In Berlin wird gerade intensiv gearbeitet. Die Arbeitsgruppen der Koalitionäre saßen auch am Wochenende über Forderungen und Formulierungen für den Koalitionsvertrag. Wie man hört, verläuft nicht alles reibungslos. Manche Ansinnen der ersten Sitzungen sind schon wieder Geschichte, und die Mitarbeiter im Maschinenraum der Parteien schreiben neu oder um – das kostet Zeit und Nerven, Frustrationstoleranz und manches graues Haar. Zudem kommt die klare Direktive, dass alles intern bleibt. Niemand will sich die Blöße geben, als die/derjenige zu sein, der geplaudert hat auch das stresst die an Hintergrundgesprächen reiche politische Szene.
Was da gemeinsam erarbeitet wird, soll richtig gut werden. Das ist den meisten im Arbeitsprozess klar. Der nächste Koalitionsvertrag muss eine klare Perspektive geben, wie die mannigfaltigen Probleme des Landes angegangen und gelöst werden. Die demokratischen Parteien können sich keine weiteren Ehrenrunden mit Regierenden unter Dauerbeschuss von Medien und Opposition mehr erlauben. Es muss jetzt deutlich werden, dass – egal wer regiert – das demokratische Zentrum der Republik in der Lage ist, die Probleme zu erkennen, Lösungen zu entwickeln und auch endlich zu handeln. Warum dies so notwendig ist, wird in den neuesten Umfragen klar. Die Werte für die AfD steigen, das Zutrauen, vor allem in die Union, schwindet. In den jüngsten Zahlen des Politbarometers wird das deutlich. Die Rechtsextremen liegen bei 22 %, die Union ist auf 27 % abgerutscht. Die Volten von Friedrich Merz verursachen einen Vertrauensverlust ungeahnten Ausmaßes. 73 % gesamt, sogar 44 % der Unionswähler meinen, dass die Union Wählertäuschung betrieben hat. Vor allem das Thema Schuldenbremse ist den Wählerinnen und Wählern besonders aufgestoßen. Das wirkt sich auch auf die Zustimmungswerte für Friedrich Merz aus: Lediglich 37 % fänden es gut, wenn Merz Kanzler würde; selbst Olaf Scholz hatte 2021 mehr Zustimmung.
Schon deshalb muss der Koalitionsvertrag ein Erfolg werden. Er muss deutlich machen, dass es um mehr geht, als ein Merz’sches Merkeltrauma zu bewältigen. Die Infrastruktur, vor allem im Verkehr, braucht jeden Euro, die Bildungseinrichtungen jede Aufmerksamkeit, die Transformation der Energieversorgung muss vollendet werden, Rente und soziale Sicherung müssen stabil bleiben. Disruption ist nicht angesagt. Wer Musk und Milei will, soll der FDP in die Bedeutungslosigkeit folgen. Gebraucht wird Verlässlichkeit. Wir müssen sicherstellen, dass die BürgerInnen wieder spüren, dass sich die Politik ihrer Probleme annimmt. Und das sind Preissteigerungen, Wohnungsmangel, Angst um Arbeitslosigkeit und eine Dysfunktionalität des Staates, die mehr Verdruss produziert, als manchem im Bundestag klar ist. Kindertagesstätten im Notfallmodus, Unterrichtsausfall, ein Bauantrag, der viele Monate für eine Bewilligung braucht, sind nur wenige ganz normale Erfahrungen vieler Menschen.
Auch die angespannte weltpolitischen Lage, das Aggressionspotenzial Russlands und der irrlichternde Trump dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die normale Wählerin bzw. der normale Wähler zunächst Politik am Einfluss für das konkrete Umfeld bzw. die Lebenssituation misst. Eigentlich die Paraderolle vor allem der Sozialdemokraten, die – wie auch die Union – dringend dafür sorgen müssen, mehr Bürgernähe an den Tag zu legen. Für die ganze Regierung gilt, dass die Politik nicht bei Bewilligungen von Investitionssummen stehen bleiben darf. Wenn jetzt Experten meinen, dass die Menschen in diesem Land etwa drei Jahre warten müssten, um zu spüren, dass die Investitionsgelder ankommen, dann ist das einfach deutlich zu lang. Vor allem die Bewilligungs- und Planungsprozesse müssen beschleunigt werden. Es reicht, wenn der Fachkräftemangel auszuhalten wäre.
Die Gesamtsituation wird auch der kommenden demokratischen Opposition vieles abverlangen – sozusagen unbillige Härten – denn auch ihr politisches Schicksal hängt mit am Wohl und Wehe der Regierung ab. So einfach wie die Union, die im Wahlkampf der Regierung die Schuld an 20 % Zustimmung für die AfD zugeschrieben hat, können und sollten es sich Grüne und Linke nicht machen. Auch in deren Reihen wird hoffentlich angekommen sein, dass das gesamte politische System der parlamentarischen Demokratie auf dem Prüfstand steht, wenn Entscheidungen kritisiert werden. Die alten Verhaltensmuster zwischen Regierung und Opposition – so wie Merz sie als Oppositionsführer noch betrieben hat- sind endgültig vorbei. Jede und jeder DemokratIn in den Parlamenten muss klar sein, dass die Rechtsextremen alles nutzen werden, um ihre populistische Propaganda zu betreiben und die Frustrierten einzusammeln. 2026 wird eine Reihe von Landtagswahlen auch widerspiegeln, wie es der neuen Bundesregierung gelingt, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. DemokratInnen -so bitter das auch sein mag – sollten ihr Erfolg wünschen.