Als ich gestern Abend die Nachricht von einem guten Freund erhielt, dass Wolfgang Roth(80) gestorben sei, kamen sehr schnell all die Geschichten hoch, die man mit ihm verband. Ein Linker, Juso-Chef zu einer Zeit, als die jungen Sozialdemokraten die Partei in Unruhe versetzten, weil sie Forderungen hatten, die das wirtschafts- und finanzpolitische System in Frage stellten. Sie verschafften sich Gehör, sie wollten mitreden. Und später wurde Roth der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD, ein Kopf der Partei in Fragen der Wirtschaft und Finanzen. In der letzten längeren Etappe der Karriere wurde der studierte Volkswirt Wolfgang Roth ein Banker in Luxemburg.
Leute wie Juso-Chef Klaus-Uwe Benneter wurden aus der Partei geworfen, weil dieser ein Anhänger der Stamokap-Theorie war. Schaut man genauer hin, hatte das mit Kommunismus und Umsturzgedanken wenig zu tun, auch nichts mit gemeinsamen Aktionen mit der DKP, was verboten war in der SPD, aber es beschrieb so manche Fehl-Entwicklung in diesem Lande. Und zu Benneter muss noch gesagt werden, dass einer der eigentlichen Stamokap-Antreiber Detlev Albers war, der in den 90er Jahren Bremer SPD-Chef wurde. Albers, 2008 verstorben, wurde Mitte der 60er Jahre bundesweit bekannt, weil er das berühmt gewordene Transparent trug mit der Aufschrift: „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren.“ Der Bildungsnotstand war das große Thema, das zu Massen-Demos führte, u.a. in Berlin. Das andere Riesen-Thema wurde der Krieg der Amerikaner in Vietnam, das vor allem junge Leute auf die Straße trieb. Später wurde Albers selber Politik-Professor. Und Benneter, ein Freund von Gerhard Schröder, wurde wieder in die SPD aufgenommen und Schatzmeister. Nein, Wolfgang Roth war damals schon dabei wie auch Johano Strasser und Heidi Wieczorek-Zeul, aber er gehörte nicht zu denen, die die Bühne stürmten, die Fahnen verbrannten. Die Kunst des Machbaren würde man eher mit seinem Namen verbinden, wie das eine Zeitung vor Jahr und Tag mal mit Hinweis auf Wolfgang Roth gut beschrieben hat. Roth war ein kritischer Demokrat, ein Sozialdemokrat, wie er im Buche steht. Oder wenn man so will im Sinne von Willy Brandts: Mehr Demokratie wagen.
Wer ihn erlebt hat den Wolfgang Roth, der mochte und schätzte ihn. Er war ein gebildeter, belesener Sozialdemokrat, der einen langen Weg zurückgelegt hat in seinen 80 Jahren. Als Vorsitzender der Jusos war er Nachfolger von Karsten Voigt und Amtsvorgänger von Heidemarie Wieczorek-Zeul, genannt die rote Heidi. Viele Jahre später saß sie im Kabinett von Gerhard Schröder als Entwicklungshilfeministerin. Und Schröder selber war ja später auch mal Vorsitzender der aufmüpfigen SPD-Jugend, die auch mal gefordert hatte, alle Gehälter sollten mit 5000 DM gedeckelt werden, alles was darüber lag, sollte der Staat zu 100 Prozent einkassieren.
Roth war Juso-Chef in den Jahren 1972 bis 1974. Es war die Zeit, in der was los war in der SPD. Willy Brandt war Bundeskanzler, Friedensnobelpreisträger, er hatte gerade das Misstrauensvotum, das die Union mit dem Gegenkandidaten Rainer Barzel angestrengt und knapp verloren hatte, gewonnen- unter welchen Umständen auch immer. Es war eine spannende politische Zeit der heißen Debatten, die vor allem die SPD betraf. Willy Brandt hatte einige Jahre zuvor die protestierenden Studenten und andere aus dem linken Lager in die SPD geholt, seine Ost- und Entspannungspolitik löste in manchen gesellschaftlichen Gruppen Proteste aus. Auch die SPD blieb davon nicht unberührt. Vertriebene und deren Sympathisanten, Gegner der Kommunisten und Revanchisten zogen gegen Brandts Politik der Aussöhnung und des Ausgleichs zu Felde und protestierten.
Genossen, lasst die Tassen im Schrank
Zu Wolfgang Roth passt der Name von Karl Schiller. Der populäre Professor war Wirtschaftsminister in der ersten Großen Koalition, er saß neben einem gewissen Franz-Josef Strauß, der Finanzminister war. Plüch und Plum nannte man sie, die beiden mächtigen Minister im Kabinett von Kurt-Georg Kiesinger mit dem Außenminister Willy Brandt. Nach dem Wahl-Sieg der SPD 1969 blieb Schiller Minister für Wirtschaft in der ersten sozialliberalen Koalition, nach dem Rücktritt von Alex Möller übernahm er auch dessen Ressort der Finanzen. Schiller war ein Strahlemann, auch auf dem Parkett. Er mahnte die Parteifreunde auf einem Parteitag der SPD: „Genossen, lasst die Tassen im Schrank!“ Es half nicht, die Genossen beschlossen einen Spitzensteuersatz von 60 vh in der Einkommenssteuer und von 58 vh in der Körperschaftssteuer. Schiller plädierte für mehr Ausgabendisziplin, die Genossen konterten mit ihrer Forderung „die Belastbarkeit der Wirtschaft“ zu testen. So hatte es Jochen Steffen(der rote Steffen) formuliert. Jahre nach dem Godesberger Programm, in dem die Sozialdemokraten versichert hatten: „Wir stehen zur sozialen Marktwirtschaft.“ Aber ungeachtet der erwähnten linken Forderungen war für Willy Brandt und Helmut Schmidt und gewiss auch für den späteren Wolfgang Roth die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern eine Errungenschaft, auf die man im politischen Betrieb nicht verzichten wollte.
Wolfgang Roth schloss sich 1962, ein Jahr nach dem Bau der Mauer in Berlin, der SPD an und engagierte sich im sozialdemokratischen Hochschulbund. Es war die Zeit, da Willy Brandt Regierender Bürgermeister von Berlin war und Kanzlerkandidat der SPD, der aber die Wahl gegen Konrad Adenauer verlor. Dieser gewann mit seiner üblen Kampagne gegen Brandt alias Herbert Frahm, um darauf anzuspielen, dass Willy Brandt ein uneheliges Kind war. Adenauers Kampagne ging noch weiter, er unterstellte der SPD und Brandt eine Nähe zu Moskau und den Kommunisten, die sich Adenauer zufolge einen Kanzler Brandt wünschten. Damals eine für die SPD tödliche Kampagne, waren doch die Kommunisten die schlimmsten Feinde, das mit der Nazi-Vergangenheit der Deutschen wurde verdrängt. In dieser Zeit wurde Wolfgang Roth politisiert wie viele andere Studenten, die gegen die Union und ihre rückwärts gewandte Politik auf die Straße gingen. Die braune Vergangenheit der Deutschen, die Verbrechen der Nazis, Auschwitz, das alles wurde in diesen Jahren zu einer harten Auseinandersetzung in der Gesellschaft. Damals entstand die APO.
Die SPD wuchs zu einer Partei von fast einer Million Mitgliedern. Aber eine geschlossene Partei war sie nicht, Linke und Rechte standen sich oft ziemlich unversöhnlich gegenüber. Man denke an die Kanalarbeiter von Egon Franke. Die Jungsozialsten belebten mit ihren teils revolutionären Forderungen nach Investitionslenkung, Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und der Banken die Debatte, im Grunde plädierten sie für die Abschaffung des Kapitalismus, am liebsten hätten viele die Reichen enteignet, sie huldigten der Stamokap-Theorie, die besagte, dass der Staat als Reparateur der Wirtschaft fungierte, was so falsch nicht war. Denn wie oft greift der Staat ein, wenn ein marodes Unternehmen am Boden liegt? Dann wird geholfen, gezahlt, damit die Firma nicht kaputt geht, die Arbeitsplätze erhalten werden. Motto: Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste sozialisiert. Ein wenig übertrieben, aber nicht ganz falsch.
Wolfgang Roth war gewiss ein linker Sozialdemokrat, aber ein moderater, mit dem man reden konnte. Mit dem ein Helmut Schmidt redete, als er Kanzler war und Roth längst nicht mehr bei den Jusos aktiv, sondern als Mitglied der SPD-Fraktion Abgeordneter des deutschen Bundestages. Ja, Roth war dabei, als die Jusos die SPD durcheinanderwirbelten, aber er war nicht der Revolutionsführer, der den Krach und Zoff organisierte. Mit ihm musste sich die SPD-Parteiführung auseinandersetzen, aber mit ihm war eine Einigung einigermaßen friedlich zu erreichen. Der gelernte Volkswirt wusste, wovon er redete, und seine Gegenüber auf dem Podium wussten es auch. Der Gedanke, Arbeit und Umwelt miteinander zu verbinden, die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie gehörten früh zu den Gedanken und Ideen des Wolfgang Roth. Sicher auch der alte Wunsch der SPD nach mehr sozialer Gerechtigkeit, danach, dass die breiten Schultern mehr zu tragen hätten. Aus dem Juso-Chef Roth wurde der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD und danach der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Was das Ansehen Roths in der Partei deutlich macht. Später wurde Roth Aufsichtsrats- und Verwaltungsratsmitglied verschiedener Banken und Unternehmen. Von 1993 bis 2006 war der einstige Linke Vizepräsident der Europäischen Investitionsbank (EIB) in Luxemburg.
Eines seiner Bücher trägt den Titel „Humane Wirtschaftspolitik, die sozialdemokratische Alternative“. Das sagt eigentlich alles zur Persönlichkeit des Wolfgang Roth, der nach Einschätzung des heutigen SPD-Chefs Norbert Walter-Borjans zur Kanzlerzeit von Willy Brandt „ein wichtiges Bindeglied zur jungen Generation war. Er stand für eine Wirtschafts- und Finanzpolitik in Deutschland und Europa, die heute aktueller nicht sein könnte.“
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Wolfgang Roth hat das politische Bewusstsein vieler Gleichaltriger und Jüngerer enorm geprägt – und dabei geschärft. So sehr jedenfalls, dass seine Schriften und Überzeugungen bis heute nachwirken.
Vielfach ist in Vergessenheit geraten, wie fruchtbar und leidenschaftlich während der siebziger bis hinein in die achtziger Jahre über die Ausrichtung der Unternehmen, Staat und Wirtschaft, die Rolle der Geldpolitik gestritten wurde. Da hatte Wolfgang Roth seine Rolle.
Wenn man seine Überlegungen „eindampft“, kommt folgendes heraus: Es gibt in Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik keinen Weg zurück in frühere Zeiten. Diese Überzeugung münzte er nicht nur auf damals bereits gängige neo-liberale Forderungen, sondern damals auch auf naive „grüne“ Vorstellungen.
Es gebe keine Lösung für unsere Defizite bei welchen eine Seite völlig dominiere –weder der Staat hier noch Unternehmen dort. Weder seligmachender Dirigismus noch Tonnenideologie von Produktionselefanten seien tauglich.
Es gebe keinen unbegrenzten Zugriff auf die Ressourcen, die die Natur bietet. Die Gesellschaften müssten lernen, sparsam mit dem kostbaren Erbe aus der Natur umzugehen. Ökonomische und ökologische Ziele rangierten gleichrangig nebeneinander. So damals auch Volker Hauff.
Die Steuerungskompetenz des Staates müsse sich-
-im Anschub von Zukunftsinvestitionen in den Verkehr und in die Bildung,
– in der Sicherung und Entwicklung von kleineren und mittleren Unternehmen,
– in der internationalen Abstimmung von nationalen Strategien und
– in der Nutzbarmachung der Geldpolitik erweisen.
Wolfgang Roth war demnach einer der wirklich wegweisenden Balance-Politiker. Und dahinter stand die Überzeugung, dass eine sozialdemokratische Politik den Menschen Bestimmung über ihr Leben zurückgeben könne.
Eine seiner Begabungen lag darin, in der Vielzahl kleiner-teiligen Forderungen und Veränderungen weder die zugrunde liegende Struktur noch eine weiter reichende Idee zu übersehen. Was übrigens heute gang und gebe ist.
Der Wolfgang war ein kluger Kopf. Als Gerhard Schröder Kanzler wurde, war er bereits jenseits der deutschen Grenzpfähle tätig, für die Europäische Investitionsbank. Er hätte auch gut an die Spitze des Bundeswirtschaftsministeriums gepasst.