I.
Das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament am 9. Juni war in Frankreich ein Misstrauensvotum gegen Staatspräsident Emmanuel Macron. Die von ihm bestimmte und unterstützte Liste bekam 13,83 Prozent der Stimmen, mehr als 8 Prozent weniger als 2019 und nur wenige Zehntel-Prozente mehr als die Liste der französischen Sozialisten mit Raphael Glucksmann als Spitzenkandidaten, die ihren Stimmenanteil mehr als verdoppelt hat.
Bis zuletzt hatte der Präsident von seiner entourage verbreiten lassen, das Ergebnis seiner Liste werde die Umfragen Lügen strafen und bei 20 Prozent liegen. Noch bevor am Wahlabend die endgültigen Ergebnisse vorlagen, kündigte der Präsident die Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen für den 30. Juni und den 7. Juli an.
Diese Entscheidung folgt einer ganz besonderen Logik: Die Wählerinnen und Wähler haben am 9. Juni falsch gewählt und meine Erwartungen enttäuscht. Ich gebe ihnen die Gelegenheit, ihren Fehler zu korrigieren. Dieses Kalkül wird nicht aufgehen.
Alle hatten dem Präsidenten abgeraten: Die ihm politisch verpflichtete Präsidentin der Nationalversammlung, der konservative Präsident des Senats und der von ihm ernannte Premierminister, die er vor seiner Entscheidung von Rechts wegen konsultieren musste. Als der Präsident seine Entscheidung verkündete, konnte man im Fernsehen sehen, dass manchen seiner Minister die Gesichtszüge entgleisten. Sein früherer Premierminister Edouard Philippe sprach davon, der Präsident habe die „Präsidenten-Mehrheit“ getötet.
Zu den Besonderheiten des französischen Politik-Betriebs gehört, dass auch dann von einer „majorité présidentielle“ gesprochen wird, wenn es sie gar nicht gibt. Seit 2022 hat der Präsident die Mehrheit in der Nationalversammlung verloren und seither fast alle politisch wichtigen Entscheidungen ohne Parlamentsbeschluss durchgesetzt. Diese Möglichkeit gibt Artikel 49.3 der französischen Verfassung. Ein Gesetzentwurf der Regierung gilt ohne Abstimmung im Parlament als beschlossen, wenn nicht binnen 24 Stunden ein Misstrauensantrag gegen die Regierung die Mehrheit findet.
II.
Emmanuel Macron war zu den Präsidentschaftswahlen 2017 mit dem Ziel angetreten, das französische Parteiensystem zu zerstören. Mit einer Politik, die angeblich gleichermaßen rechts wie links sein sollte, wollte er etwas Neues, noch nie Dagewesenes schaffen.
Bei den Präsidentschaftswahlen hat er sich mit dieser Strategie zweimal durchgesetzt: 2017 und 2022. Um zu verhindern, dass die rechtsextreme Marine Le Pen französische Präsidentin wird, hatten im zweiten Wahlgang viele Wählerinnen und Wähler für Macron gestimmt, die mit seinen politischen Vorstellungen und Plänen nicht einverstanden waren. Seine Wahl ist also mehr der Ablehnung seiner Konkurrentin geschuldet als der Zustimmung zu seiner Person und seinem Programm. Trotzdem hat Macron seit der Wahl 2022 und der verlorenen Mehrheit in der Nationalversammlung seine Politik immer stärker an konservativen Positionen orientiert. Das gilt für die Wirtschafts- und Sozialpolitik, für die Steuer- und Finanzpolitik, für die Umwelt- und Agrarpolitik und nicht zuletzt für die Fragen um Zuwanderung und Integration.
Der Präsident und seine politischen Freunde folgen auch im aktuellen Wahlkampf der Strategie: „Ich oder das Chaos“. Sie versuchen sich als einzige Alternative zum rechtsextremen „Rassemblement National“ zu inszenieren, der mit seinem Vorsitzenden Jordan Bardella bei der Europawahl mit 31,37 Prozent der Stimmen zur mit weitem Abstand stärksten Partei geworden ist.
Die überfallartige Auflösung der Nationalversammlung am Wahlabend mit einem ersten Wahlgang nur drei Wochen später, sollte dafür sorgen, dass die politische Linke ohne jede Aussicht auf Erfolg ist. Dieses Kalkül ist nicht aufgegangen. Vier Tage nach Ankündigung der Neuwahlen hatten sich die Parteien des linken politischen Spektrums, die vor allem im letzten Jahr auch erhebliche Konflikte und Differenzen hatten, auf ein gemeinsames Wahlprogramm und auf die Verteilung der Wahlkreise mit gemeinsam unterstützten Kandidatinnen und Kandidaten verständigt.
Wegen der Ergebnisse der Europawahl hat sich die politische Gewichtsverteilung innerhalb des linken politischen Lagers deutlich verschoben. In den 577 Wahlkreisen, in denen die Abgeordneten nach Mehrheitswahlrecht gewählt werden, kandidieren 229 Kandidatinnen statt bisher 300 der „France Insoumise“, 175 statt bisher 70 der Sozialistischen Partei und ihres Partners „Place Publique“, der kleinen Partei von Raphael Glucksmann. In 92 statt bisher 100 Wahlkreisen stellen sich Kandidatinnen der Grünen zur Wahl und wie bisher in 50 Wahlkreisen Kandidaten der Kommunistischen Partei.
Zur Einordnung dieser gemeinsam unterstützten Kandidaturen ist es wichtig zu wissen, dass es seit den letzten Kommunalwahlen in den grössten französischen Städten, beispielsweise in Lyon, Marseille oder Bordeaux, und schon lange in Paris, linke Mehrheiten von Sozialisten, Grünen und Kommunisten gibt, an deren Spitze grüne oder sozialistische Bürgermeister stehen.
Jetzt versuchen der Präsident und seine Gefolgsleute die unter dem Namen „Nouveau Front Populaire“ antretenden linken Parteien als Gefahr für Frankreich auf eine Ebene zu stellen mit dem rechtsextremen „Rassemblement National“. Der Präsident sprach vor einigen Tagen sogar davon, für den Fall, dass nicht seine Partei die Wahl gewönne, müsse Frankreich mit Bürgerkrieg rechnen.
Schon im Europawahlkampf hatten Macron und sein Premierminister, der erst seit Anfang des Jahres im Amt ist, alles versucht, sich selber als einzige mögliche politische Alternative zum „Rassemblement National“ darzustellen und diese rechtsextreme Partei zugleich gezielt aufzuwerten.
Der Premierminister diskutierte im öffentlich-rechtlichen Fernsehsender „France 2“ am 23. Mai drei Stunden mit dem Vorsitzenden und Spitzenkandidaten für die Europawahl Jordan Bardella. Eine Diskussion mit Vertretern anderer Parteien lehnte er ab.
Staatspräsident Macron ging am 25. Mai einen Schritt weiter. Angesichts der Bedeutung der Europawahl für Frankreich forderte er Frau Le Pen zu einer Fernsehdiskussion mit ihm auf, die zweimal gegen ihn verloren hat und weiter Präsidentin werden will.
Frau Le Pen lehnte das Angebot des Präsidenten ab, es sei denn, Macron erkläre öffentlich, dass er für den Fall eines schlechten Wahlergebnisses seiner Liste als Präsident zurücktreten oder die Nationalversammlung auflösen werde. Am Wahlabend hat er dann eine dieser Bedingungen erfüllt und gleichzeitig seinen Rücktritt als Präsident unabhängig vom Ausgang der Parlamentswahlen kategorisch ausgeschlossen.
III.
Wenige Tage vor dem ersten Wahlgang wird deutlich, dass die Entscheidung, die Nationalversammlung aufzulösen, die schwerstwiegende strategische Fehlentscheidung ist, die der Präsident bisher getroffen hat. Er, der für sich in besonderer Weise strategischen Weitblick und intellektuelle Überlegenheit in Anspruch nimmt.
Er hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, dass prominente Sozialisten, die in der innenpolitischen französischen Wahrnehmung als „gemässigt“ gelten und zudem Regierungserfahrung haben, sich klar für die Unterstützung des linken „Nouveau Front Populaire“ ausgesprochen haben.
Dazu gehören Lionel Jospin, der von 1997 bis 2002 Premierminister einer linken Regierung war, und zu dessen Ministern auch der heute nicht ohne Grund umstrittene Jean-Luc Mélenchon gehörte, der Gründer der sich radikal links verstehenden „France Insoumise“.
Der frühere Staatspräsident Francois Hollande, ein scharfer Gegner von Mélenchon und auch dem Vorsitzenden seiner Sozialistischen Partei Olivier Faure in tiefer Abneigung verbunden, kandidiert in seinem langjährigen Wahlkreis in der Corrèze, im Südwesten Frankreichs, für den „Nouveau Front Populaire“.
Besonders schmerzlich und unerwartet ist es für Macron und seine politischen Freunde, dass Raphael Glucksmann, für die Sozialisten Spitzenkandidat zur Europawahl und jeglicher linksradikaler Ideen unverdächtig, sich klar für die Wahl der Kandidatinnen und Kandidaten des linken Wahlbündnisses ausgesprochen hat. Er sieht darin mit vielen anderen die einzige Möglichkeit, eine Mehrheit des rechtsextremen „Rassemblement National“ zu verhindern.
Gemeinsam mit vielen anderen auf lokaler und regionaler Ebene machen diese drei Prominenten die inhaltlich abwegige Gleichsetzung von linkem Wahlbündnis mit der rechtsextremen Partei von Frau Le Pen in den Augen vieler zusätzlich unglaubwürdig. Die Strategie „Ich oder das Chaos“, mit der Macron zweimal die Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, wird bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 30. Juni und 7. Juli nicht aufgehen.
IV.
Nach allen Umfragen ist aber damit zu rechnen, dass der Präsident mit seiner Entscheidung, die Nationalversammlung aufzulösen, die rechtsextreme Partei von Frau Le Pen zur mit Abstand stärksten Partei machen wird, sowohl was den Stimmenanteil angeht als auch die Zahl der Sitze im Parlament. Bei allen Unsicherheiten angesichts einer noch nie dagewesenen Situation halte ich es aber für so gut wie ausgeschlossen, dass das „Rassemblement National“ die absolute Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung gewinnen wird.
Heute, am 27. Juni, sind die Ergebnisse einer vom Umfrageinstitut Ipsos im Auftrag unterschiedlicher Medien, Stiftungen und Forschungseinrichtungen durchgeführten Untersuchung veröffentlicht worden, die wegen der großen Zahl der Befragten (11.820 statt der in Frankreich wie in Deutschland üblichen 1000 bis 2000) traditionell besonders aussagekräftige und verlässliche Daten liefert.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Einstellungen und die Stimmung der Wählerinnen und Wähler von Verunsicherung, Unsicherheit und fehlendem Vertrauen in die politisch Verantwortlichen geprägt ist.
Die wahlentscheidenden Themen sind mit 54 Prozent „Kaufkraft“, anders gesagt, Geldprobleme, Immigration (40 %) und die Sicherheit von Gütern und Personen (26 %).
Auf den nächsten Plätzen folgen mit je 24 % der Platz Frankreichs in Europa und der Welt und das Gesundheitssystem, mit 23 % knapp dahinter der Schutz der Umwelt.
Nach dieser Umfrage werden das „Rassemblement National“ zusammen mit von ihm unterstützten Kandidatinnen und Kandidaten 36 Prozent der Stimmen erreichen. 29 Prozent entfallen auf Kandidaturen des linken „Nouveau Front Populaire“. Die verschiedenen Parteien, die Präsident Macron mit gemeinsamen Kandidatinnen und Kandidaten unterstützen, kommen zusammen auf 19,5 Prozent.
Die Wahlbeteiligung wird sehr viel höher sein als bei den Europawahlen. Deutliche Unterschiede gibt es aber mit Blick darauf, wie sicher sich die Wählerinnen und Wähler ihrer Wahlentscheidung sind. 77 Prozent sagen,dass ihre Wahlentscheidung definitiv feststeht, 23 % können sich vorstellen, eine andere Partei zu wählen. Am sichersten sind sich die Wählerinnen und Wähler des rechtsextremen „Rassemblement National“ mit 88 % und des linken „Nouveau Front Populaire“ mit 84 %.
Bemerkenswert ist, wie stark sich das erwartete und das gewünschte Wahlergebnis unterscheiden.
60 Prozent der Wählerinnen und Wähler rechnen damit, dass das „Rassemblement National“ die meisten Sitze in der Nationalversammlung gewinnen wird, 24 Prozent sehen den „Nouveau Front Populaire“ als stärkste Partei im Parlament und 16 Prozent das Parteienbündnis des Präsidenten.
Deutlich anders sieht das gewünschte Ergebnis aus: 40 Prozent, eine erschreckend hohe Zahl, wollen, dass das „Rassemblement National“ stärkste Partei wird, 31 Prozent wünschen sich das für den „Nouveau Front Populaire“ und 29 Prozent für das Parteienbündnis von Staatspräsident Macron.
V.
Welche Folgen das Wahlergebnis für Frankreich und Europa, vor allem aber für den Alltag der Französinnen und Franzosen haben wird, lässt sich heute nicht abschließend sagen.
Wahrscheinlich ist, dass die Vertrauenskrise zu einer Krise des politischen Systems werden wird. Nach allen Umfragen wird es in der Nationalversammlung keine Mehrheit geben für einen vom Staatspräsidenten ernannten Premierminister oder eine Premierministerin und eine neue Regierung.
Die Situation der „Unregierbarkeit“ wird den Ruf nach Rücktritt des Präsidenten verstärken, den der Präsident noch vor wenigen Tagen unter allen denkbaren Umständen ausgeschlossen hat. Die Forderung nach vorgezogenen Präsidentschaftswahlen wird nicht nur von einer politischen Seite kommen und auch nicht nur von den politischen Gegnern Macrons. Auch im eigenen politischen Lager hat der Präsident sich durch seine einsamen Entscheidungen, seine Ego-Inszenierungen und seine meist nicht einmal schlecht verhüllte Überheblichkeit allen gegenüber, die anders denken und urteilen als er, nicht nur Gegner, sondern Feinde geschaffen.
Es wird dann wie immer in Frankreich sein: Viele wollen Präsident oder Präsidentin werden. Fest steht heute nur, dass Frau Le Pen kandidieren wird. Macron kann nach der französischen Verfassung nicht noch einmal kandidieren, weil er zweimal zum Präsidenten gewählt worden ist. Ob er versuchen wird, diese Regelung mit Hinweis auf die abgebrochene zweite Amtszeit zu umgehen und was der Verfassungsrat dazu sagen würde, bleibt abzuwarten.
Auf der linken Seite des politischen Spektrums gibt es keinen Mann und keine Frau, die sich aufdrängt, sieht man von Jean-Luc Mélenchon ab. Er wird mit großer Sicherheit versuchen, sich aufzudrängen, aber nicht die Unterstützung aller jetzt vereinten Parteien finden und noch weniger eine Mehrheit der Franzosen und Französinnen hinter sich bringen. Möglich ist, dass der frühere Präsident Francois Hollande, der sich wegen katastrophaler Umfragewerte nach seiner ersten Amtszeit nicht zur Wiederwahl stellen konnte, die Chance zur politischen Rehabilitierung gekommen sieht. Obwohl er in den zurückliegenden Jahren überraschend an Popularität gewonnen hat, wäre seine Kandidatur und noch mehr ein Erfolg aber mehr als eine Sensation.
Aus Macrons Lager ist mit der Kandidatur des ehemaligen Premierminister Edouard Philippe zu rechnen, auch mit der von Innenminister Gérald Darmanin und von Wirtschafts- und Finanzminister Bruno le Maire. Weitere werden sich berufen fühlen, weil es nach einem bonmot in Frankreich viele Männer gibt, die morgens beim Rasieren glauben, im Spiegel den künftigen Präsidenten Frankreichs zu sehen.
Die Gefahr einer Präsidentin Le Pen schon bald oder 2027 ist real. Der gegenwärtige Präsident hat einen erheblichen Anteil daran, dass der „Rassemblement National“ heute so stark ist. Vor ihm haben aber auch andere, rechts wie links, auf unterschiedliche Weise dazu beigetragen, dass rechtsextreme Strategien, Nationalismus und Diskriminierung gepaart mit Umverteilung zugunsten der mit den höchsten Einkommen und den grössten Vermögen in Frankreich mehrheitsfähig zu werden drohen.