Am 3. Februar 2021 wäre Hans-Jochen Vogel 95 Jahre alt geworden. Bis zu seinem Tod Ende Juli letzten Jahres blieb er ein aufmerksamer und engagierter Begleiter der Politik und Ratgeber seiner Partei, der SPD. An den Rollstuhl gefesselt und so schwer es ihm sein – wie er selbstironisch sagte – „ ständiger Begleiter Herr Parkinson“ auch machte, schrieb er noch 2019 monatelang an einem Buch über eine seiner Herzensangelegenheiten: „Mehr Gerechtigkeit – Wir brauchen eine neue Bodenordnung – nur dann wird auch Wohnen wieder bezahlbar“. Dieses Buch enthält eine Art politisches Testament: „Grund und Boden ist keine beliebige, je nach Bedarf produzierbare oder auch verzichtbare Ware, sondern eine Grundvoraussetzung menschlicher Existenz. Er ist unvermehrbar und unverzichtbar. Er darf daher nicht dem unübersehbaren Spiel der Marktkräfte und dem Belieben des Einzelnen überlassen werden“ .
Oberbürgermeister von München
Im jungen Alter von 34 Jahren wurde der gebürtige Göttinger – wie er von sich selbst jedoch sagte „Exil-Münchner“ – 1960 zum Oberbürgermeister der bayerischen Landeshauptstadt gewählt. Seine 12-jährige Amtszeit wird in der Öffentlichkeit vor allem mit der erfolgreichen Bewerbung Münchens für die Olympischen Spiele 1972 in Verbindung gebracht, Eingeweihten ist vielleicht noch die entschlossene Planung eines dichten städtischen U- und S-Bahnsystems oder die Durchsetzung einer zur damaligen Zeit noch hoch umstrittenen Fußgängerzone zwischen dem Stachus und dem Marienplatz in Erinnerung. Doch schon zu seiner Münchner Zeit waren der öffentliche Wohnungsbau mit 175.000 Wohnungen u.a. in Neuperlach und – ganz grundsätzlich – die Bodenpolitik z.B. mit dem städtischen Aufkauf von Grund und Boden die Politikfelder, die ihm am meisten am Herzen lagen. Das Thema bezahlbares Wohnen ließ ihn nicht los. Entgegen mancher Legende wonach ihm die dortigen Jusos dieses Amt verleideten, drängte er von München aus in die Bundespolitik. Konsequenterweise trug ihm der 1972 zum Bundeskanzler gewählte Willy Brandt das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau an. „Meine Forderung ist, dass Grund und Boden, der wohnungsrelevant ist, schrittweise in das Eigentum der Gemeinden übergeht, indem sie ihn erwerben – oder in speziellen Fällen auch enteignen“, forderte er noch als 93-Jähriger bei der Vorstellung seines Buches. Seine ministeriellen Gesetzesvorlagen zur Bodenreform und zur Bekämpfung der Bodenspekulation scheiterten allerdings damals am erbitterten Widerstand der FDP in der sozialliberalen Koalition. Eine lange Zeit lang danach schien das Thema Grund und Boden ziemlich aus dem politischen Blickfeld geraten zu sein.
Kampf für die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze im Kampf gegen den Terror
Nach dem Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler wegen der Bespitzelung durch den DDR-Agenten Günter Guillaume berief ihn Helmut Schmidt 1974 als Justizminister. Mit der Reform des Abtreibungsrechts und einem moderneren Scheidungsrecht, z.B. mit einem Anspruch von geschiedenen Frauen auf einen Versorgungsausgleich, hatte Vogel sich trotz heftigen Widerstands auch aus den eigenen (männlichen) Reihen durchgesetzt. Seine dramatischsten Herausforderungen als Justizminister waren jedoch im Jahr 1976 die Entführung und Ermordung des damalige Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch Mitglieder der RAF und die Befreiung von 264 Geiseln aus einer Lufthansamaschine, die von palästinensischen Terroristen gekapert wurde, im somalischen Mogadischu. Vogel gehörte im damaligen Krisenstab zu denjenigen, die sich auch bei der Abwehr von Terrorismus für die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze stark gemacht haben. Für diese Prinzipien setzte er sich auch noch später im globalen Kampf gegen den Terror ein: „Präventivschläge, die gegen Völkerrecht verstoßen, willkürliche, ja unmenschliche Behandlung von Gefangenen und Sicherheitsmaßnahmen, die Grundrechte beiseiteschieben, geben das preis, was gegen den Terror verteidigt werden soll, und schwächen deshalb die Glaubwürdigkeit und damit die Abwehrkraft der Angegriffenen“ .
Hans-Jochen Vogel war zur Stelle, wann und wo immer seine SPD ihn brauchte
So etwa als der Regierende Bürgermeister von Berlin Dietrich Stobbe wegen einer zweifelhaften Bürgschaft für einen zahlungsunfähig gewordenen Bauunternehmer zurücktreten musste. Vogel gab dem Druck seiner Partei nach, gab sein Amt in der Bundesregierung auf und wurde 1981 zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Um einem anlaufenden Volksbegehren entgegenzukommen, betrieb er vorgezogene Neuwahlen des Berliner Abgeordnetenhauses und unterlag in einem vorbildlich fair geführten Wahlkampf nach nur vier Monaten in seinem zweiten Bürgermeisteramt dem Gegenkandidaten von der CDU, Richard von Weizsäcker. Das Paradoxe dabei war, dass Vogel als einem Verfechter von Recht und Ordnung ein zu lascher Umgang der Polizei gegen die Hausbesetzerszene vorgeworfen wurde.
Ich war von 1979 bis 1983 in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramts in Bonn beschäftigt und habe dabei den Absprung von Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff aus der sozialliberalen Koalition unter der Kanzlerschaft Helmut Schmidts hautnah miterlebt. Nachdem Helmut Kohl durch ein konstruktives Misstrauensvotum am 1. Oktober 1982 mit den Stimmen von CDU und CSU und einer Mehrheit in der FDP-Fraktion zum Bundeskanzler gewählt wurde und ich unter ihm „dienen“ musste, setzte ich große Hoffnungen auf die Kanzlerkandidatur Vogels im darauffolgenden März 1983. Helmut Schmidt, der vielleicht noch eine Chance auf eine Wiederwahl gehabt hätte, wollte nicht mehr kandidieren und so musste wieder einmal Hans-Jochen Vogel in die Presche springen. Seine Kandidatur gegen Kohl war aussichtslos: Der neoliberale Zeitgeist von Margret Thatcher und Ronald Reagan hatte sich mit der „geistig moralischen Wende“ auch in Deutschland durchgesetzt.
Der erkrankte und immer knorriger werdende Herbert Wehner schlug Vogel daraufhin als seinen Nachfolger als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion vor. Weder Willy Brandt noch Helmut Schmidt, noch sonst ein prominenter SPD-Politiker standen zur Verfügung, also wurde erneut Hans-Jochen Vogel in die Pflicht genommen. Vogel musste die Arbeit des bisherigen Triumvirats Wehner, Brandt und Schmidt in der bisherigen SPD-Führung nun allein übernehmen. Obwohl er als einer der Gründer des parteirechten „Seeheimer-Kreises“ galt, haben sich Brandt als Partei- und Vogel als Fraktionsvorsitzender miteinander arrangiert.
Wegen der Art seiner Amtsführung als Fraktionschef wurde Vogel wohl das Etikett des „Oberlehrers“ angeheftet. Es war die nicht nur sympathische Charakterisierung von Vogels Selbstdisziplin, Verantwortungsbewusstsein und Fleiß. Seine Bescheidenheit zeigte er, in dem er ganz bewusst nur Economy-Class flog und auf den Flügen nach Berlin seine vor ihm in der Business-Klasse sitzenden Bundestagskollegen lauthals mit einem „Guten Flug“ begrüßte. Es gibt eine, wenn nicht wahre, so doch treffende Anekdote, nämlich dass von ihm ein Referent für sechs Uhr einbestellt wurde, er meldete sich pünktlich um 18.00 Uhr, worauf ihn Vogel beschied, dass er ihn 12 Stunden vorher erwartet habe. Seine Klarsichthüllen wurden sprichwörtlich zum Kennzeichen für eine gute und geordnete Organisation im politischen Handeln. Trotz aller Niederlagen hielt sich Vogel – wie er selbst immer wieder sagte – an den Rat „Nicht verzweifeln, weiterarbeiten“, den ihm Herbert Wehner per Hand auf einem Zettel geschrieben hat.
Was bei all diesen ihm zugeschriebenen „Sekundärtugenden“ viel zu wenig sichtbar wurde, war die Tatsache, dass Hans-Jochen Vogel ein empathischer „Kümmerer“ war. Er hat sich danach erkundigt, wo den Leuten der Schuh drückt, er hat zu helfen versucht, wo er nur helfen konnte und wer ihn gefragt hat, bekam eine Antwort.
Es passt ins Bild des „Parteisoldaten“, dass Vogel bei der Bundestagswahl 1987 auf sein Zugriffsrecht verzichtete und den ausgleichenden NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau als Kanzlerkandidaten vorschlug und so einen Führungskampf vermied. Und als Willy Brandt – vordergründig wegen einer gescheiterten Personalentscheidung für eine vom „anderen politischen Lager“ kommenden Pressesprecherin, tatsächlich aber wohl eher weil die SPD bei Umfragen und bei Landtagswahlen schwächelte – aus dem Amt des SPD-Parteivorsitzenden ausschied, musste einmal mehr Hans-Jochen Vogel die große Lücke ausfüllen.
Nach der Niederlage Oskar Lafontaines bei der Bundestagswahl im Oktober 1990 gegen Helmut Kohl, der sich als „Kanzler der Einheit“ mit dem Versprechen der D-Mark einen Wahlbonus verschaffte, stellte Vogel seine Ämter als Partei- und als Fraktionsvorsitzender zur Verfügung. Doch es fanden sich keine Nachfolger. Erst im Mai 1991 folgte ihm Björn Engholm im Parteivorsitz und es dauerte noch bis in den November dieses Jahres bis Hans-Ulrich Klose ihm im Amt des Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion nachfolgte. 1994 verzichtete Vogel dann auch auf eine erneute Kandidatur für den Bundestag. Typisch Vogel war sein späterer Kommentar für diesen Rückzug: „Meine Maxime war, man müsse gehen, solange man seinen Mitmenschen die Bekundungen des Bedauerns noch glauben könne“ .
„Gegen Vergessen – Für Demokratie“
Aus seiner persönlichen Erfahrung mit dem Nationalsozialismus trat er zeitlebens „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ ein. Nach den Brandanschlägen von Rechtsextremen und Ausländerhassern in Rostock-Lichtenhagen, Mölln oder Solingen gründete Hans-Jochen Vogel 1993 zusammen mit Frauen und Männern aus allen Teilen Deutschlands den gleichnamigen Verein, als eine „Antwort auch auf den Ausbruch von Ausländerhass und Chauvinismus, auf die erneute Verteufelung von Minderheiten und die erneute Propagierung von Gewalt als Mittel der Politik, aber auch die Wiederbelebung eines Freund-Feind-Denkens, das im Konkurrenten nicht den demokratischen Wettbewerber um die bessere Lösung sieht, sondern den Gegner, den Feind, den es zu vernichten gilt“.
Sein Abschied aus den politischen Ämtern, war für Vogel aber kein Abschied von der Politik. Die schwierige Lage der SPD trieb ihn um und er empfahl seiner Partei eine Doppelspitze; es gehe wie bei den Grünen darum, dass ein Mann und eine Frau den Vorsitz bekommen.
Seine regelmäßigen Briefe an politische Verantwortungsträger sind legendär, sein politisches Urteil wurde bis zu seinem Lebensende gesucht:
„Aufgabe jeder verantwortungsvollen Politik ist es, den Menschen, mit denen man in einem Gemeinwesen verbunden ist, ein erträgliches Leben zu ermöglichen und darüber hinaus ihre Lebensverhältnisse zu verbessern. Für die Beurteilung der Frage, ob dies gelingt, gilt die Wertordnung, auf die man sich verständigt hat. Eine solche Politik muss Gefahren rechtzeitig erkennen und sich bemühen, sie zu überwinden. Zugleich muss sie positive Entwicklungsmöglichkeiten erforschen und in die Tat umsetzen. Dementsprechend setzen wir uns gegenwärtig lebhaft mit aktuellen Herausforderungen auseinander. So etwa dem Klimawandel, dem Ausstieg aus der Kernenergie und den fossilen Energien, der Dieselaffäre, der durch zerfallende Staaten und den Missbrauch religiöser Sätze verursachte Zunahme der Gewalt und der dadurch und durch eine wachsende soziale Kluft ausgelösten Flüchtlingsströme. Oder mit nationalen Abschottungen, die wieder mit dem Begriff „völkisch“ arbeiten und mit einem Populismus, der mehr auf Emotionen als auf Fakten setzt. Da sehe ich Gefahren für die europäische Einheit und sogar für unsere Demokratie,“ schrieb Vogel im November 2017 in der Süddeutschen Zeitung (v.10.November).
Die Bewahrung des Friedens sei den Sozialdemokraten auf den Leib geschrieben: „Wir müssen uns in Anknüpfung an Willy Brandt für Frieden engagieren, nicht für blinde Nachgiebigkeit, aber für Frieden.“
Und sein Appell „eines muss ich meiner Partei zu bedenken geben: Sie muss auch nach außen gelegentlich von ihren Erfolgen reden“, täte der SPD auch heute wieder gut.
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