Auf ihrem Parteitag 1980 in Freiburg legten sich die Freien Demokraten auf folgende Wahlkampflosung fest: „FDP wählen, damit Helmut Schmidt Kanzler bleibt.“ Dieser Satz richtete sich vor allem gegen den Unions-Kanzlerkandidaten Franz-Josef Strauß, den die Liberalen partout nicht zum Kanzler machen wollten. Der CSU-Chef wurde gestoppt, wie es eine große Protest-Bewegung forderte(Stoppt Strauß), obwohl die Union stärkste Partei geworden war bei der Wahl 1980 mit 44,5 Prozent, die SPD mit ihrem Kanzler Helmut Schmidt erreichte 42,9 Prozent der Stimmen, die FDP kam auf 10,6 Prozent. Die Grünen scheiterten an der Fünf-Prozent-Hürde. Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher konnten die seit 1969 regierende sozial-liberale Koalition fortsetzen.
Allerding hielt das Bündnis nur noch zwei Jahre, dann war es vorbei mit der einst als Liebes-Heirat gepriesenen Allianz aus Sozialdemokraten und Freidemokraten. 1969 hatten Willy Brandt und Walter Scheel überraschend eine Regierung gebildet, Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger wähnte sich nach der Wahl 1969 als Wahlsieger und war im Bewusstsein ins Bett gegangen, die große Koalition aus Union und SPD fortsetzen zu können. Als er am nächsten Morgen aufwachte, erfuhr er von der Einigung Brandt/Scheel. Ich habe den Begriff Liebes-Heirat nie geschätzt, sondern stets vom Zweck-Bündnis geschrieben, gebildet um zu regieren. Brandt/Scheel, diese Koalition steht für eine große Reformpolitik, darunter die Ostpolitik, die Aussöhnung mit der Sowjetunion, mit Polen, Verträge mit der DDR.
Christian Lindner ist am 7. Januar 1979 geboren, er wird den Freiburger Parteitag nur vom Hörensagen oder vom Lesen der entsprechenden Zeitungsartikel kennen. Das gilt auch für die Kenntnis der Ereignisse des Jahres 1982, als die sozialliberale Koalition zu Bruch ging. Da war er gerade mal drei Jahre alt.
Ich erinnere mich sehr gut an diese Zeit. 1981 kam ich als Korrespondent der WAZ nach Bonn, im Jahr zuvor berichtete ich über die Parteitage der Union in Berlin und in Freiburg. In Berlin schaffte es CDU-Chef Helmut Kohl, die Empörung vieler CDU-Mitglieder über Strauß in Schach zu halten. Sie waren erzürnt, dass der Bayer Kanzlerkandidat von CDU und CSU geworden war und nicht Kohl. Der Christdemokrat war klug genug, um Strauß einmal den Vortritt zu lassen, weil er davon ausging, dass die FDP sowieso nicht bereit war, mit einem Kanzler Strauß eine Regierung zu bilden. So geschah es. Man darf dabei nicht vergessen, dass Kohl bei der Wahl 1976(Wahlslogan: Freiheit statt Sozialismus) als Herausforderer von Helmut Schmidt 48,6 Prozent der Stimmen erreicht hatte, die SPD mit Schmidt(Wahlslogan: Modell Deutschland) lediglich 42,6 Prozent der Stimmen. Heute wären das Traumzahlen.
Genscher und Kohl
Und in Freiburg erlebte ich eine FDP, die sich festgelegt hatte auf die Fortsetzung des Bündnisses mit Schmidts SPD. Dachte ich, dachten viele. Wie sich im Laufe der nächsten Monate herausstellte, hatten sich Genscher und Lambsdorff, um nur die beiden zu nennen, aber nur gegen Strauß verbunden mit der SPD. Vor allem Genscher pflegte gute persönliche Kontakte mit Helmut Kohl, was Helmut Schmidts Sache nicht war. Das sollte sich eines Tages für Kohl auszahlen und gegen den Hamburger wenden. Es wurde damals immer mal wieder über das distanzierte Verhältnis von Schmidt zu Genscher berichtet. So habe der Kanzler seinen Vize spüren lassen, dass er der Chef im Ring war. Genscher habe stets auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz nehmen müssen, vertraut sei das Verhältnis nie gewesen.
Schon bald nach der Wahl 1980 knisterte es im Gebälk der neuen Regierung. Die SPD-Fraktion war zerstritten über den Nato-Doppelbeschluss, den Helmut Schmidt aber ohne Wenn und Aber vertrat. Er war ja auch der Urheber dieses Beschlusses. Das Thema sollte im Grunde das ganze Land spalten, wie sich herausstellte. Der Westen sollte atomar mit Raketen vom Typ Pershing 2 und Cruise Missile aufgerüstet werden, um die sowjetische Bedrohung des Westens durch SS-20-Raketen auszugleichen. Über diese Frage geriet Schmidt auch mit dem SPD-Vorsitzenden Willy Brandt über Kreuz.
Die FDP stritt sich unter Führung von Otto Graf Lambsdorff mit der SPD über die Sozialpolitik, Einschnitte ins soziale Netz, diese Forderungen waren damals an der Tagesordnung, Kürzungen beim Kinder- und Arbeitslosengeld wurden von FDP-Seite verlangt. Die SPD warf der FDP vor, nur noch die Interessen der Wirtschaft zu vertreten. So ging das hin und her. Genscher schrieb einen Brief an die FDP-Mitglieder, der als Wende-Papier ausgelegt wurde, Graf Lambsdorff setzte ein Papier mit schärferer Gangart auf, was als Drohung mit dem Bruch der sozialliberalen Koalition gewertet wurde. Es gab Auseinandersetzungen über eine Ergänzungsabgabe, von der SPD gefordert, die die FDP strikt ablehnte. Originalton Genscher: Die Ergänzungsabgabe ist tot, töter geht nicht. Das Klima in der Koalition war zerstritten, von einer Harmonie war man meilenweit entfernt, die Zeichen standen auf Trennung.
Wollte Genscher nur mit dem Feuer spielen oder möglichst viel für seine Partei herausholen? Ich glaube das nicht, er wollte das Ende der Zusammenarbeit mit der SPD. Wobei man einräumen muss, dass die SPD selber in vielen Fragen der Sozialpolitik und der Außen- und Sicherheitspolitik gespalten war. Da war auf der einen ein ökologischer Flügel wie der von Erhard Eppler und andererseits der Gewerkschaftsflügel der Partei um den Seeheimer Kreis, die sich im Grunde unversöhnlich gegenüberstanden. Es waren nicht nur die Coppicks und Hansens in der Opposition zu Schmidts Politik, auch Politiker wie Oskar Lafontaine lehnten des Kanzlers Richtung ab.
Wie war das mit dem Flick-Skandal?
Die wahren Gründe der Scheidung der Polit-Ehe? Hildegard Hamm-Brücher hielt auch später die Begründungen für Humbug. Der wahre Grund für die betriebene Wende von Genscher und Lambsdorff zur Union sei der 1980 aufziehende Flick-Parteispendenskandal, da die SPD-Fraktion in der Spendenaffäre keinerlei Bereitschaft zeigte, einer Amnestie zuzustimmen. Das mit der angewachsenen Verschuldung nahm Hamm-Brücher ihrer Parteiführung nicht ab. „Das war ja wirklich an den Haaren herbeigezogen.“ Zur Erinnerung: u.a. die Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff und Hans Friedrichs wurden wegen Steuerhinterziehung zu Geldstrafen verurteilt.
Es wurde damals viel gemunkelt und gerätselt, von Geheimtreffen zwischen Kohl und Genscher war die Rede, in Bonn blieb halt vieles nicht geheim. Andererseits wurden über Kohl viele Witze gemacht, der Pfälzer wurde als Birne abgetan, was ihm sicher nicht gerecht wurde. Dem stand der Weltpolitiker Schmidt gegenüber, der das Land sicher durch eine Weltwirtschaftskrise, der die Bürgerinnen und Bürger durch die dunklen Jahre des RAF-Terrorismus geführt hatte. Schmidts Ansehen war beträchtlich, die Menschen vertrauten ihm. Kohl statt Schmidt, das schien keine Alternative zu sein, dachte man, dachten wir.
Und doch passierte es am 17. September. Soll man sagen, Schmidt entließ die vier FDP-Minister oder soll man vom freiwilligen Rücktritt der liberalen Minister reden. Wie auch immer, wenn sie nicht gegangen wären, Schmidt hätte sie rausgeworfen. Schmidt selber übernahm das Außenamt, Finanzminister Lahnstein machte die Arbeit des Wirtschaftsministers Lambsdorff mit, Justizminister Schmude war zugleich Chef des Innenressorts von Gerhard Rudolf Baum, Bildungsminister Engholm wurde zudem Landwirtschaftsminister. Alles nur für eine kurze Zeit, für 14 Tage, wie sich herausstellen sollte. Egon Franke, der Chef der Kanal-Arbeiter, Vorgänger der Seeheimer, also der SPD-Traditionalisten, war für wenige Tage Vizekanzler. Schmidt forderte an jenem 17. September Neuwahlen und hielt der FDP vor: „Es wäre nicht in Ordnung, meine Damen und Herren von der FDP, wenn Sie ihre 1980 mit den Plakat-Titeln „Schmidt/Genscher gegen CSU und CDU“ gewonnenen Mandate jetzt in eine Regierung aus CDU/CSU und FDP einbrächten.“
Dregger scheiterte, weil die FDP verlor
Der Kampf um die Macht in Bonn hatte Auswirkungen auf die Karriere des CDU-Politikers Alfred Dregger. Der hessische CDU-Politiker hatte es geschafft, seine Partei im roten Hessen ziemlich nach vorn zu bringen. Dreggers großer Traum war aber nicht, Fraktionschef der Union in Bonn zu bleiben, er wollte Ministerpräsident in Hessen werden und dort Holger Börner ablösen. Bei den Landtagswahlen am 26. September 1982 wurde die CDU zwar stärkste Partei(45,6 vh) vor der SPD(42,8 vh), aber weil die FDP wegen ihres „Verrats“ in Bonn mit 3,1 vh den Einzug ins Parlament nicht schaffte, sondern die Grünen mit 8 Prozent in den Landtag einzogen, blieb Börner im Amt. Ich kann mich an Wahlkampfeinsätze von Helmut Schmidt damals in Wetzlar erinnern. Der Immer-Noch-Kanzler griff die FDP wegen ihren bevorstehenden Wechsels zur CDU im Bund scharf an und rief empört: „Das ist Verrat. Die gehören weggeharkt“. Dregger hat das sehr geschmerzt. Er warf seiner eigenen Partei vor, sie hätte mit Planspielen zum Wechsel in Bonn und dem konstruktiven Misstrauensvotum warten sollen bis nach der hessischen Landtagswahl.
Der 1. Oktober 1982 war dann der Tag der Tränen, der bitteren Vorwürfe, der Wahl von Kohl, der Sturz von Schmidt. Diese Wende war mehrheitsmäßig anders als heute damals möglich. CDU und CSU hatten zusammen mit der FDP eine Mehrheit gegenüber der SPD, andere Parteien waren im Bundestag nicht vertreten . Obwohl die FDP nicht geschlossen für Kohl stimmte, hatte dieser am Ende 256 Ja-Stimmen von möglichen 495, 235 Abgeordnete stimmten mit Nein. Mindestens 23 Abgeordnete der FDP hatten nicht für Kohl gestimmt. Die FDP verlor in der Folge Tausende Mitglieder, Politiker wie Günther Verheugen und Ingrid Matthäus-Maier wechselten zur SPD, andere wie Helga Schuchardt verließen die Partei. Die FDP hatte mal eine starke Frauen-Gruppe im Parlament.
Lindners Wende könnte sein Ende sein
Heute muss Friedrich Merz auf Neuwahlen setzen, will er vorzeitig Kanzler werden. Im aktuellen Bundestag fehlen ihm die Mehrheiten. Die SPD hat 25,7 vh, die Union 24,1 vh, die Grünen 14,8 vh, die FDP 11,5 vh, die AfD 10,3 vh, die Linke 4,9 vh. Merz, der sicher nicht mit der AfD regieren würde, müsste die Grünen und die FDP für sich gewinnen, um ein konstruktives Misstrauensvotum für sich zu entscheiden. Aber dann stünde er wie heute Scholz einem Dreier-Bündnis vor, das in den drei Ampel-Jahren bewiesen hat, dass zumindest Grüne und Liberale nicht miteinander können. Und ob die Grünen bereit sind, einen Merz gegen Scholz zu tauschen, ist mehr als ungewiss.
Anders sähe die Lage nach Neuwahlen aus. Nach allen Umfragen liegt die Union mit über 30 Prozent klar vorn, an zweiter Stelle rangiert die AfD, mit der kein Demokrat regieren will, dann folgt die SPD mit etwa 15 Prozent der Stimmen vor den Grünen mit rund 10 Prozent. Ungewiss ist das Abschneiden des BSW von Sahra Wagenknecht. Und was die FDP betrifft, müsste der Wende-Freund Lindner befürchten, dass seine FDP den Einzug in den Bundestag nicht schafft. In sieben Landtagen ist die FDP heute schon nicht mehr vertreten. Wie hatte Lindner noch 2017 seinen Auszug aus der Verhandlungsrunde mit Angela Merkel und den Grünen begründet: „Lieber nicht regieren als schlecht regieren.“
Dass die Ampel ihr ordentliches Ende erreicht, erscheint mehr als fraglich. Wie aber der Bruch aussehen könnte, ist auch ungewiss. Olaf Scholz, so ist zu hören, rede mit niemandem. Aber das kennt man ja. Er müsste die Vertrauensfrage stellen. Was sein Ende als Kanzler einleiten würde. Soll er weiter wurschteln bis September? Hoffen auf ein Auferstehen der SPD, mit ihm, Scholz? Die „Süddeutsche Zeitung“ hat in einem großen Stück über die politische Lage im Land den alten Sozialdemokraten Franz Müntefering zitiert. „Es ist an der Zeit, dass in Deutschland die Verhältnisse geklärt werden.“ Der Satz ist aus dem Jahre 2005, als der Kanzler Schröder nach der Wahlniederlage der SPD in NRW um seine Mehrheit im Bund fürchtete. Schröder stimmte sich mit Müntefering für vorgezogene Neuwahlen ab. Es folgte die Vertrauensfrage des Kanzlers, die er verabredungsgemäß verlor. Die Neuwahlen gewann dann Merkel denkbar knapp.
Bildquelle: Bundesregierung/Bundespresseamt, Richard Schulze-Vorberg