Der Rausch ist noch nicht verflogen. Das Siegtor in der 117. Minute und der Ausgleich neun Minuten zuvor haben alle Träume wieder aufleben lassen. „Wir fahren nach Berlin“ hallte es – nein leider nicht – durch das Stadion, sondern nur aus den Autos, die sich spontan zu einem Korso durch den Essener Norden und die Innenstadt gefunden hatten. Erinnerungen werden wach. An Penny Islacker, der heute 95 Jahre alt geworden wäre und seine Legende gewordenen Tore für Rot-Weiß. Wie er am 01. Mai 1953 im Finale gegen Alemannia Aachen nach einem feinen Pass von Willi Köchling das 1:0 im ersten Pokal Finale nach dem fürchterlichen Krieg schoss und die Roten am Ende mit 2:1 gewannen. Erinnerungen, die längst verblasst sind und in den zurückliegenden Jahrzehnten so übermächtig geworden waren, dass sie jede Hoffnung erdrückten. Selbst die Autosuggestion mit Sätzen wie „die Hoffnung stirbt zuletzt“, die wir im Revier gerne zitieren, um uns die triste Gegenwart und die ewige Unfähigkeit, daran etwas zu ändern, schönreden, halfen nicht mehr weiter.
Wie oft hatte ich gehofft, dass sich etwas änderte. Seit 1966, dem ersten Aufstieg in die erste Bundesliga, war ich infiziert. Von einer Krankheit, die unheilbar ist. Immer wieder Hafenstrasse, immer wieder „Adiole“, vor jedem Spiel und nach jedem Tor. Trotz der Abstiege loderte diese Hoffnung und blieben die Fans. Selbst in der vierten Liga haben wir mehr Zuschauer als die meisten Zweitligisten. Ist bei uns im Stadion, selbst im Neuen, mehr los als bei den meisten Bundesligisten. Die legendäre „Westkurve“ ist zwar inzwischen eine Ostkurve, aber sie heißt natürlich weiter „Westkurve“. Andere würden das Realitätsverweigerung nennen, für uns ist das normal. Ich gehe auch in der vierten Liga zu Rot-Weiß, wohin denn sonst!
Einmal infiziert, immer infiziert. Aber sie müssen rennen. Ich erinnere mich an Zeiten in der zweiten Liga, da war ich für einige Zeit im Aufsichtsrat mit verantwortlich und habe die Schattenseite des Sports erlebt. In der zweiten Liga – ja da waren wir gleich zweimal – hatten wir Spieler mit satt sechsstelligen Gehältern, denen wir ihre Häuser in Düsseldorf und die Erziehung der Kinder auf Privatschulen bezahlen mussten, damit sie für uns aufliefen. Und dann versagten sie beim entscheidenden Elfmeter! Sie zogen weiter, wir stiegen ab und es blieb der Satz: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“.
Immerhin, im Pokal haben wir mehr als einmal Geschichte geschrieben. Der legendäre Sieg an der Hafenstrasse gegen den Verein aus Herne West, damals wie heute noch Bundesligist und Udo Lattek als Trainer. Einer von uns lief kurz vor Schluss allein auf das Schalker Tor zu, selbst der Torwart (Jens Lehmann) war überspielt und, ich glaube es war Jörg Lipinski, wartete kurz vor der Linie, drehte sich kurz um – und schob dann ein! Ich war später so heiser, dass die Kollegen im WDR meine Kommentare zu ernsthaften Themen am nächsten Tag lesen mussten. Was die nicht wussten: gibt es Wichtigeres als so einen Sieg: Nein!
Und dann natürlich das Pokalendspiel in Berlin 1994. Unsere legendäre Truppe brachte Werder Bremen mit Otto Rehhagel an der Seitenlinie für eine kurze Zeit in der zweiten Halbzeit an den Rand der Niederlage, was ein Richard von Weizsäcker zwei Reihen vor mir kaum verstehen konnte, der Alarm der Essener im Stadion und vorher in der Stadt waren ihm fremd. In solchen Momenten blitzt die Hoffnung wieder auf, sind all die schmachvollen Niederlagen vergessen, die so viele geworden sind, dass die Hirnabteilung mit dem Verdrängen kaum mehr nachkommt. An einem Abend wie Dienstag wird all das wach, rufen die Fans „Wir fahren nach Berlin“ und es ist in solchen Momenten keine Fata Morgana mehr. Es könnte tatsächlich passieren. Aber: noch wichtiger ist ein Sieg am Samstag gegen den BVB. Ich glaube fest daran!
Zum Autor: Jürgen Zurheide ist Radiomoderator beim Deutschlandfunk, geboren in Essen.
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