Er war in den 80er und 90er Jahren das sozialpolitische Gesicht der SPD, ein Schwergewicht, das für seine Überzeugungen stand. Wenn er das Wort zum Thema mehr soziale Gerechtigkeit erhob, wenn er sich im Bundestag zu Löhnen und Gehältern, zur Rente, zur Gesundheit äußerte, dann ging es für ihn um ididentitätsstiftende Fragen für die deutsche Sozialdemokratie. Und da durfte man, durfte der wortgewaltige SPD-Bundestagsabgeordnete und Fraktionsvize unter Hans-Jochen Vogel, Rudolf Dreßler, nicht zimperlich sein, um sich Gehör zu verschaffen. Und das tat er. Mit seinem parteipolitischen Gegenüber, Norbert Blüm, lieferte er sich heftige, verbale Auseinandersetzungen, in denen die Fetzen flogen. Wir, Journalisten in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn, die sich mit Sozialpolitik befassten und an einem wie ihm nicht vorbeikamen, nannten Rudolf Dreßler Arbeiterführer, weil er sich für die Sache der Arbeiter, der Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeiter in die Bresche warf. Er war und ist ein Mann mit Stallgeruch. Einer mit Haltung. Am 17. November wird er 80 Jahre alt. Der Blog-der-Republik hat mit ihm gesprochen.
Um das mit Blüm gleich zu Ende zu bringen. Sie waren etwa aus gleichem Holz: unbequem, traten für ihre Überzeugungen ein, was nicht immer leicht war, denn ihre eigentlichen Gegner waren oft genug mächtige Arbeitgeber, Unternehmer, die ihren Einfluss auch in den Parteiführungen versuchten geltend zu machen. Beide liebten das offene Wort. Aber wenn die Debatte zu Ende war, war auch Schluß mit den Attacken, dann redeten sie wieder miteinander. Man darf nicht vergessen, dass es die Pflegeversicherung ohne Blüm und vor allem ohne einen wie Rudolf Dreßler zumindest in dieser Form nicht geben würde. Aber auch die Rentenreform trug beider Handschrift. Ja, sie spielten nicht falsch, sie konnten miteinander, später wurden sie Freunde.
Im November 1940 in Wuppertal geboren, erlebt der Junge die Schrecken des Zweiten Weltkrieges, hat heute noch die Bilder von den Bombenangriffen auf die Stadt an der Wupper vor Augen: brennende Häuser, sah, wie ausgebombte Familien bei ihm zu Hause Unterschlupf fanden. Der Vater kehrt schon 1945 aus kurzer US-Kriegsgefangenschaft heim. Später fragt der Sohn den Vater über den Krieg aus und er hört, dass dieser im Untergrund gegen die Nazis gearbeitet hat und verraten wurde mit der Folge, dass er strafversetzt wurde an die Front. Gelinde gesagt waren diese Soldaten eine Art Kanonenfutter. Der Vater hat Glück, überlebt. Eindrücke eines Kindes über den Krieg, der weltweit über 55 Millionen Menschenleben forderte, ein Krieg, von Nazi-Deutschland angezettelt. Dass der Vater sich wenig später in der Gewerkschaft engagiert und Mitglied der SPD wird, ist fast eine logische Folge.
Schon als Kind wollte er Hans Böckler werden
Die Zeit nach dem Krieg ist heute für viele kaum noch vorstellbar, deshalb ein paar Anmerkungen aus der Zeit des Überflusses. Mangel ist angesagt, es gibt wenig zu essen, es herrscht Armut, Häuser und Wohnungen sind vielfach zerstört, man lebt in Trümmern ohne Heizung, muß schauen, dass man über die Runden kommt. „Ich denke nicht mit Bitterkeit zurück“, zieht Dreßler ein Fazit, „denn ich hatte Glück, dass meine Eltern beide berufstätig waren“ . Der Vater wird Mitglied der IG Metall, zum Betriebsrat gewählt, erringt dadurch ein wenig Macht und Mitsprache, macht sich selbständig, erwirbt ein Hotel, indem Gäste aus Gewerkschaften und der Sozialdemokratie verkehren, Menschen, die er durch seine Tätigkeit kennengelernt hat. Das mit den Gewerkschaften färbt ab auf den Sohn, der schon als junger Knabe auf Fragen, was er denn werden wolle, antwortet (so seine Mutter): „Hans Böckler.“ Böckler war der erste DGB-Chef nach dem Krieg. Zu hören sind diese Bekenntnisse des Rudolf Dreßler im übrigen auch in einer zurückliegenden bemerkenswerten WDR-Sendung von Marianne Bäumler, die heute für den Blog-der Republik schreibt.
Wie wird man eigentlich Politiker? Rudolf Dreßler macht eine Ausbildung als Schriftsetzer. Das waren in der Branche immer einflussreiche Menschen, die für ihre Sache kämpften. Letzteres war stets ernst und wörtlich zu nehmen. Ich habe das erlebt auf der anderen Seite, als ich Journalist wurde. Sie waren selbstbewusst, ließen sich nicht einfach zur Seite schieben. Dreßler will Mitglied der IG Druck und Papier werden, doch sein Antrag wird mit der Begründung abgelehnt-oder besser zurückgestellt-, er möge doch in drei Monaten wieder kommen. Also eine Art Bewährung, so waren die Sitten damals. Es ist die Hochzeit der Gewerkschaften. Drei Monaten später wird er Gewerkschaftsmitglied. Er wird Betriebsrat, weil er Benachteiligungen hasst, weil er sich ärgert über jede Form der Diskriminierung, Herabsetzung, der Schlechter-Bezahlung. Wörtlich Dreßler: „Das hat mich immer aufgeregt.“ Dann erreicht die Druck-Industrie die sogenannte moderne Zeit, der Bleisatz wird ersetzt durch Fotosatz- und plötzlich werden bestimmte einst begehrte Berufe für überflüssig erklärt. Es folgt ein harter Arbeitskampf, an der Spitze auch Betriebsratschef Rudolf Dreßler. „Wir wollten die Entwicklung nicht aufhalten, aber wir wollten erreichen, dass der Übergang organisiert wird, dass die Setzer umgeschult werden konnten, damit sie nicht arbeitslos wurden, sondern eine Perspektive für ihr weiteres Leben erhielten.“ Ich kann mich erinnern, als einstige Setzer an den Computern saßen und die Texte der Redakteure schrieben. Es ging um existenzielle Fragen, sagt Dreßler noch heute. Recht hat er. Der Widerstand der Verleger war nicht ohne, einige versuchten, die Reihen der Gewerkschaften zu spalten, indem sie Leute herauskauften und sie ins Verlags-Management versetzten. Es war ein Kampf, der Narben hinterließ. Und mit dazu beitrug, dass Rudolf Dreßler 1969 in die SPD eintrat. „Ich wollte mich politisch betätigen.“
Wer über die SPD schreibt und über Wuppertal, kommt an Johannes Rau nicht vorbei, der zunächst Oberbürgermeister der Stadt war, dann in den Landtag wechselte, Minister wurde, Ministerpräsident, stellvertretender Parteivorsitzender und viel später Bundespräsident. „Eine Institution in Wuppertal, in NRW, in der SPD, im Bund,“ erzählt Rudolf Dreßler mit großem Respekt und Anerkennung. Dreßler kandidiert für den Bundestag, gewinnt den Wahlkreis sechsmal direkt. Seine Gegner: immerhin Hans-Dietrich Genscher, der spätere CDU-Generalsekretär Peter Hintze, für die Grünen tritt Trude Unruh an, eine streitbare Dame, die dann zu den Grauen wechselt. Er lernt Willy Brandt kennen, den Übervater der SPD. Wahlkampf 1983, Helmut Schmidt hat die Macht in Bonn verloren, Helmut Kohl ist Kanzler, wie immer bei Wahlkämpfen tritt Willy Brandt auch in Wuppertal auf, der Stadt, in der Rau wohnt und aus der Friedrich Engels stammte. Johannes Rau soll in einem kurzen Grußwort den großen Vorsitzenden ankündigen, dessen Landung per Hubschrauber sich aber verzögert. Die Polizei informiert Dreßler darüber, der flüstert Johannes Rau die Verspätung Brandts zu. Also muss Rau weiter reden; erneuter Anruf der Polizei, weitere Verspätung, das Spiel wiederholt sich mehrfach. Nach 65 Minuten ist Brandt endlich da, Rau hat die ganze Zeit geredet, anscheinend ohne Probleme. Ja, das konnte er, gerät Dreßler fast ins Schwärmen über den Sozialdemokraten, der ein Menschenfischer war.
Er wird Botschafter, nicht Minister
20 Jahre sitzt Rudolf Dreßler im Bundestag, davon 16 Jahre auf der Oppositionsbank, den CDU-Kanzler Kohl vor Augen, erlebt die Kanzlerkandidaten Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau, Oskar Lafontaine, Rudolf Scharping und dann ‚Gerhard Schröder, der schließlich die SPD wieder ins Kanzleramt führt. Wir haben uns damals gefragt, ich auch, warum Dreßler nicht Arbeitsminister wurde, sondern Walter Riester von der IG Metall. Rudolf Dreßler wird es ähnlich ergangen sein. Aber am Ende wird er froh gewesen sein, dass ihm dies erspart worden ist. Aber der Reihe nach: In der erwähnten WDR-Sendung antwortete er auf Fragen so: „Ich habe dem Schröder nicht verübelt, dass ich nicht Minister geworden bin. Ich habe ihm verübelt, dass ich das aus der Zeitung erfuhr.“ Das habe ihn „gekränkt“ und das sei auch „charakterlich inakzeptabel“. Erst auf Veranlassung von Oskar Lafontaine habe es ein klärendes Gespräch gegeben. Schröder, fügt Dreßler hinzu, sei dazu nicht fähig gewesen.
Rudolf Dreßler wird stattdessen Botschafter in Israel (2000 bis 2005), ein Wechsel, den er nicht bereut, denn die Sozialpolitik der Schröder-Regierung hätte ihn mehr als herausgefordert, er hätte sie nicht akzeptieren können und hätte sich verschlissen. Diese Sozialpolitik empört ihn noch heute. Da ist der sogenannte Paradigmenwechsel in der Rente, nämlich die Auflösung der hälftigen Beitragsfinanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer und damit für Dreßler der Beginn des Endes unseres Rentensystems. Den Arbeitnehmern seien die Beiträge zugemutet worden, nicht aber den Arbeitgebern. Der Anfang neoliberaler Politik des SPD-Kanzlers Schröder. Wörtlich Dreßler: „Man denke doch nur daran, dass man der Banken-Welt einen 500-Milliarden-Euro-Kredit gewährte und dafür nur zwei Stunden brauchte.“ Die Agenda-2010-Politik der Schröder-Regierung habe das deutsche Sozialversicherungssystem auf den Index gestellt, ein Dilemma, das die ganze „Verkommenheit dieser Politik“ deutlich gemacht habe. Dass er mit der Politik von Gerhard Schröder heute noch hadert, verwundert nicht. Dessen neoliberale Politik habe zur Folge gehabt, dass die SPD zehn Millionen Wählerinnen und Wähler und 400000 Mitglieder verloren habe, sechs Ministerpräsidenten der SPD hätten dazu ihre Mehrheiten eingebüßt.
Von der heutigen SPD-Führung wünscht sich Rudolf Dreßler wieder eine identitätsstiftende Politik. Im Gespräch mit dem Blog-der-Republik betont er: „Meine Partei muss begreifen, dass sie für eine neoliberale Politik nicht gebraucht wird, da gibt es längst andere Parteien, die dafür bekannt sind. “ Als Beispiel erzählt er eine Geschichte, die er von einem anderen Sozialdemokraten gehört hat. Es fährt ein Bus vor, auf dem steht „SPD“ und als Ziel „soziale Gerechtigkeit“. Aber in den Bus steigt niemand ein, weil das Ziel unglaubwürdig ist. Heißt in der Sprache von Rudolf Dreßler: „Im Sinne von Willy Brandt mehr Demokratie wagen, ergänzt um den Zusatz mehr Gerechtigkeit wagen. Es kann doch nicht richtig sein, dass ein paar Dutzend Milliardäre mehr haben als rund 40 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger. Es kann nicht gerecht sein, dass in einem reichen Land wie Deutschland die Alters- und Kinderarmut steigt, dass ein Fünftel der Jobs von Niedriglöhnern erledigt wird. Olaf Scholz hat Recht mit seiner Feststellung: Die starken Schultern müssen mehr tragen als die schwachen, die Reichen müssen stärker zur Kasse gebeten werden. Wir brauchen die Vermögensteuer.“
Damit das nicht falsch verstanden wird: Rudolf Dreßler geht es gut. „Meine Frau und meine zwei Kinder geben mir keine Gelegenheit zum Jammern und Meckern.“ Was aber nicht bedeutet, dass er politisch Ruhe gibt. Er sollte sich weiter einmischen