1. Der Start der Ampel-Koalition unter den Gewitterwolken des aufziehenden Ukraine-Krieges
Hier geht es um das Vorfeld des Krieges in der Ukraine, um die Zeit von Dezember 2021 bis Mitte Februar 2022 sowie um die erste kurze Phase des Krieges, bis April 2022. Subjekt ist die deutsche Bundesregierung. Deren Vertreter waren im Herbst 2021 mit Verhandlungen zur Bildung der Ampel-Koalition beschäftigt.
Zu denjenigen Entscheidungen dieser neuartigen Koalition, die einen Durchbruch zu jahrzehntelangen Konfliktlagen darstellten, gehörte, dass endlich die Position beschlossen wurde: Deutschland liefert generell keine Waffen in Kriegs- und Krisengebiete. Das ist eine Maxime, die auch von beiden Volkskirchen lange schon in großer Einhelligkeit gefordert worden war. Ab Dezember 2021 vertrat die Bundesregierung das als neue Maxime – also als einen friedensethischen Grundsatz, nicht lediglich als Leitlinie, der man in Abhängigkeit von den Umständen des einzelnen Falles folgen könne oder auch nicht. Der Beschluss zu der Maxime in ihrer Grundsätzlichkeit wurde vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine gefasst, aber die Auguren pfiffen dessen Möglichkeit bis Wahrscheinlichkeit bereits von den Dächern.
Die neue Bundesregierung gelangte am 7. Dezember 2021 neu ins Amt. Die sicherheitspolitischen Schlüsselressorts wurden mit Personen besetzt, die sämtlich fachlich Newcomer waren, sich erst einarbeiten mussten – der glücklose von der SPD gestellte Ressortchef des Auswärtigen Amtes in der Zeit der Vorgänger-Regierung war so vollständig entsorgt worden, dass er an den Koalitionsverhandlungen nicht mehr teilnahm.
Der 7. Dezember 2021 war zufällig auch der Tag, an dem sich die Präsidenten Russlands und der USA zu einem (digitalen) persönlichen Gipfeltreffen verabredet hatten. Es war das entscheidende Gespräch zwischen ihnen.
2. Die Quelle: Das Scholz-Buch von Daniel Brössler
Die Frage hier ist: Wie war der Kanzler, der zentrale Verantwortungsträger für Deutschland, informiert, aus welchem Wahrnehmungshorizont heraus hat er gehandelt, als er ins Amt kam und sich vor die Frage „Krieg oder Frieden?“ gestellt sah?
Die Antwort auf diese Frage wird hier gegeben auf Basis eines jüngst erschienenen Buches aus der Feder des sicherheitspolitischen Journalisten und Scholz-Begleiters in der Redaktion der Süddeutschen Zeitung Daniel Brössler. Der Titel: „Ein deutscher Kanzler. Olaf Scholz, der Krieg und die Angst“. Dabei gilt natürlich: Der „Wahrnehmungshorizont“, der hier interessiert, kann nicht der einer Person, hier des Kanzlers, alleine sein – insbesondere in einer Konstellation, wo der neue Amtsträger ein Newcomer im sicherheitspolitischen Milieu ist. In einem solchen Amt wird der Wahrnehmungshorizont im Wesentlichen von Personen seines Umfeldes „konstruiert“. Dazu gehören BND und Auswärtiges Amt.
Brössler teilt als Basis seines anschaulich geschriebenen Buches mit, dass er Hintergrundgespräche geführt habe, sowohl mit dem Kanzler selbst als auch mit zentralen Personen seines Umfeldes. Aus methodischen Gründen gehe ich davon aus, dass Brössler, auch wenn er erkennbar eine eigene Agenda verfolgt, die durchaus Scholz-kritisch ist, den Wahrnehmungshorizont, der in der hier portraitierten Phase November 2021 bis April 2022 im Bundeskanzleramt geherrscht hat, korrekt wiedergibt. Ich sehe kein Motiv, weshalb a) Scholz und sein Umfeld sich für rückblickende Hintergrundgespräche öffnen sollten und dann keinen reinen Wein einschenken wollten; und ich sehe b) auch auf Seiten des Journalisten kein Motiv und keinen Anlass, weshalb er diese ihm gewährten Auskünfte nicht korrekt wiedergeben sollte.
Wenn das von Brössler Geschilderte tatsächlich der Wahrnehmungshorizont im Kanzleramt und im Auswärtigen Amt war, dann kann man nicht einmal sagen, die deutsche Führung sei in diesen Krieg wie ein Schlafwandler hineingeraten. Dann muss man sagen: Die Kreise, die für das Aufspannen eines angemessenen Wahrnehmungshorizontes für die neu ins Amt gelangenden Regierungsmitglieder verantwortlich waren, haben umfassend versagt. An der Spitze der Auslandsgeheimdienst, aber bei weitem nicht der alleine.
3. Vorgeschichte: Wechselnde Konfliktpartnerschaften bis April 2022
Zurück zum Gespräch am 7. Dezember 2021 zwischen den Präsidenten Russlands und der USA. Geführt wurde dieses Gespräch vor einem Hintergrund einer Konfliktgeschichte. Der ukrainische Schauspieler Selenskyj hatte im Frühjahr 2019 zwei Wahlen gewonnen, die zum Präsidenten und anschließend mit seiner Partei die Mehrheit im Parlament. Erfolgreich war er mit dem Programm, Frieden mit Russland schaffen zu wollen. Drei Wochen nach Amtsantritt, am 3. Juni 2019, hat Selenskyj seinem Wahlprogramm gemäß verkündet, die Minsker Abkommen umsetzen zu wollen. In den Monaten danach machte er ernst, er übernahm schrittweise sämtliche Forderungen Russlands als ukrainische Position, bis hin zur Akzeptanz der sogenannten Steinmeier-Formel. Selenskyj hat somit den Brandt/Bahrschen Ansatz einer friedlichen Koexistenz unter Sistierung von rechtlichen Status-Fragen nach seiner Wahl, nach Amtsantritt im Mai 2019, versucht – und das dann im Oktober 2020 abgebrochen.
Für den Abbruch gab es zwei Gründe: (i) Moskau nahm die ausgestreckte Hand Selenskyjs nicht; (ii) das Ergebnis von Regionalwahlen in der Ukraine im Herbst 2020 bedeutete Selenskyj, dass die Bevölkerung seinen Kurs gemäß Wahlprogramm nicht länger mittrug. Um seine Macht zu stabilisieren, riss der Präsident das Steuer um 180 Grad herum. Im militärisch materialisierten Ergebnis hat er am 24. März 2021 ein Dekret über die „De-Okkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebietes der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“ erlassen. Damit waren die Streitkräfte der Ukraine umzugruppieren und hatten entsprechende Stellungen im Süden vorzubereiten. Sie sollten sich für einen „Angriff“ im militärischen Sinne präparieren, der lediglich im völkerrechtlichen Sinne kein „Angriff“ gewesen wäre. Selenskyjs Politikwechsel wurde im Sommer 2021arrondiert mit einer Reihe von militärischen Sonderbündnissen mit Großbritannien, Polen, Litauen und den USA.
Gegen diese militärische Konstellation hatte Russland im Frühjahr 2021 Truppen von etwa 120.000 Mann grenznah zu „Manövern“ beordert. Die Soldaten selbst wurden dann, nach Gesprächen mit den USA, wieder nach Hause geschickt, das Gerät jedoch blieb vor Ort. Ab Oktober 2021 wurden diese Positionen nah zur Ukraine wieder aufgefüllt und in Gefechtsbereitschaft gebracht; die Truppen konnten da nicht ewig gehalten werden. Fachlich spricht man bei einem solchen Verhandlungsansatz von „coercive diplomacy“. Die Bush-Administration der USA hatte dasselbe im Vorfeld des 2. Irak-Krieges so gemacht.
In dem Gipfel-Gespräch am 7. Dezember 2021 kam es erneut nicht zu einer Verständigung zwischen den USA und Russland über den angemessenen Umgang mit strittigen Grundfragen der speziell konstruierten Architektur gemeinsamer Sicherheit in Europa, die nicht lediglich die der UN-Charta ist. Präsident Putin hatte den Grundriss seiner (Revisions-)Vorstellungen sicherlich zum Thema gemacht oder machen wollen, die er gut eine Woche später, am 17. Dezember 2021, öffentlich machte – die US-Entscheidung aber war, dazu nicht gesprächsbereit zu sein. Stattdessen versuchte Präsident Biden, Russlands Präsidenten mit Abschreckung von seinem offenkundigen Ansinnen abzuhalten. Die Abschreckungsformel, die er wählte, war geschichtlich neuartig. Sie lautete: Wir werden ggfls. massiv reagieren, aber nicht mit Waffen, nicht militärisch, wohl aber werden wir einen Wirtschaftskrieg in präzedenzlosem Ausmaß gegen Euch führen.
Mit diesem abermaligen Scheitern des Konfliktgesprächs – beim persönlichen Gipfeltreffen in Genf sechs Monate zuvor war es, was Europa betraf, nicht viel besser ausgegangen – war eine schiefe Ebene betreten. Am 24. Februar 2022 dann führte diese Konstellation angesichts der Gesprächsverweigerung seitens der USA, wie weiland der Saddam Husseins, fast zwangsläufig zum Vollzug der Drohung, zum Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine.
4. Antwort zu Dezember 2021 bis Scholz‘ Besuch bei Putin Mitte Februar 2022
Scholz wird über den Putinschen Truppenaufmarsch bzw. die Wiederauffüllung deren Positionen erstmals von US-Präsident Biden informiert, das war am Rande des G20-Gipfels Ende Oktober 2021 in Rom – dahin hatte die noch amtierende Kanzlerin in einer klugen Geste ihren voraussichtlichen Nachfolger bereits mitgenommen. Da habe Biden Geheimdienstmaterial von Truppenbewegungen persönlich geteilt. Mit seinem Time-Interview wird deutlich, welch hohe Bedeutung Biden dieser Mitteilung beimaß. Was das für die Sicherheitspolitik in Europa bedeuten mochte, was dieserhalb das Konzept für das anstehende Gespräch zwischen Biden und Putin am 7. Dezember sei und wie Europa da im Vorfeld seine Interessen einbringen könne, das jedoch habe keiner der beiden Deutschen angesprochen. Man hat, so der Eindruck, die Amerikaner in der zentralen Frage für die Sicherheit Europas, zumindest auf Staatschef-Ebene, allein werkeln lassen. So auch, wenn auch mehr aus Vogelperspektive, die Diagnose von Klaus von Dohnanyi.
Mitte November wird der designierte Chef des Bundeskanzleramtes, Wolfgang Schmidt, formell von einem hochrangigen Vertreter des US-Geheimdienstes über Einzelheiten zu Art und Stärke des russischen Truppenaufmarschs i.K. gesetzt. „Ab Ende Januar könne Putin den Befehl zum Angriff geben“ hieß es. Der spricht daraufhin mit dem Chef des BND. Scholz lässt sich von seinem gerade ausgewählten außenpolitischen Berater, Jens Plöttner aus dem Auswärtigen Amt, briefen – in beiden Unterredungen hat gemäß Brösslers Darstellung der Konflikt um die Sicherheitsordnung in Europa, das Konfliktthema zwischen Putin und Biden, aber keine Rolle gespielt. Brösslers Darstellung besagt: Sicherheitspolitik, bzw. irgendetwas an Politik, was der Entwicklung die schiefe Ebene hinab auf den erwartbaren Krieg zu noch in die Speichen zu greifen vermocht hätte, waren nicht Thema. Deutschlands neue Regierung hat andere Sorgen.
Bei Scholz‘ erstem EU-Gipfel als Regierungschef, am 16. Dezember 2021 in Rom, passiert Zweierlei bzw. passiert nicht.
Erstens: Am Tag nach dem Gipfel werden die Verhandlungsvorschläge veröffentlicht, die Präsident Putin an die USA einerseits und an die NATO-Mitglieder andererseits sendet – dass die kommen würden, war seit dem Treffen am 7. Dezember klar. Nach der Darstellung Brösslers wurde über die Frage, wie der europäische Teil des Westens damit umgehen wolle, ob man mit Russland Gespräche zu seinem Vorschlag führen wolle oder nicht, nicht einmal auf Ebene der Regierungschefs Europas beraten. Dabei war es laut Rössler so:
„<Biden> hat Verhandlungen zugestimmt trotz des erpresserischen Aufmarschs russischer Truppen, und versucht so, dem Mann im Kreml jeden erdenklichen Vorwand zum Angriff aus der Hand zu schlagen.“
Zweitens habe Scholz in Rom mit Macron zusammen ein Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj geführt.
„Die beiden sagen dem ukrainischen Präsidenten Unterstützung zu, aber sie nehmen ihn auch in die Zange. Nicht nur Russland, auch die Ukraine müsse mehr tun, um das Minsker Abkommen von 2015 umzusetzen. Selenskyj müsse mutige Entscheidungen treffen, damit Putin keinen Vorwand habe für eine Eskalation.“
Angesichts der Vorgeschichte, Selenskyjs weitreichenden Zugeständnissen bei seinem entschiedenen Versuch zwischen Sommer 2019 und Herbst 2020, mit Russland zu einer Verständigung zu kommen, fragt sich, was der Präsident Frankreichs und der deutsche Bundeskanzler mit solcherart Worten konkret gemeint haben könnten. Es steht zudem die Frage im Raum: Hat Frau Merkel ihrem Nachfolger über Selenskyjs selbstverleugnenden Versuch nichts berichtet? Vermutlich hat sie, zu Recht, gemeint, das sei Sache des Apparates. Hat etwa Jens Plöttner den Kanzler über diesen beherzten Versuch Selenskyjs nicht unterrichtet? Der ukrainische Präsident wird sich seinen Teil gedacht haben über die Kompetenz der deutschen Außenpolitik, den Kenntnis-Verlust bei einem Wechsel der Amtsinhaber in Grenzen zu halten.
Im Januar 2022 sei in Berlin über die Verwendung der massiven Konzentration russischer Truppen denn doch, wenn auch anscheinend recht freihändig, gegrübelt worden. Nach Brösslers Darstellung sei es mit dem BND so gewesen.
„Auch der Bundesnachrichtendienst beobachtet die Truppenkonzentration, aber in ihrer Bewertung sind die deutschen Geheimdienstleute deutlich verhaltener als die Kollegen in den USA und Großbritannien. Sie halten es für wahrscheinlich, dass sich das Oster-Szenario des Vorjahres wiederholt und die Soldaten nach einer gewissen Zeit wieder in ihre Stützpunkte zurückverlegt werden. Nach dieser Annahme würden sie vor allem einer Machtdemonstration dienen, um Zugeständnisse zu erpressen. Das ist in den ersten Januarwochen die gängige Annahme in Berlin.“
Die implizit formulierte Aufgabe in der Diagnose, dass die Truppen eingesetzt werden, wenn der Versuch Zugeständnisse zu erpressen“ erfolglos bleibt, liegt auf der Hand; anders gesagt: Sollte der Wunsch des Westens nach Auffassung des BND gewesen sein, dass die Truppen unverrichteter Dinge wieder abziehen, dann hätte er Putin Zugeständnisse machen müssen. Die vom BND in Berlin lancierte gängige Annahme zeigt einen Mangel an Konsistenz.
Die Phase vor dem Einmarsch der russischen Truppen kulminierte bekanntlich in Scholz‘ Besuch bei Putin in Moskau. Die Frage an Brösslers Buch ist, was er dort erreichen wollte. Scholz wollte diese Reise erst nach seinem Antrittsbesuch bei Präsident Biden in Washington unternehmen – der wurde dann auf den 7. Februar gelegt; deswegen die Wahl eines so späten Termins in Moskau, am 15. Februar, zu einem Zeitpunkt, da der russische Präsident den Befehl für den Angriff vermutlich bereits gegeben hatte.
Zur Vorbereitung des Moskauer Treffens lädt Kanzlerberater Jens Plöttner am 10. Februar zu einem Treffen der Normandie-Runde. Putins Abgesandter ist Dmitrij Kosak, für die Ukraine ist es Andrij Yermak. Der russische Unterhändler verlangt direkte Verhandlungen zwischen der ukrainischen Regierung und den „Regierungen“ der Separatisten im Donbass, was die ukrainische Seite auch diesmal ablehnt. Der Zug im Normandie-Format ist eben anderthalb Jahre zuvor abgefahren, da haben Deutschland und Frankreich die Ukraine im Regen stehen lassen. Auf den letzten Drücker lässt sich nichts mehr aufwärmen. Ein triviales Ergebnis.
Was das Normandie-Format angeht, muss Scholz somit mit leeren Händen nach Moskau reisen. Das war seinerzeit, nach 2014, den Europäern, in Gestalt von Bundeskanzlerin Merkel, von US-Präsident Obama als eigenständiges Regelungsfeld zugestanden worden. Basis war eine Zusage, dass die USA die Ukraine nicht aufrüsten. Dem ist mit Trump die Basis genommen worden, seitdem war das Normandie-Format ein totes Pferd. Scholz versucht, seine faktisch leeren Hände zu verbergen. Nach Brössler sah sein Verhandlungskonzept so aus:
„sei es doch so, »dass der Beitritt weiterer Länder im Osten Europas zur Nato gar nicht auf der Tagesordnung steht. … Deshalb ist es schon etwas eigenwillig zu beobachten, dass die russische Regierung etwas, das praktisch nicht auf der Tagesordnung steht, zum Gegenstand großer politischer Problematiken macht « … Was Putin zu einer Angelegenheit von Krieg und Frieden erklärt hat, hält Scholz für ein künstlich geschaffenes Problem.“
Da offenbart Brössler die Kosten des Ansatzes, „Putin nicht verstehen“ zu wollen, die sicherheitspolitische Sicht Russlands als künstliche Schaffung eines Problems zu perzipieren.
„Scholz schließt nicht aus, dass Putin möglicherweise wirklich an die eigene Propaganda und die unmittelbare Gefahr eines NATO-Beitritts der Ukraine glaubt. Dieses Missverständnis, findet er, ließe sich aufklären. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass das alles nur ein Vorwand ist. Den will Scholz dann wenigstens entlarven.“
Mit diesem Nichts an Verhandlungs-Idee, an quid pro quo, macht sich Scholz auf die Reise nach Moskau. Das Argument „Du bist Opfer Deiner eigenen Propaganda!“ ist in einer Partnerschaft immer ein schwieriges. Der das so Diagnostizierende könnte schließlich auch selbst Opfer sein. Der sicherheitspolitische Newcomer will dem russischen Präsidenten, dem der seinerzeitige US-Außenminister Tillerson einmal attestiert hat, er verstehe dreidimensional Schach zu spielen, einen Irrtum ausreden. Bei der abschließenden Pressekonferenz verkündet er öffentlich als „Argument“, ein Beitritt der Ukraine zur NATO stehe nicht auf der Tagesordnung. Das stand er übrigens vor Beginn des NATO-Gipfels 2008 in Bukarest auch nicht – was den seinerzeitigen US-Präsidenten nicht hinderte, ihn vor Ort auf die Agenda zu setzen.
Es bleibt nur, sich erneut fremdzuschämen, angesichts dessen, worum es militärisch kurzfristig gegangen ist. Die Destruktion der Sicherheitsordnung, die in und speziell für Europa nach 1989 konzipiert und weitgehend geschaffen wurde, auf die Frage eines Beitritts der militärisch bereits weitgehend in die NATO integrierten Ukraine zur NATO im rechtlichen und politischen Sinne zu reduzieren, ist unprofessionell. Der Kanzler hat sich, schlecht beraten, blamiert. Mit einem solch geringen Maß an sicherheitspolitischer Substanz war in Moskau kein Blumentopf zu gewinnen.
5. Résümée
Wie eingangs methodisch erwähnt: Diese Erschrecken auslösende Skizze des Wahrnehmungshorizontes des Bundeskanzlers und seines Umfeldes steht unter einem Vorbehalt: Dass der Autor, Daniel Brössler, den Schlüsselakteuren die richtigen Fragen gestellt hat und die Antworten, die ihm gegeben wurden, auch in ihren Andeutungen richtig verstanden hat. Das kann ich nicht überprüfen. Ich muss aber gestehen: Ich zweifle etwas. So schlimm kann es nach meiner Erfahrung im professionellen Berlin nicht zugehen. Dass ein kundiger Politikbeobachter seitens der Medien das so glaubt und darstellt, kann aber für sich bereits als Schrillen einer Alarmglocke genommen werden.
Die neue Regierung war nach Amtsantritt eigentlich schon chancenlos, die wesentlichen Entscheidungen waren da im amerikanisch-russischen Verhältnis schon auf die sich abwärts neigende Schiene gesetzt worden. Es wäre an der Bundeskanzlerin der Vorgängerregierung gewesen, da im europäischen Verbund Deutschlands Interessen einzubringen. Bundeskanzlerin Merkel ist es auch, die zu der seltsam chancenreichen Phase unter dem Normandieformat nach Amtsantritt von Selenskyj Aufklärung bieten kann, weshalb aus diesen Angeboten nichts folgte, was den Sack zugemacht hätte. Man hat auf das Erscheinen ihrer Erinnerungen im Herbst 2024 zu warten.