Vergleiche hinken – dennoch ziehe ich diesen. Ich bin irritiert bis wütend über die Ausladung des deutschen Bundespräsidenten Steinmeier durch den ukrainischen Präsidenten Selenskyj und beginne mit einer anderen Geschichte, die eigentlich nichts damit zu tun hat. Gestern starb der Schauspieler Michael Degen, er wurde 90 Jahre alt. Als ich die Nachricht hörte, fiel mir sofort sein Buch ein: „Nicht alle waren Mörder“. Darin beschrieb er seine Kindheit in Berlin. Um nicht in ein KZ deportiert zu werden, tauchten seine Mutter und der kleine Michael bei Helfern unter, sie überlebten in einer Laubenpieperkolonie, Auschwitz blieb ihnen erspart, während sein jüdischer Vater Jakob an den Folgen seiner KZ-Haft in Sachsenhausen – dort hatten ihn die Nazis halbtot geschlagen – 1940 starb. Er wanderte nach Israel aus, diente dort beim Militär und kam trotz allem zurück nach Deutschland, aus Sehnsucht, er wollte wieder in deutscher Sprache auf der Bühne auftreten. Zum 90. Geburtstag gratulierte ihm Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit den Worten: „Ihre Biographie spiegelt den Abgrund deutscher Geschichte. Trotz allem, was Ihnen und ihrer Familie angetan wurde, haben Sie sich nicht von Deutschland abgewandt.“
Und der so Geehrte ließ seinen Gefühlen in einem Interview mit der Deutschen-Presse-Agentur(dpa) freien Lauf. Ihn entsetze das Wiedererstarken rechter Kräfte: „Dass junge deutsche Juden wieder um ihr Leben fürchten müssen, dass Antisemitismus und Rassismus nicht zu tilgen sind, lässt mich mit ohnmächtiger Wut zurück. Glauben Sie mir, das ist keine befriedigende Bilanz nach 90 Jahren Leben.“ Michael Degen, der einst Verfolgte und spätere Publikumsliebling.
Am gleichen Tag hörte ich im Rundfunk die Meldung: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der zusammen mit dem polnischen Präsidenten Duda und Regierungschefs der baltischen Staaten die bedrängte Ukraine besuchen wollten als Signal europäischer Solidarität, sei in Kiew nicht erwünscht. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj habe das deutsche Staatsoberhaupt faktisch zur unerwünschten Person erklärt, zu einer persona non grata. Wie bitte? Da hält man zunächst die Luft an. Ich kenne den Bundespräsidenten, habe mehrfach mit ihm gesprochen früher in Bonn und Berlin, ich weiß um seine früheren engen Kontakte zu Russland und Präsident Putin. Und ich habe natürlich seine scharfe Reaktion im Ohr, als Steinmeier den Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, sichtlich geschockt vom Angriffskrieg Putins auf das einstige Brudervolk, verurteilte und wenig später eigene Fehler und Fehleinschätzungen in der Russland-Politik der Vergangenheit einräumte. Klar und unmissverständlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals ein hoher Politiker so deutlich sein „mea culpa“ öffentlich geäußert hatte. Die Strategie des Einbindens Russland sei gescheitert, er habe sich in Putin getäuscht und an der Pipeline Nord Stream 2 zu lange festgehalten.
Aus und vorbei? Trotz allem halte ich die Entspannungspolitik, eingeleitet einst von Willy Brandt(und Egon Bahr), aber auch vertreten durch den FDP-Außenminister Walter Scheel, diese Strategie des Wandels durch Annäherung, für richtig. Es gibt keine Sicherheit in Europa ohne oder gegen Russland, irgendwann wird es ja mal wieder ein Russland ohne oder nach dem Aggressor Putin geben, mit dem man verhandeln kann, Kompromisse schließen, Verträge. Ja, die Energiepolitik war zu einseitig, das sagen sie heute alle, die früher dafür waren, weil sie so billig war, weil man Moskau glaubte, auch Putin vertraute, dass es ewig so weitergehen werde mit billigem Gas und Öl. Und es war ja auch billig(wir reden locker von der Friedensdividende), die Bundeswehr zu vernachlässigen. Heute wird eingeräumt, man habe zu wenig gehört auf die Warnungen aus Osteuropa. Aber wusste man es denn damals besser, als die Entscheidungen so und nicht anders getroffen wurden? Schuldzuweisungen sind schnell abgegeben, aber wie hätten denn damals die Alternativen ausgesehen? Jetzt sollen 100 Milliarden Euro als Sonderfonds angelegt, soll der Wehretat massiv erhöht werden. Und dann wird alles gut? Sind die Deutschen wieder die guten Europäer, weil ihre Flugzeuge wieder fliegen, die Panzer einsatzfähig sind, die Gewehre geradeaus schießen?
Ja, es ist bitter, wenn der Ukraine-Präsident Selenskyj die frühere Kanzlerin Angela Merkel auffordert, nach Butscha zu kommen, um sich ein Bild zu machen von den Menschenrechtsverletzungen, den Kriegsverbrechen der Russen an Ukrainern, an Kindern, Frauen, alten Männern. Ich verstehe die Wut eines Selenskyj, weil Merkel damals 2008 dagegen war, Kiew zügig in die Nato aufzunehmen. Aber dann hörte ich wieder mal den ukrainischen Botschafter in Deutschland, Melnyk, der von Talkshow zu Talkshow tingelt, um dort mehr Waffen, mehr Geld und mehr Sanktionen zu fordern, der unentwegt die politische Klasse in Berlin kritisiert und angreift, der den deutschen Bundespräsidenten unlängst heftig attackierte, was schon den Rang einer Beleidigung in sich trug. Ohne es zu wissen, nehme ich an, dass einer wie Melnyk hinter Selenskyjs Brüskierung des Bundespräsidenten stecken wird, jener Melnyk, der Steinmeier quasi vorhielt, nach dem 24. Februar- das war der Tag des Angriffs Russlands auf die Ukraine- „eine Art fünfte Kolonne Putins in Deutschland zu sein.“(taz). Und jener Melnyk, der sich in den Social Media und einem Interview zu der Hassbotschaft verstieg „Alle Russen sind Feinde“.
Das alles zu einem Zeitpunkt, da Deutschland die weitreichendsten Sanktionen gegen den Kriegsverbrecher Putin mitträgt, Waffen in nie gekannter Größenordnung in Krisengebiete liefert, Flüchtlingen hilft, überhaupt der Ukraine den Rücken stärkt wo immer es möglich erscheint. Um dann zu erleben, wie der ukrainische Botschafter Melnyk eine Einladung des Bundespräsidenten zu einem russisch-ukrainischen Konzert absagt. Bei aller Kritik an Putin und seinen sogenannten Freunden, nicht alle Russen sind schlechte Menschen, sind Kriegsverbrecher. Sie werden von Putin in diesen Krieg gezwungen. Ich erinnere mich an eine andere Geschichte: Ein Schwager von mir, vor wenigen Jahren verstorben, wurde als 17jähriger 1944 eingezogen. Bei der letzten großen Schlacht des 2. Weltkriegs auf den Seelower Höhen kurz vor Berlin verlor er seinen Arm, abgeschossen durch einen T-34-Panzer. Dass er überlebte, verdankte er einem russischen Arzt, der ihn so weit verband, dass er nicht verblutete. Jahrzehnte später hat er diese Geschichte erzählt, als er das russische Mahnmal in besagter Region das erste und einzige Mal besichtigte. Die Ostpolitik Brandts, die die Aussöhnung mit Russland einschloss, hat er, obwohl kein SPD-Wähler für richtig gehalten. Sie bleibt richtig.
Die Ausladung Steinmeiers durch Selenskyj ist falsch, kurzsichtig, sie schadet dem ukrainischen Interesse, sie schwächt die Geschlossenheit des Westens, die doch der Präsident Selenskyj sich so dringend für sein Land wünscht. Die Ausladung ist ein Affront, sie wird ihn weiter in die Medien bringen, keine Frage, weil das für Quoten sorgt, aber keine Sympathien bringt. Derselbe Selenskyj möchte Bundeskanzler Scholz in der Ukraine als Gast sehen, was erstmal nicht geschehen wird. Diese Tür hat er, hat sein Botschafter mit zugeschlagen. Selenskyj und Melnyk haben übersehen, dass der deutsche Bundespräsident zu Hause über einen ausgesprochen guten Ruf verfügt, er ist erst vor wenigen Wochen mit großer Mehrheit wiedergewählt worden, was man als Zeichen seiner breiten Anerkennung in den demokratischen Parteien wie im Volk werten kann. Einen solchen Präsidenten zu brüskieren, ist kein kluger Schachzug, ist kein Ausdruck diplomatischen Geschicks.
Niemand weiß, wie es gelingen kann, diesen furchtbaren Krieg zu beenden, der ganze Landstriche in der Ukraine schon zerstört hat und der für weitere Zerstörungen sorgen wird. Ich kann manche Verzweiflung von Selenskyj verstehen. Kiew wird jede Hilfe von außen benötigen in diesem Krieg, um zu überleben. Auch die deutsche. Und auch die des Bundespräsidenten, er wird sie nicht verweigern. Und Frank-Walter Steinmeier wird seinen Besuch in der Ukraine nachholen, wenn er eingeladen wird.
Frieden in Europa werden wir nur mit Russland erreichen. Nach Putin. Warum ich in diesem Zusammenhang die Geschichte von Michael Degen erzählt habe? Vielleicht sollte man Herrn Melnyk aus Degens Autobiographie vorlesen: Nicht alle waren Mörder.