Keine Waffen in Krisengebiete, hieß eine der Regeln, die sich die Bundesrepublik schon in frühen Zeiten gab. Die Journalistinnen und Journalisten machten daraus den Witz: Warum keine Waffen in Krisengebiete? Gerade dort werden sie doch gebraucht. Und sie wurden auch ungeachtet obiger Regel in alle krisengeschüttelte Regionen dieser unsicheren Welt auf dunklen Kanälen geschmuggelt. Für viel Geld. Gute Waffen sind teuer, man kann damit viel Geld verdienen. Frieden schaffen ohne Waffen, forderten einst Kriegsdienstgegner und andere Friedensfreunde, ohne dass das je dem illustren Rüstungsgeschäft geschadet hätte. Wollen Sie mit Kerzen gegen Panzer antreten? wurden solche Zeitgenossen verhöhnt. Und jetzt fordern ausgerechnet die Grünen, die bei ihrer Parteigründung 1980 in Karlsruhe eine starke pazifistische Linie hatten, mehr Waffen, schwere Waffen an die Ukraine zu liefern, damit diese ihren heldenhaften Kampf gegen die russische Übermacht bestreiten können.
Ich zitiere hier bewusst nicht Annalena Baerbock und Robert Habeck, die beiden wichtigen und guten Grünen Minister im Kabinett Scholz. Anton Hofreiter, der Linke mit den langen Haaren, ein führender Grüner, wenn auch kein Minister, hat Bundeskanzler Olaf Scholz wegen seiner zaghaften Rolle in der Frage der Waffenlieferung an die Ukraine ziemlich kritisiert. Ausgerechnet Hofreiter, von dem hätte man doch alles andere erwartet. Die Grünen als Kriegspartei? Das hatten wir schon bei Schröder/Fischer und im Jugoslawien-Krieg, als dieses zusammengewürfelte Gebiet neu verteilt wurde, wenn ich das so nennen darf. Und jetzt der Ukraine-Krieg, Putins Krieg In einem Kommentar eines liberalen Mediums lese ich: „Machtwort nötig.“ Des Kanzlers versteht sich, es brauche ein Machtwort, seines. Scholz müsse zeigen, „dass er führt.“ Mir wird ganz komisch zumute.
Verrückte Welt
Die Welt ist doch verrückt geworden, oder? Mir jedenfalls ist ein zaghafter Kanzler in dieser heiklen Frage lieber als ein schneidiger Politiker, der jetzt auf den Tisch haut, um ein Machtwort zu sprechen. Mancher Leser kennt den dazu gehörenden Spruch von Willly Brandt längst: „Das imponiert nicht mal dem Tisch.“ Und jeder, der es nicht wahrhaben will, möge es zu Hause probieren. Der Tisch ist stärker.
Merkwürdige Zeiten sind das. Da spricht der Kanzler nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine von Zeitenwende, die Medien jubeln, weil Scholz endlich auf die Tube drückt, von 100-Milliarden-Euro Sonderfonds redet, davon, zwei Prozent des Etats für das Wehrressort auszugeben oder auch deutlich mehr. Hurra, konnte man den Gesichtern auf der Tribüne des Berliner Reichstags entnehmen. Aber Leute, es ist doch Krieg, kein Grund zur Freude. Ein Lob auf den Kanzler. Jawohl!! Bis jetzt zahlen wir rund 1,45 Prozent des Etats für die Verteidigung, diese Steigerung würde in Euros den Verteidigungsetat auf 60 Milliarden Euro jährlich anschwellen lassen. Wofür, fragt im Moment noch niemand, Hauptsache es wird geklotzt, klare Kante gegen Putin.
Vorbei die Zeit der Vernachlässigung der Bundeswehr, jetzt wird sie aufgehübscht, sagt man neudeutsch. Ich würde gerne mal eine Aufstellung all des militärischen Geräts sehen, das angeblich irgendwie kaputt sein soll, auf jeden Fall nicht einsatzbereit. Und dann wüsste ich gern, ob man das alles reparieren lassen kann, wie teuer das wird. Interessant wäre auch die Frage: Brauchen wir das alles oder brauchen wir etwa anderes, modernes Gerät, um uns, das Land, die Menschen zu verteidigen? Für unsere Soldaten, deren Gesundheit und Sicherheit kann es doch nur das heißen: Das Beste ist gerade gut genug. Damit das nicht falsch verstanden wird: Wir brauchen eine bestens ausgebildete und bestens ausgerüstete Bundeswehr. Sie auf den Hund kommen, ja sie verwahrlosen zu lassen, war ein Fehler. Eine rundum funktionierende Bundeswehr wird gebraucht, heute mehr denn je. So friedlich ist die Welt nicht.
Es flogen die Fetzen
Ältere Semester erinnern sich an leidenschaftliche Debatten im Bundestag. Gerade, wenn es um Verteidigung ging, um Sicherheit, flogen die Fetzen. Und heute? Mal eben 100 Milliarden über Schulden- pardon über Kredite, der FDP-Kassenwart, sonst eher pingelig im Ausgeben von Geld, hat längst zugestimmt. Das muss uns die Sicherheit doch wert sein! Es gibt kaum Einwände gegen soviel Geld, es sei denn von den üblichen Verdächtigen, das sind die Kriegsgegner. Aber wo bleiben die Bedenkenträger der Nation? Weil der Russe wieder mal vor der Tür steht, in Person von Putin? Lange wurde so getan, als hätten wir nur schrottreifes militärisches Gerät als Panzer und Flugzeuge, aber plötzlich soll das alles Richtung Kiew geschickt werden, damit sich die Ukrainer besser wehren können. Und jetzt hören wir, in ein paar Tagen könnte man das alles reparieren. Wie sieht es aus mit der Bedienung der Panzer durch Ukrainer? Können die „Marder“ und „Leoparden“ bedienen, steuern, im Krieg an die Front führen, schießen? Schwere Waffen sollen plötzlich geliefert werden, die erwähnten Panzer gehören dazu. Scholz wird für sein „lautes Schweigen“ kritisiert, dabei will er doch nur nicht voreilig sein, nicht als Kriegstreiber auftreten. Noch einmal: Mir ist der nachdenkliche Scholz lieber, als wenn er für ein Foto auf dem Panzer säße.
Ich kann an der abwartenden Haltung des Hamburgers Scholz nichts Verwerfliches finden. Es ist beschlossen und soll so bleiben, dass die Nato nicht in den Krieg hineingezogen wird, dass kein Nato-Soldat, keiner aus der Bundeswehr in Kiew oder anderswo kämpft. Scholz wägt ab, er will nicht, dass der Krieg eskaliert, dass wir quasi hineingezogen werden und wir plötzlich einen dritten Weltkrieg hätten. Wir unterstützen die Ukraine im Rahmen unserer Möglichkeiten, politisch, wirtschaftlich, finanziell, mit Waffen. Wir dürfen uns dabei nicht vom ukrainischen Botschafter Melnyk provozieren lassen. Seine Wut verstehe ich, nicht seine teils rüden Attacken auf Sozialdemokraten. Er überzieht, wissend, dass er überzieht, aber weil Krieg ist, fällt manche Reaktion milder aus. Ich kann SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich gut verstehen, er ist wie jeder andere deutsche Demokrat gegen diesen Krieg, verurteilt den Diktator im Kreml, aber Mützenich steht hinter seinem Kanzler und der Ampel-Regierung. Mützenich ist eigentlich gegen schwere Waffen an die Ukraine, weil er eine Eskalation des Krieges befürchtet. (und weil wir auch noch andere Sorgen haben, die Geld kosten)Und einer wie Mützenich ist eher zornig auf einen wie Melnyk, dass der hoch geschätzte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von Selenskyj ausgeladen wurde. Sie werden seine Hilfe noch brauchen, Steinmeier wird sie Ihrem Land gewähren. Aber lassen Sie ihre Stänkereien gegen unser Staatsoberhaupt, Herr Botschafter!
Enttäuschung
Enttäuschung über Deutschland, lese ich. Mir ist das lieber, als wenn daraus Ärger auf Deutschland würde, weil es vorwegmarschiert. Wir haben eine Verantwortung in Europa, der versucht Scholz gerecht zu werden. Indem er redet mit Macron, mit Johnson, all den anderen politischen Führern der alten Welt, mit Biden, er telefoniert trotz allem mit dem Kriegsverbrecher Putin. Reden kann ja nicht schaden. Aber im Moment lässt Putin, wie wir das aus der Vergangenheit von ihm kennen, die Ukraine zusammenschießen: Tschetschenien lässt grüßen, Grosny, Syrien, rücksichtslos.
Wir leben, nach einer Phase friedlichen und freundlichen Miteinanders in Europa, wieder in unsicheren Zeiten. Wir können, nachdem Putin zu den Waffen hat rufen und das so genannte Bruderland Ukraine überfallen lassen, nicht mehr sicher sein, dass sich das nicht an anderer Stelle wiederholt. Wir sorgen gerade vor, dass der russische Imperator mit seinen Großmachtträumen nicht auf die Idee verfällt, andere Grenzen anderer Länder zu testen. Nato-Einheiten an den Grenzen der Balten, der Polen, in Rumänien, Bulgarien, überall da, wo er zupacken könnte. Man kann nur hoffen, dass er das Wort des US-Präsidenten Biden ernstnimmt: Kein Centimeter weiter. Dann träfe er auf Soldaten der Nato, aus Frankreich, Polen, Deutschland, den USA, auf Panzer, Raketen, Flugzeuge. Ich weiß, das kennt kaum noch einer, weil wir hier im Westen Frieden hatten, auch mit einem wie Putin- zumindest glaubten wir das, ehe er uns eines Besseren belehrte. Das müssen wir uns alle vorhalten lassen. Denn ja, er hat 1995 Tschetschenien angegriffen, er hat es wiederholt ein paar Jahre später, er hat dem Diktator Assad in Syrien geholfen, an der Macht zu bleiben und Krieg gegen sein eigenes Volk zu führen. Und er hat die Krim einfach annektiert. Und jetzt der Krieg in der Ukraine, von dem niemand weiß, wielange er dauern wird. Putin hat Krieg geführt, immer mit Brutalität.
Nie zuvor musste eine deutsche Regierung wie diese Ampel-Koalition solche Riesen-Probleme schultern. Da war schon die Pandemie, schlimm genug, aber sie ist noch nicht beendet, auch wenn nicht wenige meinen, wir machen Schluß damit, weil wir die Schnaue voll haben, wir wollen reisen, feiern. Dann kam der Krieg und mit dem Krieg kommen weitere Krisen auf uns zu: Energiekrise, Ernährungskrise, Flüchtlingskrise. Die bedrohte Umwelt dürfen wir trotz allem nicht aus den Augen verlieren.
Schlafwandler
Ein kluger Kopf hat in seinem Beitrag zum Putin-Krieg gegen die Ukraine an das lesenswerte und lehrreiche Buch von Christopher Clark erinnert. „Schlafwandler“ nannte der australische Historiker sein Werk, in dem erzählt und belegt, wie Europa 1914 wie ein Schlafwandler in einen Krieg taumelte, der quasi mit einem Attentat durch einen serbischen Nationalisten am 28. Juni des Jahres auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie Chotek in Sarajewo ausgelöst wurde- eigentlich ein zwar betrüblicher Anlaß aber von regionaler Bedeutung, was aber dennoch eine Welt in Flammen setzte mit Millionen Toten und massiven Verwüstungen. Der britische Kriegspremier David Lloyd George sah es 1933 beim Schreiben seiner Memoiren ähnlich wie Clark: „Die Nationen schlitterten über den Rand in den brodelnden Hexenkessel des Krieges, ohne eine Spur von Besorgnis oder Bestürzung“.
Und heute, Ostern 2022? Nie wieder Krieg. Damit haben wir Jahrzehnte friedlich in Europa gelebt. Die Parole bleibt ja richtig, aber durch Putin wissen wir, wie unsicher diese schöne Welt doch ist und an welchen dünnen Fäden sie hängt. Man schaue nur nach Frankreich. Wenn Macron die Stichwahl gewinnt, ist alles gut, aber wenn nicht, wird Europa geschreddert? Allein diese Möglichkeit lässt einen erschauern.
Sehr starker Beitrag, so etwas wünsche ich mir in mehr Medien und vor allem auch in dieser Klarheit aus der Politik heraus.
Klar liefern Sie darin keine besseren, keine definitiven Lösungen – doch es gibt hier nun einmal keine einfache Lösung in dieser alptraumhaften Situation, jeder Handlungspfad ist mit extremen Risiken versehen.
Das darf nicht bedeuten, nicht zu handeln. Doch es muss allemal bedeuten, besonnen und vor dem Hintergrund fundierter Abwägung und demokratischer Willensbildung zu agieren, statt schnell im Hinterzimmer Machtworte zu sprechen. Dafür steht zu viel auf dem Spiel.
Eigentlich war das auch bis vor Kurzem unsere politische Kultur – es ist ebenso bizarr wie beunruhigend, dass nun ein breiter Konsens aus Grünen, FDP, Union und auch Teilen der SPD markige Symbolik über die solide sicherheits- und wirtschaftspolitische Kalkulation stellen (und ja, auch die Wirtschaftspolitik spielt hinein, auch wenn es zynisch wirkt: Wenn wir kein Geld haben, einen kalten oder heißen Krieg durchzuhalten, weil die Wirtschaft kollabiert, haben wir bereits verloren).