Als der Zehnkämpfer Niklas Kaul im letzten Wettbewerb, dem 1500-m-Lauf, das Feld hinter sich lässt und auf die Zielgerade biegt, feuern ihn Tausende von begeisterten Zuschauern auf den gut gefüllten Rängen des Münchner Olympiastadions an. Sie spüren, der Athlet will unbedingt gewinnen, er kämpft, holt die letzten Reserven aus seinem Körper und wird Europameister. Tolle Leistung, harter Kampf, verbissen, alle Kräfte mobilisiert. Dann der 100-m-Endlauf der Frauen und der hauchdünne Sieg der deutschen Meisterin Gina Lückenkemper, die ihre Gegnerinnen, die eigentlich bessere Zeiten in ihrer Laufbahn erzielt haben, buchstäblich niederringt, Millimeter um MIllimeter und sich dann ins Ziel stürzt, sich dabei verletzt an der Hand und am Knie. Tosender Beifall, Ovationen. Wann hat es das das letzte Mal gegeben bei der Leichtathletik?
Der König der Athleten heißt der Zehnkampfsieger, der 100-m-Sprint ist die Königsdisziplin. Die Leichtathletik wird gern die Königin des Sports genannt, auch wenn sie in Deutschland eher ein Dasein am Rande fristet. Wer interessiert sich schon für das Laufen, Springen, Werfen? Zu den Fußballspielen der Bundesliga strömen Zigtausende von Zuschauern, sie zahlen ein Heidengeld an Eintritt und bekommen dafür nicht immer Spitzensport geliefert. Aber nicht wenige Zuschauer können sich in den Arenen von Dortmund, Schalke oder Köln und München austoben, schreien, pfeifen, ihren Lieblingsspielern zujubeln.
Kicker kassieren Millionen
Die Kicker, selbst die Mitläufer, kassieren Riesen-Summen, sie sind oft Millionäre, ziehen durch die Welt und heuern heute in Madrid an, morgen in London oder Paris und in München oder Leipzig. Eine Bindung zum Verein wird zwar immer wieder gespielt, indem die Spieler auf die Brust ihres Trikots zeigen, dabei sind sie in Gedanken längst ein paar Hundert Kilometer weiter, weil dort noch besser bezahlt wird. Berufssport halt. Warum wird so viel Werbegeld dem Fußball hinterhergeworfen? Und nicht der Leichtathletik?
Fragen Sie mal den Zehnkampf-Europameister Niklas Kaul, was er so verdient durch den Sport. Ich weiß es nicht, bin mir aber sicher, dass dieser bescheidene Held des Stadions, der in zwei Tagen zehn Disziplinen erledigen muss, 100 Meter, Weitsprung, Kugelstoßen, Hochsprung, 400 Meter, 110-m-Hürden, Diskurswerfen, Stabhochsprung, Speerwurf, 1500 Meter, nicht mal einen Bruchteil dessen verdient, was ein Fußballspieler kassiert. Und trotzdem quält sich einer wie Kaul das ganze Jahr, um dann bei Sportfesten, deutschen Meisterschaften, Europameisterschaften oder OIympischen Spielen sich mit anderen zu messen, um zu gewinnen oder zumindest aufs Treppchen zu gelangen. Respekt vor Kaul und den anderen, Hut ab. Ich muss gestehen, dass mich Fußball zunehmend langweilt.
Gold im Zehnkampf, Gold im 100-m-Lauf der Frauen, Silber im Diskuswerfen der Frauen, nur ein paar Beispiele, die zugleich belegen, dass deutsche Leichtathleten nur in Ausnahmefällen Spitze sind und oft hinterherlaufen, das ist auf europäischer Ebene so und das ist in der Welt des Sports noch deutlicher. Wo sind die 100-m-Läufer? Wo die über eine Stadionrunde, also die 400 Meter, wo sind die Hürdenläufer über 110 Meter oder 400 Meter, wo die Mittelstreckler über 800 Meter, 1500 Meter, die 5000 Meter? Wo die Hochspringer? Die paar Medaillen jetzt in München täuschen nicht darüber hinweg, dass wir in vielen Bereichen nicht mehr zur Spitze gehören. Das war nicht immer so.
Fütterer, Hary, Germar, Lauer
Wer erinnert sich noch an Heinz Fütterer, den Sprinter vom Karlsruher SC, an Armin Hary, den Olympiasieger, an Manfred Germar, den Kölner, der als Schlußläufer der 4×100-m-Staffel manches Rennen auf den letzten Metern entschied. Hary gewann in Rom die 100 Meter, die Staffel siegte bei den Spielen in der ewigen Stadt. Unvergessen ist Martin Lauer, der damalige Weltrekord-Inhaber über 110-m-Hürden in 13,2 Sekunden. Und wer Lauer und Germar erwähnt, denkt gleich an den ASV Köln, einen großen und berühmten Leichathletik-Klub in der Domstadt.
Oder denken Sie an Heide Rosendahl, an Ingrid Mickler-Becker, Annegret Irrgang(die spätere Annegret Richter)alle drei Sprinterinnen, die die 4×100-m-Staffel gegen das als unschlagbar eingestufte Damen-Quartett aus der DDR bei den Spielen in München gewannen. Oder nehmen wir Hildegard Falck, die Siegerin über 800 Meter in München in 1:58,6 Minuten. Wer von den Frauen in Deutschland läuft heute eine solche Zeit? 50 Jahre danach. Anderes Beispiel: Ulrike Meyfarth, die Hochspringerin, die zweimal Gold gewann, 1972 in München und 1984 in Los Angeles. Die schon erwähnte Annegret Richter aus Dortmund, Olympiasiegerin über 100 Meter, der 5000-m-Olympiasieger Dieter Baumann, oder Thomas Wessinghage, ein Klasse-Mittelstreckler, Harald Norpoth, der die 1500 Meter und die 5000 Meter lief. Über 400- m-Hürden war Harald Schmid jahrelang Weltspitze. Die 400-m-Strecke zählte über Jahre zu den Strecken, wo die Deutschen oftmals vorn waren, Carl Kaufmann-als erster Europäer unterbot er die 45 Sekunden- und Manfred Kinder sind zwei Beispiele. Oder nehmen wir den Olympiasieger über 800 Meter, Nils Schumann, die Hochspringer Dietmar Mögenburg und Carlo Thränhardt, beide hatten Bestleistungen von 2,39 Meter vorzuweisen. Willi Wülbeck fällt mir noch ein, der mit einer Bestleistung über 800 Meter in 1:43,65 Minuten bei der WM in Helsinki Gold gewann. Oder Patriz Ilg, der jahrelang zu den weltbesten 3000-m-Hindernisläufern zählte. Es sind nur einige von vielen, die ich hier erwähne, ohne andere Weltklasse-Athleten vor den Kopf stoßen zu wollen.
Wo sind die Stars heute?
Warum hinkt die deutsche Leichtathletik hinterher? Wo sind die Stars, die Europameister, die Olympiasieger, Weltrekordler? Trainieren wir zu wenig, falsch? Gibt es zu wenige Anreize für junge Leute, den harten Weg des Leistungssportlers einzuschlagen? Es dauert schließlich Jahre, ehe sich der Erfolg einstellt? Wenn er sich einstellt. Verdienen sie zu wenig bei der Bundeswehr? Warum gibt es keine Klasse-Sprinter mehr, keine Mittelstreckler, keine Hochspringer, Hürdenläufer? Brauchen wir mehr oder andere Stützpunkte, sogenannnte Leistungszentren?Müssen die Prämien für Gold, Silber und Bronze erhöht werden, damit sich die Quälerei auf der Aschenbahn und all die Entbehrungen lohnen?
Leichtathletik kann spannend sein, wie gerade in München zu sehen. Die Läufer und Werfer reißen die Zuschauer mit, die vor Begeisterung aufspringen und die Arme hochreißen, als hätten sie selber gewonnen. Aber München, das sind Feiertage, Europameisterschaften, dazu das sommerliche Wetter. Man wünschte mehr solcher Tage. Mehr Europameister, mehr Siegerinnen vom Typ Lückenkemper, mehr Kämpfer vom Schlage eines Kaul. Ich weiß, Laufen ist anstrengend, schweißtreibend. Der deutsche Sieger beim Marathonlauf von München, Richard Ringer, ist mit 33 Jahren ein alter Hase, wenn er mir den Vergleich gestattet. Toll, wie er quasi auf der Zielgeraden seinen vor ihm laufenden Konkurrenten überholte und diesem den Sieg wegschnappte. Laufen, ja die ganze Leichtathletik kann so schön sein. Sie hätte mehr Aufmerksamkeit der Medien verdient, der Politik, mehr Zuschauer. Weil sie die Königin des Sports ist.
Der Autor macht es sich etwas einfach, wenn er die Stars von 1960 bis 1984 mit denen von heute vergleicht. Waren es wirklich viel mehr als heute? Wahrscheinlich hat er die alten in bester Erinnerung (so wie ich auch) und glaubt den „kritischen“ Autoren von heute, die den Niedergang der deutschen Leichtathletik herbeischreiben. Interessant wäre es, die Weltbestenlisten der ersten 100 oder noch mehr AthletInnen mit Punkten zu versehen und dann zu schauen, wie es aussieht. Da würde sich die Tiefe des Nachwuchses zeigen.
Aber tatsächlich kämpfen ja nicht nur die Leichtathletik um Anerkennung und Sichtbarkeit, sondern auch andere, alte, ehrwürdige Sportarten. Und den alten fehlt der Nachwuchs. Es ist nicht mehr hip, einen Speer zu schleudern oder so etwas verrücktes wie Zehnkampf zu machen.
Übrigens gab es 1960 kaum Afrikaner in der Leichtathletik und weniger Doping. Auch das kann den Blick trüben.