Und trotzdem: „Alles nicht tödlich“. Georg Bleistein, der 27- jährige Küchenhelfer in einem Schnellrestaurant überlebt, als das „Angstschwein“, unbeholfen und abstoßend; sein Fett als Schutz-Panzer funktioniert nicht, macht ihn dünnhäutiger, wird zur Barriere: Kein Mensch will etwas von ihm wissen.
Für die Leser*innen von Ludwig Fels‘ wunderbarem Roman aus dem Jahr 1981 wird dieser Georg Bleistein im Lauf der Lektüre zum Kristallisationspunkt auch des heutigen Wohlstands-Elends in der vergrößerten Bundesrepublik Deutschland. Realistische Details aus der Umwelt dieses Riesenbabys erweisen sich als erdrückende Indizien für den Befund eines gesellschaftlichen Verfalls. Z.B.: Das spärlich enge Wohnen im mühsam ersparten Reihenhaus in zersiedelt-kleinstädtischer Umgebung, in der sich – unheil und trost-los – das Leben abspielen soll.
Der anstrengenden Plackerei in der Küche des Fressbetriebs kann Georg kaum Widerstand entgegensetzen. Wie er die alltägliche Öde am Arbeitsplatz über sich ergehen lässt, muss er auch seine Rolle als Sündenbock ertragen, bietet er als „Specksau“ Ventil für den aufgestauten Frust der Anderen, denen es ähnlich beschissen geht, deren routinierte Skrupellosigkeit ihnen aber zumindest ein vermeintlich angenehmeres Überleben sichert.
“Wenn du dich wegen deiner Seele krankschreiben lassen könntest, dachte er oft, würdest du lebenslänglich Invaliden-Rente beziehen.“ So träumt sich der unansehnliche „Fettkloß“ vom tristen Alltag weg, entschädigt sich durch „…bewegungsunfähig fressen“, einem aggressiven Schlingen. Dass seinen Hunger nach Liebe nicht stillt, ihn immer betäubt.
Einen weiteren Ersatz bietet der Alkohol: „Georg stürmte in die Küche, um sich ein Bier hineinzujagen, in einem trügerischen Nebel fortzuschwimmen.“ Schließlich trinkt auch seine Großmutter, die ihn mit seiner Tante lebenslänglich von der Außenwelt abzuschirmen bemüht war. täglich „gegen das inwendige Frieren“ an.
Angesichts des grellen Konsumüberangebots im Supermarkt- von Fels atmosphärisch ungeheuerlich genau wiedergegeben – wirkt im Kontrast dazu die graue Ausweglosigkeit des übersättigten Brockens Georg umso fataler, wird doch das notorische Glücksversprechen all der käuflichen Gegenstände eindeutig ad absurdum geführt.
In Georgs Tag- und Nachtträumen spuken ihm vor allem Frauen in mal kitschig verzerrten, mal aggressiv aufgeladenen Situationen durch seine isolierte, unerfahrene Seele. Seine Sehnsucht ist schon immer verfälscht, speist ihre Sprache aus zweiter Hand. Nach dem Muster romanhafter Anmache im „Bravo“-Stil sucht Georg krampfhaft Kontakt zur Kassiererin Erika: „Die zeitgemäßen Gesten misslangen ihm gründlich, der gelangweilten Lässigkeit, die er so oft im Fernseher besichtigt hatte, der bedeutungsschwangeren Bewegungen wurde er einfach nicht Herr.“
Wie Fels die äußerst peinliche Begegnung des Mädchens mit den bösartig lauernden alten Frauen im eng muffigen Wohnzimmer zuspitzt. ist in ambivalenter Wiedererkennungslust zu genießen: es erinnert an das Schlimmste. was man selbst in ähnlichen Situationen für sich befürchtet haben dürfte.
Georgs Ausbruchsversuche missglücken. Er empört sich in destruktiver Wut. Und: „…Er hatte Heimweh nach einer Zukunft.“ „Doch die Verhältnisse. sie sind nicht so.“, wusste Bertolt Brecht schon 1928. Georgs Wünsche, seine Taten bleiben aussichtslos. Die Perspektive des Georg Bleistein konfrontiert Ludwig Fels mit seinem realistisch nüchternen Blick auf die Welt, und so wird deutlich: Diese beiden Sichten sind nie deckungsgleich. Die Welt. wie sie ist – zubetoniert in sämtlichen Bereichen kann so das Bedürfnis nach Liebe und Zugehörig-Sein gar nicht einlösen. Erst recht ein Mensch mit so denkbar miesen biographischen Voraussetzungen muss durch die Zumutungen dieses „Modell Deutschland“ an Leib und Seele verwahrlosen.
„…Jeder schob ihn ab. Niemandem war er geheuer. Keiner wollte ihn haben. Er musste sich aufdrängen. anklammern.“
Dennoch – Georg Bleistein findet nirgends Halt. Auch die verzweifelte Hoffnung auf seine Mutter kann sich nur als illusionäres Hirngespinst herausstellen. Er trifft auf sie als kaputte Gelegenheitsprostituierte. Die -resigniert und alkoholabhängig – sich durch die Hilflosigkeit ihres Sohnes nur belästigt fühlt, und ihn, das Trampel, das ihren falschen Frieden nur stört, schließlich der Straße aussetzt.
Dieser Roman befasst sich stellvertretend mit den Entbehrungen eines Unikums, das hier vor allem Außenseiter-Züge trägt. Gleichzeitig stellt Fels ein Hilfsarbeiter-Dasein so schonungslos brutal dar, wie es keiner wissen will. und wie es doch so vielen ergeht – tagein. tagaus. Georg. der Versager auf ganzer Linie, erscheint als Figur so monströs zerdehnt. dass die privilegierten gebildeten Leser*innen sich zunächst aus sicherer Distanz auf das Gefühl der Schwäche, der traurigen dumpfen Ohnmacht einlassen können. Manchmal allerdings vergisst man Georgs äußere Unförmigkeit, gerät sie in den Hintergrund, weil auch jene innere Verlorenheit einem sporadisch als anthropologische Konstante nicht unbekannt vorkommt.
Mit diesem Roman erwies sich Ludwig Fels als beredter Sprecher der Ausgestoßenen, der alltäglichen Verlierer, weil er sich glaubwürdig hineinversetzen konnte in die – allerdings unfreiwillige – Abweichung von menschenverachtenden Leistungsnormen. So bringt er – wie damals in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts Alfred Döblin mit „Berlin Alexanderplatz“ – das Elend „der Erniedrigten und Beleidigten“ zur Sprache, dessen leidvoller Wahrnehmung – weil es sich so ekelhaft und verstörend äußert – sich ansonsten die meisten „Besserverdiener“ auch heutzutage lieber diffamierend zu entziehen suchen.
Ludwig Fels: Ein Unding der Liebe. Verlag: Ars Vivendi, Gebundenes Buch, 255 Seiten, 17,99 €