Es war ein Märchen. Entspannt ließen sich die Ehepaare Willy und Rut Brandt und Walter und Mildred Scheel von ihrem Nachwuchs unterhalten. Während die Bürger die Wahllokale regelrecht stürmten, saßen Kanzler und Vizekanzler in einer Bonner Schulaula und sahen zu, wie auf der Bühne die Jungschauspieler Mathias Brandt und Cornelia Scheel die Erzählung von „Dornröschen“ in Szene setzten und Grimms Märchenfee aus ihrem Schlaf befreiten.
Wachgeküsst schien an jenem 19.November 1972 auch die Republik, durchdrungen von dem Wunsch, den Daumen für den Kanzler zu heben oder ihn zu senken. Ein Plebiszit. Nie gab es bei Bundestagswahlen eine solche Mobilisierung. Wahlbeteiligung 91,2 Prozent. Ein Allzeit-Hoch. Als der Kanzler dem Schauspieltalent seines jüngsten Sohns zusah, wusste er nach den letzten Meinungsumfragen, dass es für seine sozialliberale Regierung reichen würde. Wie überwältigend dieser Erfolg war, belegten dann die ersten Hochrechnungen. 45.8 Prozent für die SPD. Erstmals stärkste Kraft im Land. Das anfeuernde Wahlkampfmotto „Willy wählen“ hatte gezogen. Huldigungen, Fackelzüge. Nicht nur die SPD-Baracke stand Kopf. Die Brandt-Anhänger waren wie im Rausch. So überwältigt war sein Kanzleramtschef Horst Ehmke, dass er den Kanzler zum einzigen Mal in seinem Leben umarmte und ihm zuflüsterte: „Willy, jetzt ist das Exil endgültig vorbei.“ Anspielung darauf, dass CDU und CSU im Wahlkampf wieder einmal versucht hatten, Brandt wegen seiner Vergangenheit als Exilbürger in Norwegen während der Nazizeit zu diffamieren.
Wie in Trance erlebte auch der Kanzler selbst die Wahlnacht. Er wurde bei einer Party im Kanzleramt geherzt, gedrückt, geküsst. „Die größte Kussparty, die ich je erlebt habe“, urteilte US-Senator Ted Kennedy, der an diesem Tag zufällig in Deutschland war und es sich nicht nehmen lassen wollte, „the greatest man“ persönlich zu gratulieren.
Ein großer Abend, ein Triumph. Ein schwer erkaufter. Lakonisch schrieb Rut Brandt in ihrem Buch „Freundesland“: „Willy hatte die Wahl gewonnen und die Stimme verloren“.
Die Strapazen des Wahlkampfs, in den er und seine SPD fast aussichtslos ziehen mussten, weil es im September nach Abwanderungen von FDP- und SPD-Abgeordneten zur Union keine sozialliberale Mehrheit mehr gab, hatten ihm zugesetzt. Im Wahlkampfzug war er mehr als 25 000 Kilometer durch die Republik getourt. Bis zu acht Auftritte am Tag. Auf Plätzen, in Sälen, in Stadien. Geplant waren 25 Minuten Rede. Die Reporter-Legende der Süddeutschen Zeitung, Hans Ulrich Kempski, schrieb, dass es dabei nie geblieben sei. Der „große Erklärer“ habe für seine Weltsicht meist länger gebraucht, den Zeitplan Tag für Tag durcheinander gebracht, aber viel schlimmer noch, Raubbau mit seiner Gesundheit, vor allem mit seiner Stimme und seinem Kehlkopf getrieben.
Dem Überschwang des Wahlsiegs folgten Tage und Wochen der Angst. Wie ein Damoklesschwert schwebte die Befürchtung einer ernsthaften Kehlkopferkrankung, gar eines bösartigen Tumors über Brandt. Unzutreffend zum Glück. Aber der notwendige Eingriff in der Bonner Uniklinik verlief nicht ohne Komplikationen. Brandt hatte das Gefühl, sein Leben hinge an einem seidenen Faden. Wie groß die Sorge der behandelnden Ärzte um den Patienten war, lässt sich daran ermessen, dass der behandelnde Chirurg vorsorglich Bundespräsident Gustav Heinemann über den ernsten Gesundheitszustand des Regierungschefs informierte. Strikte Ruhe und ein wochenlanges Sprechverbot wurden ihm auferlegt.
Ein politisches Dilemma. Vom Krankenbett aus musste Brandt fast tatenlos zusehen, wie die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und FDP in eine Richtung liefen, die er nicht billigte. Noch Jahrzehnte später stritten die Biographen von Brandt und Herbert Wehner, Peter Merseburger und Christoph Meyer, um die Interpretation einer schriftlichen Anweisung Brandts an seinen stellvertretenden Parteivorsitzenden. Er hatte sie angeblich Wehner mit der Bitte um Weitergabe an Helmut Schmidt geschickt. Wehner soll sie in seiner Aktentasche vergessen haben.
Das Schicksal nahm seinen Lauf und führte zu ernsthaften Verwerfungen in der SPD-Führungstroika. Schmidt nutzte die Abwesenheit Brandts, die Kompetenzen seines Finanzministeriums so auszubauen, dass der von den Liberalen als Wirtschaftsminister vorgesehene Hans-Dietrich Genscher dankend absagte und Ressortchef im Innenministerium blieb. Mit dem Ergebnis, dass die FDP das Wirtschaftsministerium mit Hans Friderichs besetzen konnte und so ein zusätzliches Ressort erhielt.
Für Brandts unmittelbare Arbeit als Regierungschef noch folgenreicher: Schmidt drängte darauf, dass die „Hofschranzen“ Horst Ehmke als Kanzleramtschef und Conrad Ahlers als Regierungssprecher aus dem Palais Schaumburg gehen mussten.
Als Brandt genesen die Arbeit wieder aufnehmen konnte, fand er ein Personaltableau vor, das nicht seiner Wahl entsprach. Und wenn man weiß, dass das hinter dem Rücken, jedenfalls ohne Genehmigung des um seine Gesundheit bangenden Brandt geschah, ist dessen Klage verständlich: Zwei hätten da auf „eigene Rechnung gehandelt“. Schmidt sah das anders. „Im längsten handgeschriebenen Brief meines Lebens“ an den Patienten Brandt bat er den „ausdrücklich um Offenheit“. „Warum sagst Du nicht Herbert Wehner und mir, wie Du Dir die Sache denkst? Und wenn Du Kritik empfindest: bitte sag es doch, dass man es begreifen und vielleicht darüber reden kann.“ Und endete mit dem Wunsch: „Wenn Dir mal jemand etwas zutragen sollte, was angeblich der Helmut über Dich gesagt hätte: bitte frag ihn selber oder stelle ihn zur Rede – aber jedenfalls rede offen darüber. Ich möchte es auch so gerne tun! Ich bin sehr herzlich. Dein H.S.“.
Der Jubel des Wahltags war verhallt. Knapp brachte es Egon Bahr auf den Punkt: „Von da an ging`s bergab“. Als Willy Brandt endlich am 18. Januar seine zweite Regierungserklärung im Bundestag hielt, war die Koalition längst in den Mühen der Ebene. Sein Vize und Außenminister Walter Scheel hatte auf die Anstrengungen der sozialliberalen Regierungsarbeit keine Lust mehr. Nach einem Kurzurlaub mit Brandt Anfang Januar auf der Kanareninsel Fuerteventura ließ er den Kanzler seine Zukunftspläne wissen: 1974 in der Nachfolge Gustav Heinemanns als Bundespräsident Einzug in die Villa Hammerschmidt.
Scheels Karriereplanung ging auf. Willy Brandt trat als Kanzler 1974 wegen des DDR-Spions Günter Guillaume zurück.
Literatur-Quellen: Arnulf Baring, Machtwechsel, DVA; Rut Brandt, Freundesland, Hoffmann und Campe; Gunter Hofmann, Willy Brandt und Helmut Schmidt, Geschichte einer schwierigen Freundschaft, C.H.Beck; Christoph Meyer, Herbert Wehner, Biographie, dtv; Peter Merseburger, Willy Brandt, Visionär und Realist, DVA; Meik Woyke (HG.), Willy Brandt – Helmut Schmidt, Partner und Rivalen, Der Briefwechsel, Bundeskanzler-Willy-Brandtstiftung, Dietz-Verlag.
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