen Erzählungen durchkommen zu können, indem sie sich auf Befehle von oben beriefen, auf den Führer-Befehl. Und deshalb hätten sie die Menschen in Busse getrieben, die sie zu fahrbaren Gaskammern umgebaut hatten. Anschließend verscharrten sie die Leichen in Löchern. Das Grauen kannte keine Grenze. Sie hätten Babys gegen Bäume geschmettert, es habe Anweisungen gegeben, bei einer Mutter, die ein Baby hielt, durch das Kind zu schießen, um Patronen zu sparen. Ferencz hatte das alles aufgeschrieben, weil er für die Opfer sprechen wollte, für ermordete Männer, Frauen und Kinder. Er konnte den SS-Mördern ihre Mitwisserschaft, ihre Mittäterschaft, ihre Anwesenheit bei Verbrechen nachweisen. Im ausgebombten Berlin fand sein Ermittler-Team mehrere Ordner mit detaillierten Geheimberichten der SS über die getöteten Juden, Roma, Kommunisten, Kriegsgefangene. Ja, die Buchhaltung der Deutschen war genau. Es stand zu lesen, wie viele Zivilisten diese Einheiten getötet hatten. Ferencz hat diese Ordner gelesen und zählte auf einer Rechenmaschine die Zahlen zusammen. „Als ich bei einer Million angelangt war, hörte ich auf, die Zahlen zu addieren.“
Schuld und Unschuld, Kollektivschuld? Waren es die Eliten, die Großkopferten, die Industriellen, der Adel, das Militär? Wer hat Hitler an die Macht gebracht, ihm geholfen, ihn und seine Mörder bezahlt? Das Buch „Das Schloss der Schriftsteller“ beantwortet diese Frage nicht. Es haben sich viele mitschuldig gemacht, man nehme die Millionen Parteimitglieder der NSDAP, die vielen Opportunisten, die Nazi wurden, weil sie etwas werden wollten. Andere ließen es geschehen, griffen nicht ein, sahen zu oder weg, wenn der Nachbar, ein Jude oder Kommunist, verschwand. Mancher Journalist machte mit oder wurde verwickelt in die Nazi-Geschichte. Ausführlich befasste sich Erika Mann, die Tochter des großen Literaten und Nobelpreisträgers Thomas Mann, mit der Thematik und kommt u.a. auf Wilhelm Emmanuel Süsskind zu sprechen, der als Sonderberichterstatter in Nürnberg war und früher eng befreundet zunächst mit Erika und Thoms Mann. „Als sich die Manns gezwungen sahen, vor dem braunen Terror zu fliehen, blieb Süsskind in München und passte sich dem NS-Zeitgeist an.“ Schreibt Uwe Neumahr und er berichtet, wie derselbe Süsskind als Publizist Karriere gemacht und den Literaturteil der „Krakauer Zeitung“ geleitet habe, der einzigen deutschsprachigen Zeitung im Generalgouvernement Polen, Mitherausgeber der „Krakauer Monatshefte“ wurde, „eines wüsten nationalsozialistischen Propaganda-Periodikums“(der Historiker Knud von Harbou) Süsskind habe auch für die Zeitung „Das Reich“ geschrieben, für die Propagandachef Joseph Goebbels als Leitartikler tätig gewesen sei und er habe sich regelmäßig positiv in seinen Beiträgen über Hans Frank geäußert, schreibt Uwe Neumahr, den als Schlächter von Polen bekannten und berüchtigten Generalgouverneur.
„Wie Hohn musste es im Nachhinein in Erika Manns Ohren klingen, dass Süsskind ihren Vater 1933 aufforderte, nach Deutschland zurückzukehren, denn in Deutschland -stehe alles zum lustigsten, interessantesten und aufregendsten-„. Mit Kriegsende habe sich bei Süsskind „jene wunderbare Wandlung“ vollzogen, die für Erika Mann so typisch deutsch gewesen wäre. Süsskind wurde später Feuilleton-Redakteur der SZ in München. Ja, es hat niemand mitgemacht, niemand war dabei, keiner hat was gesehen, und im Grunde waren alle gegen die Nazis. Erika Mann hat diesen Süsskind dem Buch zufolge gehasst, er schien ihr „als Sinnbild einer verlogenen inneren Emigration“ während der Nazizeit.
Ferencz, der letzte Ankläger von Nürnberg ist tot, gestorben mit 103 Jahren. „Die Welt hat einen Anführer im Kampf um Gerechtigkeit für Opfer von Genozid und damit verbundenen Verbrechen verloren“, so würdigte das US-Holocaust-Museum den Kämpfer für menschliche Gerechtigkeit. Er hat in Nürnberg Geschichte geschrieben, als die Stadt noch einem Müllhaufen glich. Ferencz gilt als der Geburtshelfer des Internationalen Staatsgerichtshofs. Als er 90 Jahre alt war, hatte er 2009 in Den Haag symbolisch das erste Plädoyer der Anklage des Gerichts gehalten. Niemals aufgeben, lautete sein Credo. Auch nicht den Kampf gegen den Krieg und gegen all die Dachaus dieser Welt. Sein Fazit: „Ich habe erlebt, dass aus anständigen Menschen Massenmörder werden können. Krieg kann das machen. Krieg zerstört jede Form von Moral und wurde trotzdem jahrhundertelang glorifiziert. Ich habe mein Leben damit verbracht, diese Ansicht umzudrehen und dafür zu sorgen, dass das, was immer glorifiziert wurde, als das schreckliche Verbrechen gesehen wird, das es ist.“