Wo ist eigentlich Hannelore Kraft? fragte mich gerade ein guter Freund- und dies nicht das erste Mal. Ich konnte es ihm nicht sagen, sondern nur vermuten: In der Staatskanzlei in Düsseldorf. Gleich wie, die Frage spielt darauf an, dass die Öffentlichkeit die Regierungschefin selten zu Gesicht bekommt, dass die SPD-Politikerin sich rar macht in ihrem Land, das sie seit bald sechs Jahren regiert und in dem in gut einem Jahr erneut gewählt wird. Dabei muss sie sich nicht verstecken, Hannelore Kraft ist immer noch beliebt, auch wenn sie im Moment eine schlechte Presse hat. Gerade veröffentlichte der WDR eine eigene Umfrage, wonach 85 Prozent der Schulen in NRW in einem beklagenswerten Zustand seien, Fenster und Dächer undicht, Toiletten… Schwamm drüber.
Nicht die erste kritische Stimme. „Die Bekümmerte“, so hieß der Titel einer Geschichte der „Süddeutschen Zeitung“ über Frau Kraft, die auffällig still gewesen sei nach der Silvesternacht in Köln. „Des Kümmerns müde“, titelte am Wochenende „Der Spiegel“ und zog eine für die Regierung Kraft „ernüchternde Bilanz, Wirtschaftsforscher attestierten gar eine „schleichende Deindustrialisierung“. Eine Hiobsbotschaft für ein Land wie NRW, das sich immer als Kraftzentrum der Republik verstand. Sicher, in einem Jahr kann viel passieren und die CDU-Opposition ist schwach aufgestellt, der CDU-Herausforderer Amin Laschet ein lächelndes Leichtgewicht, vor dem zwar kein Mikrofon sicher ist, dem aber selbst die eigenen Leute nicht viel zutrauen. Und doch ist eine Zwischenbilanz dieser Art nicht von der Hand zu weisen, zumal sie von Medien kommt, die nicht unbedingt zur konservativen Kampfpresse in NRW gezählt werden können.
Reporterlegende Bruno Moravetz
Der Spruch „Wo ist eigentlich Frau Kraft“ erinnert an eine legendäre Reportage des ebenso legendären Fernseh-Sportreporters Bruno Moravetz, der bei den Olympischen Winterspielen in Lake Placid 1980 den 15-Kilometer-Langlauf kommentierte, bei dem der Sauerländer Jochen Behle- der spätere Bundestrainer- zwischenzeitlich und für viele überraschend gut im Rennen lag und damit auch im Bild der Fernsehkamera. Dann verschwand der Langläufer Behle aus dem Blickpunkt des Reporters und der fragte immer wieder mit seiner sonoren Stimme, für Millionen Fernseh-Zuschauer hörbar: Wo ist Behle? Nun ist Hannelore Kraft zwar eine sportliche Frau, die Jahr für Jahr das Sportabzeichen mit Erfolg ablegt und deren Lieblingsfußballklub Borussia Mönchengladbach ist, von der aber nicht bekannt ist, dass sie in der Loipe eine gute Figur macht. Die oben gestellte Frage ist für sie nicht neu, neu ist, dass Medien sie stellen.
Zurück zum Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Darin heißt es: Bei „politisch relevanten Geschehnissen-wie der Silvesternacht in Köln- wäre ihr das Gespür für den Augenblick, fürs Timing und für handwerkliche Präzision abhanden gekommen“. Ziemlich happig. Und ein Absatz weiter ist zu lesen: „Einst als Kanzlerkandidatin und Zukunftshoffnung der SPD gefeiert, wirkt sie heute, mit 54 Jahren, oft blass, mürrisch und angespannt.“ Dicker Tobak. Ein Urteil, das man aus dem Mund von Landeskorrespondenten schon mal zu hören bekam, allerdings auch mehrfach von Kollegen, die eher ihre Sympathien dem schwarzen politischen Lager im Lande, der CDU, widmen. Aber auch aus Berlin sind klagende Worte zu hören, sie trete sehr selten auf in der Hauptstadt, sei kaum für Hintergrundgespräche zu haben und –eben- mache sich rar. Das darf sie, keine Frage, darf sich dann aber auch nicht wundern, wenn das mit kritischen Worten begleitet wird.
Die Kölner Ereignisse hängen ihr nach
Das mit Köln hängt ihr nach. Dass sie so spät reagierte und dann zuerst in eine Talkshow ging, anstatt sich in Köln dem Publikum zu zeigen und zu demonstrieren, dass sie die Sorgen vor allem der Frauen teilt und ihrem Innenminister Jäger Beine macht, damit die mit den Vorkommnissen auf der Domplatte einhergehende Verunsicherung der Bürger gestoppt wird. Denn das ist eine Folge von Diskussionen über No-Go-Areas, von Straßen, die angeblich von Drogenhändlern und anderen kriminellen Subjekten kontrolliert würden, dass Menschen sich nicht mehr sicher fühlen.
Dabei ist Hannelore Kraft eine Politikerin, die geerdet ist, die gerade bei den einfachen Bürgerinnen und Bürgern des Landes ankommt. Sie spricht deren Sprache, gerade aus, mitfühlend, wenn es das Ereignis verlangt, wie bei der Trauerfeier nach der Loveparade in Duisburg oder nach dem schrecklichen Flugzeug-Unglück in Frankreich, bei dem auch viele NRW-Bürger, darunter eine Schulklasse aus Haltern ums Leben kamen. Sie trauerte unlängst mit den Kumpeln, die ihren Job verloren, weil ihre Zeche dicht gemacht wurde. „Sie umarmte das halbe Land, die große Landesmutter“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“.
Sie redet nicht so verschwurbelt
Damals, 2010 im Mai, klang sie anders, kraftvoll und kämpferisch. „Ich will Ministerpräsidentin werden“, rief sie ihren Freundinnen und Freunden am Wahlabend in der SPD-Parteizentrale zu einem Zeitpunkt zu, da noch nicht sicher war, wer denn das bevölkerungsreichste Land künftig regieren werde. Am Ende machte sie es, bildete zusammen mit den Grünen eine Minderheitsregierung, die sich hin und wieder ihre Mehrheit im Parlament holen musste. Den Menschen im Land gefiel ihre natürliche Art, nicht so verschwurbelt daherzureden, wie es ihre männlichen Kollegen gern tun. Sie geht auf die Menschen zu. Nachdenklich, wird sie zitiert, sei sie geworden, vielleicht nachdenklicher, was ja nicht verwundern kann angesichts der Probleme, derer sie Herr/Frau zu werden versucht, mal mit, aber auch oft genug ohne Erfolg.
NRW, das ist nun mal der Dauerzustand „Strukturwandel“, wie es ihn zumindest im Westen Deutschlands sonst nicht gibt. Man nehme nur das Ruhrgebiet, wo die meisten Städte verschuldet und in einem Zustand sind, den niemand übersehen kann: Kaputte Straßen und Brücken, nicht anders die Schulen, Staus ohne Ende, dazu die hohen Schulden der Städte und des Landes und die Arbeitslosigkeit. Und natürlich sind die Folgen der Flüchtlingskrise in Europa auch und gerade in NRW täglich zu besichtigen. Dass sie das alles bedrückt, ja, aber wie sieht ihre Politik aus, damit fertig zu werden? „Viel Befindlichkeit“, hat die SZ bei der Politikerin aus Mülheim ausgemacht, „aber wenig Politik“ gesehen in diesen Tagen.
Kein Kind zurücklassen
Was ist aus der Zauberformel von Hannelore Kraft-Kein Kind zurücklassen- geworden? Beste Bildung für alle, sollte das doch wohl heißen und bedeutet in Zahlen: 26 Prozent der Kinder unter drei Jahren haben einen Betreuungsplatz, nur 26 Prozent.
Die Kölner Ereignisse werden ein parlamentarisches Nachspiel haben. Die Opposition hat, das ist ihr gutes Recht, einen Untersuchungsausschuss durchgesetzt. Der wird zwar kaum Neues ermitteln, aber er wird der Opposition die Gelegenheit geben, den Innenminister immer wieder vor den Ausschuss zu zitieren, vor den auch Hannelore Kraft geholt werden wird. Der Sinn des Unternehmens: den Finger in die Wunde zu legen, den Medien Schlagzeilen zu liefern, wie es um die Sicherheit des Landes bestellt ist. Vor allem Ralf Jäger will die Opposition aus dem Amt schießen, den mächtigen Mann in der NRW-SPD, danach könnten sie noch direkter Frau Kraft angreifen. Das ist das Ziel, alles andere ist Folklore.
Sie sorgt sich um die Demokratie
Dann ist da noch ihr Kabinett, oder zumindest der SPD-Teil der Regierungsmannschaft. Vor einiger Zeit wurden neue Minister ernannt, darunter eine Familienministerin. Heute kennen nur wenige ihren Namen. Oder nehmen wir die Wissenschaftsministerin. Früher war das ein Thema der SPD, das mit dem Aufstieg der Menschen an der Ruhr zusammenhing, mit dem Abitur, das man nachmachte und dann studierte. Die SPD und die Arbeiterkinder, die es mal besser haben sollten. Vorbei, kein Thema mehr für die Politik. Oder nehmen wir den Wirtschaftsminister, über den es in seiner Zeit als Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion hieß, er sei nicht präsent. Dem ist er gerecht geworden. Anders gesagt: Aktiv wirkt nur der Verkehrsminister Groschek, der jeden Tag unterwegs ist, der sich den Problemen stellt und ihnen nicht aus dem Weg geht. Das ist ein bisschen wenig für ein ganzes Kabinett.
Müde, gar amtsmüde sei sie nicht, das sei eine Erfindung der Opposition, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“. Nachdenklich sei sie, weil sie sich sorge um die Demokratie, darum, dass die Menschen nur noch Filme und Bilder mit dem Handy empfingen und keine Zeitungen mehr läsen mit der Folge, dass sie mit ihren Botschaften nicht mehr durchdringe, weil sie kompliziert seien und länger als ein Tweet. Kurze Frage eines Beobachters der Politik: Warum gehen Sie nicht zum Volk und reden mit ihm über all das, was viele bedrückt. Nicht einmal oder zweimal, sondern als neue Art der Politik, um diese und sich selbst auch verständlich zu machen. Ein erfolgreicher Slogan hieß einst: Wir in NRW. Johannes Rau verdeutlichte damals das neue Zusammengehörigkeitsgefühl und Selbstbewusstsein des sich wandelnden Stahl- und Kohlelands NRW.
Bildquelle: NRW.de, Foto FKPH
.