1. Persönliches
Wolfgang Schäuble ist am 26. Dezember 2023 verstorben. Seine Autobiographie war abgeschlossen, sie ist im April 2024 unter dem vorbildreichen und deshalb anspruchsvollen Titel „Erinnerungen“ veröffentlicht worden. Der Untertitel erst macht seine Memoiren individuell: „Mein Leben in der Politik“. Schäuble zeigt sich in seiner kleinbürgerlichen Herkunft. Er zeigt sich dankbar für sein „behütetes Aufwachsen“, zeigt sich auch als einen Menschen geringer Tiefenschärfe – das gilt sowohl historisch als auch politik-systemisch.
Familiengeschichtlich z.B. wird allein auf den Vater zurückgeblendet, der die Schule nach der Mittleren Reife verließ, um eine kaufmännische Lehre zu absolvieren. Bei der Buntweberei Hornberg arbeitete er sich bis zum kaufmännischen Leiter hoch. Neben seinem Beruf machte er eine Ausbildung zum Helfer in Steuerangelegenheiten. Mitte der fünfziger Jahre machte er sich selbstständig. Am Ende schaffte er es über den Steuerbevollmächtigten bis zum Steuerberater. Von diesem Vater wird gesagt, dass er zum
„unheimlichen Glück … keinen Kriegsdienst leisten musste. Die Hornberger Buntweberei war als kriegswichtiger Betrieb eingestuft, was ihn davor bewahrte, in die Wehrmacht eingezogen zu werden.“ (S.17)
Andere Familienmitglieder, die dieses Glück nicht hatten, kommen nicht vor. Woher der Heranwachsende von den Nazis und deren Vorläufern erfahren hat, wie vom Holocaust – das wird beschwiegen, denn
„… von Diktatur und Nationalsozialismus <wurde> nicht viel geredet – aber wir haben auch nicht gefragt.“ Und das im Hause eines unbelasteten Vaters, der selbst früh nach 1945 Politiker wurde? Was war da unter der Decke zu halten? Wolfgang Schäuble vermeidet selbst hier, wo so offenkundig ist, dass etwas Zentrales ausgespart bleibt, die Tiefenschärfe.
Wolfgang ist ein sportlicher Knabe, spielt Fußball – Schäuble wird später in der Bundestags-Elf spielen, als Innenminister für Sport zuständig werden; nachdem er in anderer Funktion das Doping-Geheimnis des westdeutschen Sports ausgeplaudert hatte: mit dem Argument, dass »ohne den Einsatz dieser Mittel der leistungssportliche Wettbewerb in der Weltkonkurrenz nicht mehr mitgehalten werden kann«. Das kommentiert er im Rückblick lediglich dadurch, dass er „dieses Argument nicht mehr wiederholen“ würde. Schäuble ist auch in seinen Erinnerungen ein aus Vorsicht wortkarger Mensch. Zur Sache, zur systemischen Frage, wie denn anders Westdeutschland bei den Olympiaden hätte Medaillen gewinnen sollen, äußert er sich nicht. Zur noch wichtigeren Frage, wie er zum Verhältnis von fairem Wettbewerb und der Einhaltung rechtlich gesetzter Grenzen steht, sagt er vor dem Hintergrund illegaler Parteienfinanzierung auch nichts.
Eine seiner zentralen Lehren für’s Leben habe er, so bekennt er, von einem älteren Kameraden aus seiner Fußballmannschaft:
„Du musst selber austeilen. Denn wenn du selbst austeilst, musst du weniger einstecken.“
Diesen Ratschlag habe er nicht vergessen – er habe vielmehr die Erfahrung gemacht, dass diese Lehre auch außerhalb des Platzes zutreffe.
Beruflich trat er in die Fußstapfen seines Vaters. Er wurde Volljurist, trat nach dem Examen auf Rat seines älteren Bruders in die baden-württembergische Steuerverwaltung ein, mit dem Ziel, sich als Wirtschaftsanwalt weiterzuqualifizieren – beide Brüder gingen diesen Berufsweg auch zu Ende, die Schäubleschen Kanzleien waren in Baden-Württemberg zentral für die Wirtschaftswelt. Wolfgang Schäuble, der mittlere von drei Brüdern, war zuletzt im Finanzamt Freiburg als Regierungsrat tätig, bevor er beruflich in die Politik wechselte. Schäuble verfügte über das für ein erfolgreiches „technisches“ Regieren zentrale Herrschaftswissen, das um Wirtschaftsrecht, Geld und Steuern, von der Pike auf gelernt; und er verfügte über ein persönliches Umfeld, wo er sich leicht ergänzend orientieren lassen konnte.
Ganz anders sein Wissen und seine Neugier, sein Wissen-wollen, in Geschichte. Im Rückblick bekennt er
„Manches würde ich also heute … anders machen. Ich würde mich mehr mit Geschichte beschäftigen, mit Ökonomie, vor allem auch mit den Sozialwissenschaften. Tiefer bohren bei dem, was mich interessiert.“
Und in der Tat, wenn man liest, nur beispielhaft, wie er sich mit seinen RCDS-Kommilitonen apologetisch in die Debatten an den Hochschulen um den Vietnam-Krieg gemäß der Lebensweisheit seines Fussball-Buddys einbrachte, ohne große Kenntnis, allein in dem Vertrauen, dass Kritik unbegründet und deshalb lediglich Anti-Amerikanismus sei, dann sieht man, was er mit diesem bekennenden Satz im Rückblick meint. Er steht auch nicht an einzuräumen, dass er später, nach Lektüre der Hintergründe des Vietnam-Krieges, zu einer ganz anderen Haltung gekommen sei.
Schäubles Stil ist geprägt davon, dass er sich öffentlich nicht entscheidet. Ein Beispiel sei hervorgehoben. Er nimmt Richard von Weizsäckers ausgearbeitete Diagnose von der Parteienverdrossenheit (Interview in der ZEIT im Juni 1992, später vertieft Teil des Buches „Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger.“ 1992) ausdrücklich auf, d.h. er hält sie für thematisierenswert, gerade für die Zeit nach der deutsch-deutschen Vereinigung. Doch selbst mit einem Abstand von 30 Jahren und den Tod vor Augen bietet er dem Leser nur dürftige Worte:
„Dagegen … haben wir uns damals natürlich gewehrt. Aber im Nachhinein gibt der Begriff vermutlich einen richtigen Hinweis auf die von vielen so empfundene Atmosphäre giftiger Auseinandersetzungen.“
Ja, war die von Richard von Weizsäcker gestellte Diagnose denn nun richtig? Und gab es das von vielen empfundene Phänomen wirklich, oder war das nur Phantasmagorie vieler Zeitgenossen? Schäuble zeigt sich nicht. Er bleibt verbal auf einer Ebene, wo er zu einem jeden Satz, den er formuliert, durch geschickte Interpretation im Nachhinein recht behalten kann. Er ist gleichsam Opfer seines Lebens in einer politischen Kultur der Dauer-Aggressivität geworden, wo jeder sachlich klar und ohne Hintertür formulierte Satz von Gegnern wie beim Judo genutzt werden kann, um einen „auszuhebeln“ und rücklings auf die Matte zu werfen. Dagegen geht ein Profi wie Schäuble mit Formulierungen wie der gezeigten in Dauerdeckung. Für „Erinnerungen“ aber ist das eine obsolete Haltung – Schäuble nach seinem Tod in der politischen Arena noch auf die Matte legen wollen, das wird niemand mehr anstreben.
Im Ganzen scheinen die gebotenen Erinnerungen folglich nicht sonderlich offen. Streckenweise auch aus anderen Motiven. Selbst da, wo Schäuble offenkundig Hintergrundwissen hat, schreibt er sehr kalkulierend verdeckt, so dass nur Insider, die schon wissen, verstehen können, worauf er anspielen will. Deswegen mag es ein angemessener Zugang sein, sie durch „Tiefbohrungen“ an zwei Stellen dem Leser anschaulich zu machen. Gewählt werden zwei Ereignisse, zu denen der Autor eine, wenn auch indirekte, Beziehung zum Schäubleschen Wirken hatte. Und da der Autor, anders als Wolfgang Schäuble, dem Duktus des Verschweigens durch Andeutung nicht zu folgen verpflichtet ist, kann durch Konkretheit vielleicht geschichtliches Wissen der nächsten Generationen weitergegeben werden.
2. Haltung zum Konzept der Ökologischen Steuerreform
Die Idee der „Ökologischen Steuerreform“ (ÖSR) ist alt. Herbert Ehrenberg als sozialdemokratischer Minister und Hans-Christoph Binswanger als Akademiker gehörten zu den Erfindern dieser Idee, die die „Maschinensteuer“ mit der „Umweltsteuer“ versöhnen sollte. Es geht um eine Umschichtung der Abgaben, aus denen ein Staat sich finanziert – nicht um eine Steuererhöhung. Was in den frühen 1970er Jahren ins Bewusstsein stieg, war eine Übernutzung von Umweltgütern – für deren Nutzung man nicht zahlen musste. Zugleich erkannte man die Problematik der Höhe von Abgaben auf den Faktor Arbeit, die die Industriestaaten Europas mit ihren Sozialsystemen, welche auf Abgaben auf Arbeit basiert waren, gegenüber den USA und insbesondere gegenüber Entwicklungsländern stark benachteiligte. Die Idee war, die Abgabenlast umzuschichten, um so „zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen“, d.i. mehr Beschäftigung und weniger Umweltbelastung zu induzieren.
Diese Idee wurde von dem Sozialisten Jacque Delors als EU-Kommissionspräsident im Nachgang des Erdgipfels von Rio 1992 aufgenommen. Im Umweltaktionsprogramm der EU von 1992 kommt das Thema vor, dann insbesondere im Jahre 1993 Delors’ White Paper on Growth, Competitiveness and Employment. Angeblich hat Ioannnis Paleokrassas, Kommissar für Umwelt in der Kommission Delors III, das einschlägige Kapitel 10 des Weißbuchs im Wesentlichen verfasst.
Damit war das Projekt auf die europäische Tagesordnung gesetzt. Auf der Belastungs-Seite der Umschichtung in Form einer CO2-Energie-Steuer, mit der Zusage der Clinton-Administration für eine „carbon tax“ („BTU tax“) seitens des Hauptwettbewerbers jenseits des Atlantiks im Hintergrund. In Deutschland wurde diese Umschichtungsidee prominent vertreten von Ernst Ulrich von Weizsäcker, der bald darauf zum Gründungsdirektor des Wuppertal Instituts berufen wurde. Zur Vertretung und fachlichen Unterfütterung des Gedankens einer Ökologischen Steuerreform am Wuppertal Institut wurde der Autor dieses Review gewonnen. Politisch prominent vertreten wurde dieses Steuerreform-Konzept von Seiten der SPD damals von Oskar Lafontaine, fachlich bereitete der damalige umweltpolitische Sprecher der SPD im Deutschen Bundestag, Harald B. Schäfer, mit Bienenfleiß den erforderlichen Kompetenzaufbau vor. Bekannt war, die Spatzen pfiffen es in Bonn von den Dächern, dass Wolfgang Schäuble von der CDU persönlich interessiert am Konzept der ÖSR sei. Als „politische“ Motive, im Gegensatz zu „fachpolitischen“, wurden damals genannt:
- Schäuble wolle eine Annäherung an die Grünen als Koalitionspartner-Option;
- Schäuble wolle für eine neue Regierung, ggfls. unter seiner Führung, frisches Geld, um Gestaltungsspielraum zu haben – gegen die übliche politische Taktik, dass einer neu ins Amt kommenden Regierung durch die Vorgängerregierung finanziell so enge Fesseln angelegt sind, dass sie wenig von ihren Wahlversprechen einlösen kann, deshalb in der Wählergunst abrutscht und beim nächsten Wahltermin abgewählt wird.
In den Schäubleschen Erinnerungen nimmt die Zeit direkt nach der deutsch-deutschen Vereinigung breiten Raum ein, er fasst sie im Bild der „Götterdämmerung“ der Kanzlerschaft von Helmut Kohl. 1994 stand die nächste Wahl an, im Ergebnis ging die Phase der Götterdämmerung erst mit der Wahl 1998 zu Ende, als der „Gott“, der da lange „dämmerte“ durch Zusammenprall mit der Realität, dem Votum der Wähler, vom Thron gestoßen wurde.
Schäuble schildert diese Phase in der Haltung, dass dieses Drama lange vorauszusehen gewesen sei, da Kohl, wie alle zu lange regierenden Regierungschefs, inzwischen abgehoben gewesen sei und die Fähigkeit zum Dialog mit dem jeweiligen Umfeld verloren hätte. Zur Endphase der Kanzlerschaft Merkels sagt er strukturell Ähnliches: Bei einer Langzeit- Spitzenpolitikerin nehme
„Das Feld der Außenpolitik … größeren Raum ein. War es bei Kohl die Einführung des Euros, die ihn am Amt festhalten ließ, so war es bei Merkel womöglich das Wissen um die Schwäche des westlichen Bündnisses und die Gefährdung der freien Welt, was dazu führte, sich als dienstälteste Staatsfrau in der Pflicht und vielleicht auch unersetzlich zu fühlen. … Dass Merkel als Lotsin nicht einfach von Bord gehen wollte, habe ich nachvollziehen können. Deshalb habe ich sie in ihrer Entscheidung, 2017 noch einmal anzutreten, bestärkt.“
Zurück zu Helmut Kohls langer Kanzlerdämmerung. Die Überschriften für die summarisch behandelte Zeit beider Legislaturperioden bis 1998 sind bezeichnend:
„Koalitions- und Parteienkrisen allenthalben“
„Oskar Lafontaine – Schicksalsgenosse und Widerpart“
„Und es bewegt sich nichts“
„Schwarz-grüne Gedanken“
„Nachfolgedebatten“
Zum Wahlerfolg im Jahre 1990 gesteht Schäuble offen ein, dass „wir 1990 ohne die Wiedervereinigung vermutlich nicht wiedergewählt worden wären“. Die Periode danach skizziert er als eine bleierne Zeit der Reformverschleppung, weil der Kanzler das Interesse an innenpolitischen Herausforderungen verloren hatte. Also gab es Nachfolgedebatten, die die Person Schäuble selbstverständlich im Fokus hatten. Der machte sich Gedanken zu möglichen Koalitionspartnern, d.i. die Grünen aber auch die SPD, sofern diese denn aus ihrem Krisenmodus herauskäme. Dafür stand Oskar Lafontaine, mit dem Schäuble die Attentats-Opferschaft verband – Schäuble erwähnt ausdrücklich dessen „Besuch bei mir am Krankenbett kurz vor der Wahl 1990, <es> war eine besondere und intensive Begegnung“.
Dieser Lafontaine war persönlich engagierter Verfechter des Reformgedankens „Ökologische Steuerreform“ (ÖSR). Schäuble hat sich folglich persönlich zu dieser Reformoption positioniert, gemäß seinem Buch war das im Vorfeld der Wahl im Herbst 1998. In seinem Rückblick räumt er dem Thema volle zwei Seiten ein. Das Konzept habe er vom Umweltbundesamt, er habe damals betont, dass es sich um ein zweiseitiges Konzept handele. Er schildert eine Pressekampagne gegen sich im Vorfeld der Wahl in 1998, die seitens der CSU initiiert war, um eine steuerliche Belastung der PKW-Nutzer zu verhindern. Das Konzept war aber bereits im Wahlprogramm für 1994 enthalten, jedoch, wie Schäuble konstatiert, „leider relativ folgenlos“.
Dass es folgenlos blieb, lag vor allem daran, dass Schäuble für die Wahl im Jahre 1994 nicht Kanzlerkandidat der CDU/CSU geworden war. Er war, so konnte man damals hören, entschieden, dieses Mandat im Wahlprogramm ggfls. zu nutzen. Doch Kohl wollte selbst erneut antreten. Zu allem Unglück hatte er auch noch Erfolg mit seiner Wiederwahl im Herbst 1994. Es war knapp, und nicht sein Verdienst – in Schäubles Worten
„In der Mitte der Legislaturperiode zwischen 1990 und 1994 gingen daher nur wenige davon aus, dass die Regierung Kohl noch einmal bestätigt werden würde. … Erst in einer mühsamen Aufholjagd, begünstigt durch einige schwere Fehler Scharpings und den kaum verborgenen Zwist innerhalb der sogenannten Troika …, gelang es der Koalition, die Bundestagswahl im Herbst 1994 doch noch zu gewinnen – mit einem durch Überhangmandate bedingten Vorsprung von nur zehn Stimmen. Wir waren mit einem blauen Auge davongekommen, aber schon die Kanzlerwahl war mühsam – mit nur einer Stimme Mehrheit,“
3. Der CDU/CSU-interne Kampf um die Ökologische Steuerreform
Damit sind alle Ingredienzien beisammen, um zu berichten, was der Autor dieses Review im Frühjahr 1994 erlebte. Der war seit 1993, aus der Industrie kommend, beim Wuppertal Institut beschäftigt, und dieses Institut war angelegt auf Projekte, zu finanzieren durch Drittmittelaufträge. Es meldete sich im Frühsommer 1994, also schon in der Hochzeit des Wahlkampfs, ein Unterabteilungsleiter aus dem Bundesministerium für Finanzen (BMF) mit einer Bitte. Dort hatte der Autor ein Jahr zuvor seinen Antrittsbesuch gemacht, auch um zu erkunden, welcher Beratungsbedarf seitens des BMF bestünde. Er war freundlich begrüßt worden mit der Mitteilung, dass das Haus „BMF“ besonders stolz auf seine Sparsamkeit sei, und die drücke sich auch darin aus, dass das maximale Volumen für die Drittmittelvergabe, also Projekte, bei 30.000 Deutsche Mark liege. Mit anderen Worten: Eine konzeptionelle Vorbereitung einer Ökologischen Steuerreform war mit dem BMF nicht zu machen. Eine höfliche aber klare Absage.
Ergebnis des Anrufs ein Jahr später war ein Treffen in einem Bonner Café. Eingeführt wurde zunächst in den Hintergrund der Bitte an den Autor. Im BMF gehe man davon aus, dass eine erhebliche Wahrscheinlichkeit bestehe, dass die schwarz-gelbe Koalition die Wahl verliere und eine Regierung unter Führung der SPD ins Amt käme. Dann sei klar, dass es zu einer ÖSR kommen werde. Die Politik der Hausleitung des in CSU-Händen liegenden BMF sei, einer kommenden Regierung die Durchführung dieses Steuerreformkonzepts dadurch zu verunmöglichen, dass das zuständige Referat den Auftrag hat, jegliche Kompetenz in dieser Richtung abzubauen.
Die unparteiische Beamtenschaft in der Leitungsebene des Hauses halte das für illegitim. Sie befürchte zudem, dass, wenn es nach einem Wahlsieg der Sozialdemokratie zu einem Beschluss für eine ÖSR komme, dessen Umsetzung dann in die Hände des Umweltministeriums gelegt werden könnte, wo bereits eine erhebliche Kompetenz aufgebaut worden sei.
Vor diesem Hintergrund erging die Bitte an den Autor, ein Angebot zur Unterstützung der Einführung einer Ökologischen Steuerreform zu erarbeiten, in das die wesentlichen fachlichen Kapazitäten der deutschen Institutslandschaft (FiFo, DIW, FhG-ISI) zu diesem Thema eingebunden seien. Größenordnung 2 Mio. DM. Kommunikation dazu nur privat. Ziel: Einen Projektantrag vergabefertig vorliegen zu haben, sofern klar ist, dass der Bedarf, diese Option zu ziehen, eingetreten sei.
Die Wahl ging 1994 dann jedoch anders aus, als es wahrscheinlich war. Es brauchte erst noch eine Wartezeit von vier weiteren Jahren, bis im Jahre 1998 eine Koalition mit den Grünen ins Amt kam, die die ÖSR sich vornahm und umsetzte – geführt nicht von den Konservativen sondern von der Sozialdemokratie. Das ÖSR-Konzept, welches man dann realisierte, war auf der Energiesteuer-Seite simpelst gestrickt: ein verbrauchsteuerlicher Ansatz, mengenbasiert ohne Wertanpassung, gemäß den steuerlichen Konzepten des 19. Jahrhunderts. Die zentrale steuerkonzeptionelle Erfindung des 20. Jahrhunderts, die Mehrwertsteuer, wurde nicht erwogen, da nichts vorbereitet war. Es musste, wie häufig in der Politik, mal wieder schnell gehen.
4. Mit einer Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke Geld für die Regierung eröffnen
Im Jahre 2009 trat die zweite Koalitions-Regierung unter Bundeskanzlerin Merkel ihr Amt an, nun in den Farben schwarz-gelb. Schäuble war in der Großen Koalition zuvor Innenminister gewesen, nun übernahm er das Finanzministerium. Wie vor der Wahl 1994 leitete ihn wiederum das bekannte Motiv: Um erfolgreich regieren zu können, braucht eine ins Amt kommende neue Regierung neue Finanzierungsquellen. Dafür stand 1994 das Konzept einer Ökologischen Steuerreform, dafür stand 2009 der Deal mit den vier Kernkraftbetreibern in Deutschland für eine Verlängerung der Laufzeiten, vor allem der jüngeren Kernkraftwerke, mit fortgeschrittenerem Sicherheitskonzept. Im Schnitt sollte es um eine Aufstockung um 12 Betriebsjahre gehen. Die Kraftwerke, die so privilegiert werden sollten, waren gemäß der vorher geltenden maximalen Betriebszeit weitgehend abgeschrieben, Kapitalkosten fielen im Fall eines Weiterbetriebs somit kaum mehr an. Zudem galt: Mit ihren niedrigen Brennstoffkosten konnten sie bei dem etablierten EU-Strommarktkonzept nicht anders, als erhebliche Gewinne einzufahren. Schäuble hatte deshalb die Vorstellung konzipiert und durchgesetzt, dass der durch eine solch üppige Verlängerung der Betriebslaufzeiten entstehende Gewinn zwischen den Kraftwerksbetreibern und dem Staat, vertreten durch den Bund, aufgeteilt werden solle.
Aufgeteilt werden sollte der Gewinn, der sich nach Abzug der Kosten für sicherheitliche Nachrüstungen der bestehenden Kraftwerke ergeben würde, aus ungenannten Gründen jedoch im Verhältnis 50 zu 50 – weshalb die Konzerne in dieser Größenordnung leistungsloses Einkommen erhalten sollten, blieb unerläutert, auch Schäuble sieht im Nachhinein, in seinem Buch, keinen Anlass, darauf einzugehen. Angesichts der Geschichte der Beziehung von monopolistischen Stromkonzernen und Staat/Politik in Deutschland besagt das etwas. Wenn die Politik entscheidet, Privaten ohne Gegenleistung Milliarden zukommen zu lassen, dann würden in einer politisch aufgeklärten Öffentlichkeit die Fragen im Raume stehen: Warum? Gibt es doch eine Gegenleistung? Was ist die?
Finanziell ging es um 16 Mrd. €. für den Bundeshaushalt. Mit der AtG-Novelle wurde den AKW-Betreibern das Recht zur zusätzlichen Produktion von 1.804 TWh eingeräumt. Der Förderfondsvertrag sah vor, dass die AKW-Betreiber ab 2017, nach Auslaufen der Geltung der Kernbrennstoffsteuer, neun Euro pro eingespeister MWh in einen Fonds zur „Finanzierung der Förderungsmaßnahmen zur Umsetzung des Energiekonzeptes“ einzuzahlen hätten. Das bedeutet Zweierlei.
- In etwa denselben Betrag, 16 Mrd. €, wollte der Staat den AKW-Betreibern einfach so überlassen.
- Der Beschluss zum abrupten Doch-noch-Atomausstieg nach dem Fukushima-Unglück hat der damals regierenden Koalition keine Haushaltslücke, erst recht nicht in dieser Größenordnung, gerissen, weil die Kernbrennstoffsteuer kaltschnäuzig weiter erhoben wurde. Erst nach einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde der AKW-Betreiber wurde im Jahre 2017 entschieden, dass sie verfassungswidrig sei und zurückzuzahlen sei. Der Bund musste insgesamt 6,3 Mrd. € zurückzahlen.
Der Deal wurde in einem Geheimvertrag besiegelt, der dann aber doch umgehend an die Öffentlichkeit geriet. Im ersten Jahr der Regierungszeit der schwarz-gelben Koalition wurden die Grundlagen für die Laufzeitverlängerung erarbeitet, am 5. September verkündete der für die Kernkraftwerke zuständige Minister Norbert Röttgen die Pläne im Detail; am 6. September wurde der Deal („Sonderfondsvertrag“), da noch im Geheimen, unterzeichnet. Die entsprechende Atomgesetz-Novelle, mit Begleitgesetzen, verabschiedete der Deutsche Bundestag am 28. Oktober 2010 in letzter Lesung, am 1. Januar 2011 traten das Gesetzespaket und der begleitende privatrechtliche Geheimdeal in Kraft. Einige Kraftwerksbetreiber hatten ältere Kraftwerke im Verlauf des Jahres 2010 aus dem Betrieb genommen, damit sie die Ziellinie 1. Januar 2011 noch mit gültiger Betriebsgenehmigung erreichten.
Die Kraftwerksbetreiber zahlten erste Tranchen in den Sonderfonds, die „Kernbrennstoffsteuer“ trat in Kraft – mit Letzterer war die Abführung eines Teils des Anteils des Bundes aus dem Fifty-fifty-Deal für die Jahre 2011 bis 2016 umgesetzt worden. Erhebliche Nachrüstungsprogramme wurden konzipiert. Doch zehn Wochen nach dem Start, am Freitag, den 11. März 2011, ereignete sich in Japan ein sehr schweres Erdbeben. Das löste einen Tsunami vor Japans Pazifik-Küste aus, der mit seinen Wellen etliche Kernkraftwerksstandorte an Japans Ostküste überschwemmte – an einem der Standorte, in Fukushima Da-ichi mit sechs Kraftwerksblöcken, ging es schief. Da gerieten drei Blöcke außer Kontrolle, da kam es zu Kernschmelzen.
Der Grund der dreifachen Katastrophe war das Zusammenspiel von Mehrfachem, aber es war trivial, das Übliche: Es lag zunächst an einer unzureichenden Auslegung am Standort gegen den erwartbaren Wellenauflauf durch einen Tsunami aufgrund eines See-Bebens; man hatte vor mehr als 40 Jahren, als man den Standort erschloss, extra Erdmassen meterweise abgetragen, um den Standort des Kraftwerks niedriger zu legen und damit Kosten für das Hochpumpen von Kühlwasser aus dem Meer zu sparen – über 40 Jahre Betriebszeit kommt da schon einiges an Kosten zusammen. Nachdem man diese Fehlentscheidung in der Startphase des Anlagenkomplexes einigermaßen begriffen hatte, sah man aber drüber hinweg, weil bekanntlich nicht sein kann, was nicht sein darf. Der erste Block, der durchging, der älteste an diesem Standort, hatte erst kurz zuvor nach einer „Sicherheitsüberprüfung“ die Erlaubnis für eine Verlängerung seiner Laufzeit um zehn Jahre erhalten. In Deutschland war dasselbe ein halbes Jahr zuvor beschlossen worden. Hinzu trat in Japan ein erdbebenbedingter Schaden an einer Hochspannungsleitung, sodass die Versorgung mit Strom im Notfall, wie er nun eingetreten war, von außen unmöglich geworden war. Eine tragische Verkettung.
Kernschmelzen und Beinahe-Kernschmelzen hatte es in diversen Ländern schon mehrere gegeben – eine politische Bedeutung hatten die in Deutschland alle nicht gehabt. Wobei der Impuls, aus den Schäden anderswo Lehren ziehen zu wollen, schon vorbildlich und klug wäre. Diesmal aber war es anders. Das dramatische Geschehen in Japan im März 2011 sollte nun eine „politische“ Bedeutung in Deutschland haben. Das ergab sich nicht daraus, dass aus dem Unfall in Fukushima sich neue Einsichten in das Risiko von Leichtwasserreaktoren in Deutschland ergeben hätten. Die „politische“ Bedeutung ergab sich vielmehr daraus, dass für Sonntag, den 27. März, eine Landtagswahl in Baden-Württemberg im Kalender stand. Die Bilder aus Fukushima, besonders spektakulär die bildgerechten drei Wasserstoff-Explosionen, beeindruckten, so können Polit-Profis recht sicher erkennen, das Kurzfrist-Bewusstsein von Wählern.
Der in Stuttgart in einer Koalition von CDU und FDP regierende Ministerpräsident Stephan Mappus war erst Ende 2009 neu ins Amt gekommen. Also hatte er sich zu profilieren. Dazu hatte er sich im Laufe des Jahres 2010, im Vorfeld der Landtagswahl, sehr prononciert auf Bundesebene für eine Laufzeitverlängerung ausgesprochen, er hatte sich zudem als Raubein und zu kaum fachlich unterlegter großer Geste fähig präsentiert, eher unsolide taktierend. So hatte er sich mit Bundeskernkraftminister Norbert Röttgen angelegt, der für eine moderate Verlängerung der Laufzeiten älterer Kernkraftwerke eintrat – die waren eben konstruktiv bedingt weniger sicher, auch wenn die Nutzung des Komparativs in der Debatte um die Sicherheit von Kernkraftwerken aus rechtlichen Gründen unzulässig ist. Mappus hatte deshalb Röttgens Rücktritt sowie eine Verlängerung von AKW-Laufzeiten um 15 Jahre oder mehr gefordert.
In seiner demonstrativen Kernkraftbegeisterung kaufte er im Allleingang, unter Umgehung des Landtags und selbst seines Finanzministers, von EDF deren Beteiligung an Baden-Württembergs Kernkraftbetreiber EnBW zurück – offensichtlich in Spekulation auf die Extragewinne, die der Berliner Laufzeitverlängerungsbeschluss zu bringen versprach. Die Zinsen auf die Kredite für den offensichtlich überteuerten Paketkauf sollten aus den Dividenden von EnBW gezahlt werden. Dass das Vorgehen der Landesregierung verfassungswidrig war, wurde später gerichtlich festgestellt. Mappus hatte sich somit als ein Macher profiliert, der Grenzen demonstrativ missachtet, dem man gefährliche Kernkraftwerke vor der eigenen Haustür lieber nicht überantwortet. Angesichts des so aufgebauten Images war der Unfall in Fukushima zu diesem Zeitpunkt, zwei Wochen vor der Wahl, eine Art „politischer“ GAU.
Deswegen war „politisch“ zu reagieren. Auf einen GAU muss man, das sagt das Wort, groß und unkonventionell antworten. Also überlegten die Spitzen der Koalition, vermutlich auch auf Betreiben der Koalitionsspitzen in Stuttgart, befreit von jeglichem Tabu, was getan werden könne, um die mit diesem Ereignis in Japan zu befürchtende Abwahl der schwarz-gelben Koalition noch abzuwenden. Ergebnis der Beratungen am Wochenende war ein sofortiges Betriebsmoratorium für die acht älteren Kernkraftwerke – denen man ein halbes Jahr zuvor noch die Sicherheit blindlings bestätigt hatte. Man müsse die Sicherheit erneut überprüfen, wurde generell, für sämtliche Kernkraftwerke, behauptet. Für die Stilllegung der acht älteren Anlagen wurde eine Art übergesetzlicher Notstand, ein „Gebot äußerster Vorsorge“, in § 19 (3) Atomgesetz (AtG) hineinphantasiert. Zu vollziehen war die Stilllegungsentscheidung von den Ministerpräsidenten der Länder mit Kernkraftwerken. Die zierten sich wegen der absehbaren Schadensersatzforderungen – doch die waren zum Glück gerade sämtlich mit CDU/CSU-Parteibuch ausgestattet. Sie beugten sich dem Gebot des parteilichen Notstandes.
Es handelt sich um einen Vorgang von historischer Bedeutung, der zudem erklärungsbedürftig ist. Zu ihm formuliert Schäuble in seinen „Erinnerungen“ lediglich:
„nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima am 11. März 2011 mussten wir eine Kehrtwende vollziehen. … Wer sich … an die damalige innenpolitische Lage wenige Tage vor der wichtigen baden-württembergischen Landtagswahl erinnert, sollte bei Kritik an der Bundeskanzlerin faire Zurückhaltung üben. Ökonomische Rationalität und politische Stimmungen passen nicht immer zusammen. … Fakten nützen nichts, wenn Ängste einen … radikalen Wandel in der öffentlichen Meinung herbeiführen. Mit sachlicher Argumentation ist dann nichts mehr auszurichten. Der Ausstieg aus der Kernenergie entsprach einer überwältigenden demokratischen Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung. In einer Demokratie lebt die Regierung eben nicht im luftleeren Raum,“
Aus diesen Worten ist nicht zu entnehmen, warum die Regierung in Berlin und in fünf Bundesländern umgehend zu reagieren gezwungen sei. Umgehend reagiert hat die Bundesregierung aber – aus Gründen, die Schäuble übergeht. Zudem stellt er mal eben das Repräsentationsprinzip der Republik in Deutschland in Frage. Man ist versucht zu fragen, ob Schäuble wirklich ernst nimmt, dass eine Demokratie zur Voraussetzung hat, dass der Souverän, das Volk, von seinen Repräsentanten nicht an der Nase herumgeführt wird, sondern so wahrhaftig informiert wird, dass es seiner Verantwortung gerecht werden kann. Schäuble scheint die manipulierende Form der Kommunikation, des Wettbewerbs der Parteien wegen, für unverzichtbar zu halten. Und das selbst für einen Politiker, der aus seinen Ämtern ausgeschieden ist und dessen Lebensende nahe ist.
Zur parteipolitischen bzw. personellen Verantwortung bei der Atomausstiegsentscheidung von gleich auf jetzt, über’s Wochenende, hingegen findet er ziemlich klar andeutende Worte, die dem Standard-Narrativ in den Medien widersprichen:
„Diejenigen, die die Kanzlerin für die Kurskorrektur kritisieren, sollten sich … daran erinnern, dass Merkel … eher noch moderat reagierte. Es waren andere die vorpreschten: Guido Westerwelle hatte es darauf angelegt, die Initiative an sich zu reißen, als er ohne Absprache mit der Kanzlerin das Moratorium des Kernkraftbeschlusses ins Spiel brachte. Und dass der Wahlkämpfer Mappus verzweifelt in Richtung Ausstieg umsteuerte, passte ins Bild“
Das bedeutet, in Klartext übersetzt: Die coole bzw. ruchlose Atomausstiegsentscheidung am 12/13. März 2011 geht nicht auf eine Initiative von Bundeskanzlerin Merkel zurück. Es war vielmehr die FDP auf Bundesebene, der dieser „tabulose“ Gedanke kam und die das durchgesetzt hat. Sie glaubte, dass mit einem radikalen Kurswechsel-Beschluss die Koalition in Stuttgart noch zu retten sei. Das leuchtet auch ein, denn der Weiterbestand der dortigen Koalition hing daran, dass die FDP die 5-Prozent-Hürde überwand. Das ist bei dem ungewöhnlichen Wahlrecht in Baden-Württemberg besonders anspruchsvoll, denn dort werden keine Listen gewählt, sondern einzelne Abgeordnete pro Wahlkreis. Dieses in Deutschland sonst unbekannte Mehrheitswahlrecht macht es für eine kleine Partei besonders anspruchsvoll, die 5-Prozent-Hürde zu nehmen. Ohne die Vertretung der FDP im Landtag aber war die Fortsetzung einer von der CDU geführten Regierung aussichtslos.
Das Ergebnis in Stuttgart, wenn man es genau analysiert, zeigt, dass die FDP mit ihrer Kalkulation in der Tendenz richtig lag. Es hat lediglich absolut nicht gereicht. Aber es wäre fast gelungen.
5. Résümée
Untertitel des Buches ist „Mein Leben in der Politik“. Wolfgang Schäuble hat wahrlich Erfahrungen mit Politiksystemen, durch teilnehmende Beobachtung. Seine Erfahrung ist einzigartig reich, sie umfasst das Ensemble von Politiksystemen in Deutschland, auf EU-Ebene, innerhalb der westlichen Allianz und auf globaler Ebene; und noch dazu, wie sie untereinander interagieren. Er ist zudem ausgestattet mit dem Herrschaftswissen zu finanziellen Dingen, zum Steuer- und Abgaben-Wesen, zu Geldwäsche und Korruption. Eine solche Fülle von Erfahrungen mit Einblickmöglichkeiten in die Bereicherungsoptionen der herrschenden Klasse findet man selten in einer Person vereint – Peer Steinbrück kam ihm in dieser Hinsicht nahe. Klar ist zudem: Er ist ein kluger Kopf, also konnte er nicht anders, als seine Erfahrungen und Beobachtungen auch systemisch zu reflektieren.
Vor diesem Hintergrund hatte ich ein anderes Buch erwartet. Ich hatte erhofft, dass er unter diesem Titel ein Buch vorlegt, in dem auch über die systemischen Bedingungen, in der Sache erfolgreiche Politik zu machen, reflektiert wird. Insbesondere hatte ich erwartet, dass die Verfassungsfragen angesprochen werden, insbesondere die, die das System so ineffektiv machen, wie es ist. Da geht es insbesondere um die parteipolitische Fingerhakelei, zu der die Zustimmungsnotwendigkeit vieler Bundesinitiativen missbraucht werden kann, mit dem destruktiven Ziel, die Erfolgsbilanz einer Regierung durch Opposition objektiv mies werden zu lassen. Wenn faktisch Ziel des Wettkampfes im politischen System ist, die objektiven Probleme nicht zu lösen, dann leidet die Bevölkerung unter dem Missstand des Systems. Das kann nicht ernstlich noch als „demokratisches“ System gelten.
Auch hatte ich bei Schäubles Insiderwissen ein Buch erwartet, in dem Tabus und Untiefen zu Steuern, zu Geldwäsche und Korruption vertiefend angesprochen werden. „Geldwäsche“ aber ist im Text kein Stichwort, ungeachtet der seit Jahrzehnten zunehmend warnenden Berichte des Europarates zu Deutschland. „Korruption“ kommt vor, aber nur bei den „anderen“, den Oligarchen im Osten und im Welt-Fußball, nicht in Baden-Württemberg und Bayern.
Ein solches Buch, das ihm möglich gewesen wäre, hat Schäuble aber nicht geschrieben. Richard von Weizsäcker hatte dem Volk nach seinem Ausscheiden aus der Politik attestiert, dass es im faktisch vorfindlichen System zu Recht über seine Parteien verdrossen ist. Wolfgang Schäuble schließt vor all dem seinen Mund. Insbesondere äußert er sich nicht zu all dem, was an steuerlicher/finanzieller Untreue dieses Land belastet – und ein wesentlicher Grund der Verdrossenheit mit dem politischen System im aktuellen Zustand ist.
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