Wolfgang Schreyer (1927-2017) war einer der meistgelesenen Schriftsteller der DDR. Er schrieb über 40 Bücher; darunter zahlreiche gesellschaftskritische Kriminal-, Abenteuer- und Science-Fiction-Romane, die eine Gesamtauflage von fast 6 Millionen erreichten. Hinzu kamen Film- und Fernsehdrehbücher. 1956 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis. Er lebte in Ahrenshoop an der Ostsee. Hier besuchten wir ihn, um seine Sicht der Dinge kennenzulernen.
Herr Schreyer, nach der Wende geriet Ihr Werk nahezu in Vergessenheit. Ich muss gestehen, dass auch ich Sie nicht kannte. Es war Dieter Wellershoff, der mich auf Ihre ‚Wende-Romane’ hinwies.
Wellershoff und seine Frau verbrachten des Öfteren ihre Urlaube in Ahrenshoop. Bei einer dieser Gelegenheiten lernten wir uns kennen und schätzen. In meinem Buch Ahrenshooper Begegnungen habe ich darüber berichtet.
Das Schicksal, nach der sogenannten Wende in Vergessenheit zu geraten, teile ich mit vielen DDR-Autoren. Nach 1990 bestimmten die westdeutschen Großverlage das Geschehen und brachten ihre Autoren in Stellung. Auf dem Literaturmarkt geschah das Gleiche wie in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens auch. Der Westen überrollte uns förmlich; da konnten die meist kleineren DDR-Verlage nicht mithalten. Bis auf wenige Ausnahmen werden unsere Bücher seither verramscht, auch wenn sie vorher im Leseland DDR geschätzt wurden.
Zu den DDR-Autoren, die im Westen bekannt waren, gehören vor allem Stefan Heym und Christa Wolf und nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns noch einige andere; meist waren es sog. Dissidenten, die wegen ihrer Kritik am DDR-Sozialismus in Konflikt mit der Kultusbürokratie gerieten, Schreibverbot erhielten, ausgewiesen wurden oder von sich aus die DDR verließen. Wie war das bei Ihnen?
Nun, es gab wohl keinen bedeutenden Schriftsteller in der DDR, der die Verhältnisse nicht kritisch gesehen hätte. Wenn Sie sich die Reihe derjenigen ansehen, die damals die Resolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterschrieben haben und damit ein hohes Risiko eingingen, da sind nahezu alle dabei, die literarisch etwas galten.
Aber nicht alle waren bereit, das historische Projekt Sozialismus aufzugeben. Allen voran Stefan Heym, mit dem ich seit vielen Jahren befreundet war. In seiner Rede auf der Massenkundgebung vom November 1989 hat er seine Haltung eindrucksvoll formuliert. Er sagte damals:
„Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Heute habt ihr euch aus eigenem freiem Willen versammelt, für Freiheit und Demokratie und für einen Sozialismus, der des Namens wert ist. Der Sozialismus – nicht der stalinsche, der richtige, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber heißt Herrschaft des Volkes!“
Stefan Heym sprach damals aus, was viele von uns dachten oder besser gesagt: erhofften.
Sie haben erwähnt, dass Sie mit Stefan Heym befreundet waren. Wie haben Sie ihn erlebt seinerzeit?
Heym war ja bereits ein berühmter, in aller Welt gelesener Autor, bevor es die DDR überhaupt gab. Dadurch hatte er in gewisser Weise eine Ausnahmestellung; d.h.: ihm konnte man so schnell nichts anhaben. Das ließ er die Oberen auch spüren. Er konnte mehr riskieren als andere. Er veröffentlichte im westlichen Ausland, bekam dafür Strafen wegen irgendwelcher Devisenvergehen, aber das schüchterte ihn nicht ein. So wie in seinen Werken war er auch im realen Leben: er war gradlinig, formulierte schnörkellos und die politische oder besser humanistische Botschaft war ihm wichtiger als ein filigraner literarischer Stil.
In Ihren ‚Ahrenshooper Begegnungen’ schildern Sie, dass Heym sich gerne in Ahrenshoop angesiedelt hätte, hier ganz in Ihrer Nähe. Wieso kam es nicht dazu?
Das ist eines der grotesken Beispiele, wie die sog. Sicherheitsorgane der DDR mit Leuten umgingen, die sie auf dem Kieker hatten. Sie setzten die örtlichen Entscheidungsträger unter Druck und verhinderten mit allen bürokratischen Mitteln, dass Heym sich hier ein Domizil kaufen konnte. Ein ganzer Apparat wurde in Bewegung gesetzt, weil man wohl befürchtete, hier könnte sich eine oppositionelle Gruppe bilden. Dabei wurde doch jeder, der bei mir ein und ausging, ohnehin registriert. Leute wie wir standen unter ständiger Beobachtung. Man gewöhnte sich mit der Zeit daran. Sobald mich jemand besuchte, sah man vorn an der Straßenecke einen Wartburg parken, mit den Mitarbeitern des MfS.
In Ihrem Wenderoman ‚Nebel’ schildern Sie eine Begegnung mit Stefan Heym, den Sie auch namentlich erwähnen. Da geht es um eine Autofahrt zu einer Lesung vor Studenten einer kirchlichen Einrichtung. Während der Fahrt unterhalten Sie sich über Stefan Heyms Autobiographie ‚Nachruf’, die damals im Westen erschienen war. Sie kannten sie offenbar, denn Sie beschweren sich bei Heym über seine Charakterisierung Ihrer Person.
Der Hintergrund war der: Heyms Roman über den 17. Juni 1953, der wieder einmal nur im Westen erschienen war und nicht bei uns, war der Anlass für ein sog. Schiedsverfahren über ihn, an dem ich als Beisitzer fungierte. In dem Verfahren nahm ich für Heym Partei und lobte die präzise Darstellung der historischen Ereignisse, was zur Entlastung Heyms beitrug.
In der besagten Autobiographie nennt er mich einen „hilfreichen Kollegen und Romancier, dessen Abenteuerbücher zumeist in fernen Ländern spielen und so Gunst finden in den Augen der Zensur.“ Das fand ich ein wenig herabwürdigend; so als hätte ich mich vor der Zensur geduckt und mich angepasst.
In meinem Wende-Roman schildere ich den Disput, der sich daraus entwickelte. Dort heißt es:„Mich stört die Nonchalance, mit der du mich den Leuten vorstellst, als eine Art Bauer in dem Schachspiel um dein Werk. Weshalb wohl bin ich für dich eingetreten? Nicht nur aus Freundschaft oder Bewunderung, sondern halt davon überzeugt, dass es grundsätzlich stimmt, was du tust, und dass wir heute weiter wären, gäbe es mehr Schriftsteller von deiner Sorte. Überzeugt, dass dein Weg der richtige ist für unser Land, egal, ob du ihn als Journalist gehst oder als Literat und ob jedes einzelne Buch nun auch was taugt. Sie sind von ungleicher Qualität, manches hängt durch wie ‚Fünf Tage im Juni’ oder gar ‚Schwarzenberg’, das hat mich nie daran gehindert, in dir das Vorbild zu sehen in puncto Demokratieverständnis und Kämpfertum.“
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Lassen Sie uns über Ihren Wende-Roman ‚Nebel’ reden, von dem schon die Rede war. Mich hat überrascht, dass er im Untertitel als ‚Kriminalroman’ bezeichnet wird. Wie kam es dazu?
Der Verlag war der Auffassung, dass die potentiellen Leser aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Wende eher abgeneigt wären, darüber auch noch einen Roman zu lesen. Dagegen könnte ein Kriminalroman sie eher reizen. Wenn Sie so wollen, war es eine Konzession an den Literaturmarkt.
Gerade für jemanden wie mich, der die Ereignisse nur durch die Medien mitbekommen hat, enthält der Roman vieles, was ich sonst nie erfahren hätte. In der offiziellen Erzählung ist ja viel von der ‚friedlichen Revolution’ die Rede, mit der die Ostdeutschen sich gegen die autoritäre Staatsmacht erhoben haben. Die Wirklichkeit sah ja wohl ein wenig anders aus.
In meinem Roman schildere ich, wie die Sicherheitsorgane der DDR teilweise mit allen Mitteln versuchten, die aufkommenden Proteste im Keim zu ersticken. In einigen Szenen wird das damalige Geschehen dargestellt, und zwar auf der Grundlage von Augenzeugenberichten. Diese „Sicht von unten“relativiert das Bild von der „friedlichen Revolution“doch erheblich, gehört aber meines Erachtens zur geschichtlichen Aufarbeitung der Ereignisse von 1989.
Anhand der Hauptfigur des Romans schildere ich in der Rolle des 42jährigen Hauptmanns Christian Wendt den Prototypen eines pflichtbewussten Beamten, der an die zivilisatorische Bedeutung von Ordnung und Disziplin glaubt, ohne die seiner Meinung nach eine Gemeinschaft nicht funktionieren würde. Er war als einfallsreicher Ermittler und unermüdlicher Arbeiter mehrfach ausgezeichnet worden. Seine Ehefrau fühlte sich auf die Dauer von ihm vernachlässigt und hatte ihn vor einem halben Jahr verlassen. Seitdem neigt er dazu, sich mit der Bemerkung, ‚er sei an sinkende Schiffe gewöhnt, in aussichtslose Fälle zu verbeißen’.
Eines Tages erhält Wendt den Auftrag, den Romanautor Nebel zu empfangen. Ein solcher Charakter konnte Wendt nicht gefallen. Zumal der Mann auf der Suche nach literarischen Stoffen etwas über die Funktionsweise des Polizeiapparates erfahren möchte. In den Worten von Wendts Vorgesetztem Fink: Der Mann sucht Nervenkitzel, damit verdient er sein Geld, wir aber zeigen ihm die Qualität unserer Arbeit.
Obwohl Wendt wenig Neigung verspürt, sich auf die Wünsche Nebels allzu sehr einzulassen, entwickelt sich zwischen den Beiden ein interessanter Dialog: Als Wendt bemerkt, jede Straftat sei ein individueller Vorgang, entgegnet Nebel: ‚Nicht Ihrer Meinung. Sehen Sie, ich bin jemand, der politisch denkt, mich interessiert der Bezug aufs große Ganze, die gesellschaftliche Dimension.‘ Daraufhin erwidert Wendt, mit organisiertem Verbrechen könne er nicht dienen. ‚Vielleicht im nächsten Jahrtausend’.
Das hatte er so dahin gesagt, und so, wie er es gelernt hatte, war das immer noch die offizielle Lesart. Damit lässt sich Nebel natürlich nicht so einfach abspeisen: Er konfrontiert Wendt mit Tatsachen, die er aus Recherchen über Vorkommnisse in anderen sozialistischen Ländern kennt. Als Wendt ihm antwortet: „Sie träumen von einem Utopia, einer waffenfreien Welt’, spielt Nebel den Ball elegant zurück: ‚Es gibt da bestimmte Vorstellungen, wenn auch erst in Ansätzen. Wissen Sie, mir schwebt ein Sozialismus vor, der völlig gewaltfrei ist, nach außen wie nach innen, und in dem der Wunsch, Güter zu erwerben, nicht mehr die treibende Kraft darstellt. Und es wäre gut, uns auf die Lebensgrundlagen zu besinnen, also die nötige Energie lieber dem Wind und der Sonne zu entnehmen, anstatt fortzufahren, die Umwelt zu zerstören, durch das Abbaggern von Braunkohle, ihr Verfeuern und das Verbrennen von Benzin.“
Diese Passage zeigt schon, dass die innere Dramatik des Romans nicht allein von der Handlung lebt. Mir ging es vor allem um die transzendierende, gesellschaftskritische Sicht, die ich versucht habe, dem Ganzen zu unterlegen. Erst dadurch erfährt der spezifische Fall eine allgemeine Bedeutung. Es ist unschwer zu erkennen, dass ich in diesen Passagen mein eigenes politisches Credo entfalte. Es ist klar, dass dieses nicht das Realitätsprinzip ist, dem Wendt anhängt. Seines speist sich aus dem Glauben an eine straffe Organisation und eine funktionierende Bürokratie.
Interessant in diesem Zusammenhang ist ein Dialog zwischen Wendt und seiner neuen Freundin Jenny. Sie gehört einer anderen Generation an. Zu Wendt sagt sie eines Tages: „Du liebst die Ordnung, ich die Freiheit.“ Ihre oft spöttische, lässige Art, seine Arbeit infrage zu stellen, fordert seinen Widerspruch heraus. Mag auch das ein oder andere im Sicherheitsapparat schief laufen; an dessen Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung der Ordnung mag er dennoch nicht zweifeln – soll nicht alles in Anarchie ausarten.
Als Jenny eines Tages zu einer Kirchenveranstaltung in Rostock fahren möchte und Wendt um seinen Wagen bittet, lehnt dieser ihr Ansinnen ab. Die Kirche hat sich mittlerweile zum Sammelpunkt der oppositionellen Bewegung entwickelt. Unter ihrem Dach treffen sich die Anhänger der verschiedensten Gruppen: Schriftsteller; Künstler; Intellektuelle; politisch Andersdenkende. An der Veranstaltung in Rostock nimmt auch Nebel teil; Grund genug für Wendt, besonders misstrauisch zu sein. Wendt bittet Jenny, sich bei dem Treffen zurückzuhalten; nicht zu provozieren. Er weist sie auf die Rechtslage hin, und zwischen ihnen entspinnt sich folgender Disput:
„Na schön, du hast mich überzeugt, sagt sie schließlich. Ich werde nur beten und singen. Und sämtliche Stoppschilder beachten, die du vorsorglich errichtet hast.
Ich hab‘ dir nur die Rechtslage erläutert. Vergiss sie ruhig; das ist zu abstrakt für dich. Denk lieber an unsere Kubareise. Die wär nämlich zuerst im Eimer. Beim Militär heißt das: abgestufte Vergeltung.
Hut ab vor deinem Staat! Was für ein Drohpotential er doch hat.
Es ist auch deiner, immer noch! Und er ist gar nicht so robust und brutal, wie du glaubst. Freiheit und Verantwortung sind im labilen Gleichgewicht, überall auf der Welt. Drückst du die eine Seite der Waage runter, hebelst du die andere aus, und wir haben Anarchie.
Wie schlimm, hat sie darauf gesagt, einigermaßen freundschaftlich, wie ihr schien, auf der Kippe zwischen Angriffslust und Leisetreterei. Staatskunst als Nummer auf dem Hochseil. Die Balance zwischen Ordnung und Chaos, nur von Artisten zu meistern, den Weisen im Oberbüro. Stimmt bloß nicht bei uns. Hier bewegt sich doch nichts mehr! Ihr habt die rechte Waagschale so mit Sicherheit befrachtet, daß sie ganz unten ist und von der linken alles runterrutscht, was man draufpacken will. Freiheit findet bloß noch im Saal statt, unter dem Dach der Kirche, das ziemlich löchrig ist.“
Obwohl Jenny versprochen hatte, sich nicht an den Protesten zu beteiligen, macht sie sich doch mit einigen Gesinnungsgenossen auf den Weg zur Kirche – und wird dabei prompt verhaftet. Was sie dann in der Haft an Erniedrigung und Gewalt erlebt, spottet jeder Beschreibung. Diese Seite der friedlichen Revolution kannte man so bisher nicht. Sie schildern die Ereignisse mit einer derartigen Eindringlichkeit, dass man glaubt, sie unmittelbar mitzuerleben. Daher möchte ich diese Passagen noch einmal in Erinnerung rufen. Da heißt es:
„Die Leute – ca. 40 – befinden sich auf dem Weg in eine Kirche. Man geht auf dem Bürgersteig, ein stiller Zug, niemand hat eine Spruchtafel, keiner ruft etwas, nicht mal Kerzen sind zu sehen. Der Zufall hat sie zusammengeführt, wie nach einem Filmschluss im Kino. Doch an der nächsten Ecke versperrt man ihnen den Weg zur Kirche. Bewaffnete, Uniform der Kampfgruppen. Und zurück geht es auch nicht mehr! Zwei Einsatzwagen der Polizei sind ihnen gefolgt, die Besatzung des ersten springt aufs Pflaster, riegelt hinter ihnen ab. Ein Kessel. Wortlos drängt die Postenkette sie auf die linke Straßenseite und kreist sie an den Häusern ein. Die Kampfgruppenleute schlagen keinen. Aber durch ihre Reihe dringen Zivilisten, stürzen sich zu dritt auf einzelne am Rand, greifen sich wen raus. Die Demonstranten werden umzingelt und mit Wasserwerfern (Modell 50er Jahre, Arbeiterwaschmaschine genannt) traktiert. Elefantenhaft schwenkt er sein Rohr, nimmt die Gruppe aufs Korn, sinnlos, niemand wehrt sich. Da, der Strahl, fauchend trifft er Jenny, eisig, preßt sie kurz an die Wand und läßt sie los. Sie kriegt keine Luft, keucht, prustet, ist von Kopf bis Fuß naß. Aus den Fernstern über ihr Proteste. Der Strahl fegt hoch, peitscht die Fassade, bis man die Fenster schließt.
Sie hört den röhrenden Befehl; Absitzen und aufladen! Bereitschaftspolizei springt vom zweiten Lastwagen und treibt sie wie Schafe hinauf. Schon prasseln Hiebe. Die Verhafteten werden zusammen gefercht abtransportiert und in eine leere Lastwagenhalle verfrachtet. Gänsemarsch durch den Hof … das Gesicht zur Wand, Abstand halten, niemand rührt sich! In ihrem Rücken wird ein Mann misshandelt, der beteuert, unschuldig zu sein. Gräßlich, die dumpfen Hiebe … Hinter ihnen hecheln Hunde … Eine Frau bemerkt, das seien ja Verhältnisse wie seinerzeit in Chile. Man hat ihr Tuscheln gehört, sie wird abgeführt, jemand schreit: Du Nutte, sollen wir dich durchwichsen? Wenn nicht gleich Ruhe ist, lasse ich die Hunde los! Satzfetzen, rüdes Zeug, dazu das Gekläff der Köter. Verstehen Sie kein Deutsch? – Das habt ihr vorher gewusst. – Kommste, kommste, runter jetzt, in die Knie, los, mach Häschen hüpf! – Kopf hoch, Nase zur Wand! – Aufs Klo? Piß dir in die Hosen. Das Gefühl, rechtlos zu sein, nichts wert, der Willkür ausgeliefert … Es ist, als nehme der Gehorsam ihnen die Würde, mehr noch als die Entblößung. Man zwingt sie, einander schwach zu sehen, folgsam, demütig … Sinnlos, sich zu wehren. Man tastet Jenny ab, greift auch ihr in den Mund, den Slip aber darf sie anbehalten. Dies bleibt ihr erspart … Beim Ankleiden denkt sie: Eine Szene wie in Filmen aus dem KZ. Und nun, einander als hilflos vorgeführt, als Objekt der Staatsräson … Nationalfeiertag der Republik. Ein Datum, das sie nie vergessen wird; bis ans Ende ihrer Tage.“
Seitenlang schildern Sie die Prozeduren der Entwürdigung, körperlichen und seelischen Misshandlung und sexistischen Gewalt. Mich haben diese Szenen an den Roman ‚Collin’ von Stefan Heym erinnert. Da berichtet der Altkommunist Hawelka, ein überzeugter Kommunist und Teilnehmer am Spanischen Bürgerkrieg von seinen Hafterfahrungen im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Aus ihm unerfindlichen Gründen war er in einem Schauprozess zu mehreren Jahren Zuchthaus verurteilt worden; eines der vielen Opfer der stalinistischen Säuberungen. Das Verfahren mit all seinen politischen Vorgaben und juristischen Absprachen vor einem ausgewählten Publikum war eine einzige Farce. Die bedrückenden Zustände im Untersuchungsgefängnis schildert Hawelka dem Schriftsteller Collin wie folgt:
„Die Bilder stiegen auf in wirrer Reihe, der beklemmende Modergeruch war wieder um ihn, während er sprach, das ewige Halbdunkel der Haftzellen im Keller, die Feuchtigkeit, der Widerhall, mit dem die eisernen Türen ins Schloss fielen, das plötzlich Geblaff der Polizeihunde. Da ist nur die hölzerne Pritsche, sonst nichts. Kein Krug, kein Becher, keine Schüssel, kein Handtuch, all das wird dir einmal am Tag hereingereicht, einmal am Tag auch – dann erkennst du, dass es Abend geworden ist – ein stinkender Strohsack und, je nach Jahreszeit, ein oder zwei dünne Baumwolldecken. Ach ja, und der Kübel. Der gehört allerdings, wie die Pritsche, zum permanenten Mobiliar; nur leider kannst du nicht auf dem Ding sitzen, dafür ist er zu hoch und die Kante zu scharf. Du musst hinaufkriechen und dich festhalten und irgendwie balancieren, damit du dir den Hintern nicht zerschneidest, und wenn du trotz dieser Akrobatik noch kacken kannst, spritzt dir die Jauche von unten zwischen die Beine.
Das schlimmste aber ist der anonyme Wille, dem du ausgeliefert bist. Sie entscheiden, wann du aus dem Schlaf gerissen wirst und wie oft, sie entscheiden, wann die nackte, trübe Birne in der engen Zelle an- und ausgeht, sie entscheiden, wann du atmest, denn es gibt ja nicht genug Sauerstoff da unten für deine Lungen, kein Fenster, das sich aufstoßen ließe, nur ein faustgroßes Loch, durch das sie gelegentlich Luft zu dir hinabpumpen, und oft genug glaubst du, sie lassen dich ersticken, und du willst schreien, aber du schreist nicht, denn dein Schreien würden den spärlichen Sauerstoffvorrat noch weiter verringern und du weißt ja nicht, wann sie dir wieder Luft geben werden, und du spürst, wie du immer apathischer wirst, und manchmal pumpen sie die Luft auch zu spät in die Zelle, und dann drückt es dir das Herz ab. Sie lassen dich da unten nicht sterben. Sie brauchen dich nämlich noch. Just wenn du am Verrecken bist, hörst du, wie sie die Tür aufschließen, und es kommt einer mit einer Schachtel in der Hand und füttert dich mit Pillen – die Behörde stützt dir den Kreislauf. Wie lange hält einer das aus? Zwei Tage? Zwei Wochen? Zwei Monate?
Eine Art Erlösung gibt es, wenn der Gefangene alles gesteht, was man ihm vorwirft, und sich als reuiger Mensch gibt. Auch während der Inquisition ließen die Folterknechte schon vor Jahrhunderten bei einer solchen Erklärung von ihnen ab, doch war ihr Tod auf dem Scheiterhaufen oder am Galgen beschlossene Sache.“
Das ist eine eindrucksvolle Darstellung der inneren Mechanismen des stalinistischen Terrors, der sich ja unter anderem darin zeigte, dass man die alten Parteikader liquidierte, so als wollte man das Gedächtnis der Partei ausmerzen; und das alles, um die Macht der herrschenden Parteiclique zu stabilisieren.
Diese Methoden wurden dann auch von den Sicherheitsorganen der DDR adaptiert. Dem Ministerium für Staatssicherheit haben die Ausführungen von Stefan Heym seinerzeit natürlich nicht gefallen. Er erzählte mir, dass man versucht habe, die Quellen seiner Schilderungen zu erfahren. Heym ließ sich nicht einschüchtern und veröffentlichte den Roman im Westen. Ihn konnte man nicht einfach einsperren wie den Genossen Hawelka, dazu war er zu berühmt.
Kommen wir zu Wendt zurück. Er versucht ja durchaus, die Geschehnisse für sich einzuordnen. Aber ihm fehlt jegliches Verständnis der wirklichen Ursachen des Aufstands; er ist ohne jede Sensibilität für die innere Dynamik der Vorgänge. Stattdessen glaubt er immer noch an die inhaltsleeren Phrasen von der ‚Härte der sozialistischen Gerechtigkeit’ oder: ‚Wo ein Genosse ist, kämpft die Partei’!
Als er gefragt wird, auf welcher Seite er steht, sagt er lapidar: ‚Auf der von Recht und Gesetz’, obwohl er längst wissen muss, dass im Namen von Recht und Gesetz Gewalt gegen die eigene Bevölkerung ausgeübt wird; dass sie längst zum Mittel reiner Machterhaltung degeneriert sind.
Sie haben die innere Dynamik des Veränderungsprozesses in all ihren Schattierungen eindringlich geschildert. Puzzle um Puzzle werden die Mechanismen des Herrschaftsapparates dechiffriert: die Realitätsblindheit der politischen Klasse, die in einer Scheinwelt zu leben scheint; den Stumpfsinn einer Bürokratie, die zum Selbstzweck geworden ist; die lebensfremden ideologischen Phrasen; das gigantische Ausmaß des Sicherheits- und Überwachungsapparates; das Versagen der Planwirtschaft und schließlich – Korruption und Vetternwirtschaft. Nur so versteht sich, dass das gesamte System schließlich wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt – allen Repressionsversuchen zum Trotz.
Ich habe versucht, in den Figuren des Hauptmanns Wendt und der Jenny die personifizierten Pole einer auseinander driftenden DDR-Gesellschaft darzustellen. Auf der einen Seite der ungebändigte Freiheitswille in Gestalt der Jenny; auf der anderen Seite Wendt als Repräsentant einer Ordnungsmacht, deren Maximen zunehmend hohl klingen und deren innere Substanz sukzessive ausgehöhlt wird, weil der Widerspruch zwischen den proklamierten idealen Zielen und der kruden Wirklichkeit nicht mehr gekittet werden kann.
Abschließend möchte ich Sie fragen: Wie würden Sie Ihr literarisches Credo charakterisieren.
Es mag gut sein, als Schriftsteller richtige Antworten auf Fragen der Zeit zu geben, und schön, sich in dieser Hoffnung zu wiegen. Doch es sollten keine fertigen Antworten sein. Sonst fehlte alles, was zu ihnen führt, das Suchen, die Rückschläge, der ganze Erfahrungsprozess, der wirklich zählt – für den Autor wie für den Leser. Die seelischen, materiellen und politischen Tatsachen des Lebens sind es, die beide verbinden, in gemeinsamem Nachdenken, das am Anfang und am Ende allen bewussten Handelns steht.
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