Vor Jahren war das Frankfurter Bahnhofsviertel eine verwahrloste Oase des Niedergangs und der Verworfenheit. Auf meinem Weg zur IG Metall-Zentrale in der Wilhelm-Leuschner-Strasse, machte ich manchmal noch einen Umweg durch „sein Viertel“. Ich stellte mir vor, ihm eines Tages zu begegnen. Er würde auf mich zukommen, seinen langen, schwarzen Mantel tragen und eine Schirmmütze auf dem Kopf. Der marmorierten Gesichtshaut könnte man ansehen, dass er es gewohnt war, bei jedem Wetter draußen zu sein.
Es gab hier Dutzende von Bordellen, und die Straße war bereits tagsüber voller Männer, die wie Jäger umhergingen, die nach leichter Beute Ausschau halten. An der Ecke dort gab einen Schuhmacher und etwas weiter einige Kürschnereien. Heute befinden sich hier eine Reihe ausländischer Banken. Ob das nun ein Fortschritt ist, sei dahin gestellt.
Haben Sie sich damals in einer Ihrer Schriften auch deshalb als ‚Streuner’ bezeichnet, weil Sie hier oft unterwegs waren? Oder können Sie mir den Unterschied zwischen einem Flaneur und einem Streuner erklären?
Normalerweise versteht man unter einem Streuner jemanden, der keinen festen Wohnsitz hat und ziellos von Ort zu Ort zieht. Nun ja; einen festen Wohnsitz hatte ich schon. Aber ich mochte das abseitige, etwas anrüchige Milieu. Wenn Sie so wollen, war es der Widerstand gegen die Normalität, die wohlanständige Spießbürgerlichkeit.
Oft war es aber auch die pure Langeweile, die mich hierher trieb. Das Faszinierende an der Langeweile ist ja, dass man sich in Dinge vertieft, ohne es zu wollen oder überhaupt zu bemerken. Man gerät in eine Art ‚Dauer-Tagtraum’. Der Tagtraum ist ja eine Möglichkeit, vergleichsweise unbehelligt durch widrige Zeitumstände zu kommen. Sobald wir erwachsen werden und nicht mehr ‚spielen’ dürfen, müssen wir einen Ersatz finden: das Phantasieren. So ist der Tagtraum auch ein Surrogat für den Verlust des Spielens; gleichzeitig aber auch eine Brücke für die Entstehung von ‚Symbolen’, mit denen wir den Verlust kompensieren. Unwillkürlich setzt man das Beobachtete in eine Beziehung zu sich selbst; zur eigenen Biographie oder wie auch immer. So gehen ‚Außen- und Innenperspektive’ irgendwann nahtlos ineinander über.
Wäre für Sie nicht auch eine Bezeichnung wie ‚Flaneur’ infrage gekommen? Der Flaneur gilt ja als ‚literarische Figur’ der Moderne schlechthin, und es gibt eine ganze Reihe berühmter Vorbilder wie Baudelaire, Benjamin oder Franz Hesel, in deren Gesellschaft Sie sich ja vielleicht ganz wohl gefühlt hätten?
Ich war seinerzeit alles andere als eine ‚literarische Figur’, die sich durch die Menge treiben lässt, mit dem Strom schwimmt und ab und zu innehält, um die Dinge und Ereignisse um sich herum zu betrachten. Daraus gewinnt der Flaneur ja seine Reflexionen: dass er seine Beobachtungen ‚literarisiert’. Er ist ein durch und durch ‚intellektueller Typ’. Beides fehlte mir: ich war weder Literat noch Intellektueller, sondern dann schon eher ein Herumtreiber. Mein Thema wurde die ‚Mittelmäßigkeit des normalen Menschen’, seine diffusen Stimmungen, sein Unwohlsein, seine Unbehaustheit. Wenn Sie so wollen, ging es mir darum, die ‚Misere des modernen Menschen’ möglichst präzise darzustellen, ohne jeden formalen Schnickschnack.
Der Streuner gewinnt selbst der ‚Unwirtlichkeit der Stadt’ noch einen gewissen Reiz ab. Er hält gewissermaßen Schritt mit der Beschädigung seiner Umgebung oder allgemein gesprochen: der Umwelt. Und während der Flaneur mittlerweile aus der Zeit gefallen ist, kann man den Streuner als seinen zeitgemäßen Nachfolger ansehen. Er ist sozusagen auf der Höhe der Zeit. Ich empfand wahre ‚Schauer des Unbehagens’ angesichts der Verwüstungen, die von den sogenannten Stadtplanern angerichtet worden waren. Diesen ‚Kippreiz ins Anarchische’ habe ich damals attraktiv gefunden. Natürlich war es auch der Versuch, den Zumutungen des Alltags zu entkommen. Ich habe diese Flucht in die Nischen des Dasein einmal als meine ‚Lebensersparnis’ bezeichnet. Damit meinte ich den Verzicht auf alles Überflüssige, auf Luxus und Eigentum zum Beispiel, also auf all das, wonach die meisten ihr Leben lang streben.
Was hat Sie schließlich veranlasst, über ihre Wahrnehmungen zu schreiben? Wann haben Sie damit begonnen? Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Sie zum Schreiben gedrängt hat?
Keineswegs. Man darf sich einen Schriftsteller nicht als Jemanden vorstellen, der sich vor ein leeres Blatt setzt und auf Einfälle wartet. Bei mir geschah alles ganz beiläufig. Bereits als Kind konnten mich die kleinsten Dinge zu phantastischen Gedankenflügen anregen. Das lag wohl daran, dass ich viel allein war und mir meine Zeit mit irgendwas füllen musste. Später hatte ich eine zeitlang eine Freundin, mit der ich wenig anzufangen wusste. Um sie zu unterhalten, notierte ich mir kleine Begebenheiten, die mir im Alltag aufgefallen waren, und erzählte davon. Die Notizzettel hielt ich im Verborgenen. Umso mehr war ich darauf angewiesen, aus den wenigen Notizen eine halbwegs stimmige Geschichte zu machen. Später habe ich damit begonnen, mir diese Geschichten aufzuschreiben und schickte sie an die Redaktionen örtlicher Mitteilungsblätter. Zu meiner Überraschung wurden einige meiner Beiträge tatsächlich gedruckt. Schließlich wurde mir eine Redakteurstätigkeit angeboten, und ich schrieb über alles Mögliche, nicht ahnend, das mir das eines Tages zugutekommen würde.
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Sie sind bekannt dafür, dass viele Ihrer Geschichten mit der Wahrnehmung kleiner und kleinster Dinge oder Begebenheiten beginnen. Ein liegen gebliebener Schuh oder Regenschirm kann das sein. Es sind meistens Dinge, die andere übersehen und die normalerweise unbeachtet bleiben. Bei Ihnen setzen sie einen ‚Phantasie- und Erzählstrom’ in Gang, der immer wieder zu überraschenden Wendungen führt. Bei Ihnen werden sie zu poetischen Objekten, mit denen Sie eine heimliche Allianz eingehen. Kann man sagen, Ihre Poesie ist ‚weltabweisend’ und gerade dadurch ‚weltverstärkend’?
Ja, das kann man so sagen. Voraussetzung ist allerdings, dass ich versuche, aus der ‚linearen Zeitordnung’ zumindest vorübergehend herauszutreten. Wir leben ja genau genommen in zwei verschiedenen ‚Zeitverlaufsformen’: die erste könnte man die ‚objektive Zeit’ nennen, die alltägliche, unerbittliche, gleichförmige, mathematische Abfolge der Zeiteinheiten. Von dieser gilt es sich loszureißen. Ich muss in eine andere ‚Zeiterfahrung’ eintauchen. Um ein gewöhnliches Ding wirklich wahrzunehmen, muss ich stehenbleiben und es mir längere Zeit anschauen. Erst dadurch wird die ‚sinnliche Wahrnehmung’ zu einer ‚ästhetischen Anschauung’. Das ästhetische Anschauen ist stets mit einem ‚Verweilen’ verbunden; im Idealfall führt dieses zu einer Glückserfahrung, so als würde alles um mich herum ebenfalls für einen Moment still stehen.
Lassen sich diese Momente bewusst herbeiführen oder fallen sie Ihnen rein zufällig zu?
Die Entdeckung des Poetischen im Beiläufigen geht genau genommen nicht auf eine gezielte Suche zurück, sondern es ist ein Herbeiführen, Erfinden, ein besonderes Wahrnehmen der Dinge durch den Betrachter und seine Deutung. Unwillkürlich setzt man das Beobachtete in eine Beziehung zu sich selbst; zur eigenen Biographie oder wie auch immer. So gehen ‚Außen- und Innenperspektive’ irgendwann nahtlos ineinander über. Dieser Zusammenklang macht den Dichter zum Hermeneutiker und Epiphaniker. Dichter sind manchmal ‚Phantasten’ und verhalten sich wie Kinder beim Entdecken des Magischen in den Dingen. In diesen steckt die Magie, in den Dichtern die ‚Magieerwartung’, wenn Sie so wollen.
In Ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesung ‚Die Belebung der toten Winkel’ haben Sie sich am Beispiel von Proust, Joyce und vor allem Virginia Woolf mit dem Phänomen ‚Epiphanie’ befasst. Was genau verstehen Sie unter einer ‚Epiphanie’?
Eine Epiphanie ist das, was uns zwar zufällig, aber zwingend einfällt, wenn wir ein Ding länger als nötig betrachten und dabei den Appellcharakter der Gegenstände wahrnehmen. Eine Epiphanie ist das, was uns momentweise einleuchtet und bewegt, was wir einen Tag später aber schon wieder vergessen hätten, wenn wir es nicht für uns festgehalten hätten. Unser assimilierender Blick verknüpft uns mit vielen fremden Momenten und baut sie unbewusst mit den Ergebnissen anderer, früherer Blicke neu zusammen. So entsteht eine ‚Symbiose’ aus Äußerem und Innerem. Denn alles, was wir immer wieder und länger als nötig anschauen, beginnt eines Tages in uns und zu uns zu sprechen. Man könnte von einer ‚Ästhetik des Augenblicks’ sprechen.
Natürlich müssen diese Wahrnehmungen auch im ‚Stilistischen’ zum Ausdruck kommen. Die dem Alltag abgeschauten Segmente notiere ich mir und versuche später, sie in möglichst karger und schnörkelloser Form zu präzisieren; dem Gegenstand der Darstellung gemäß. Jede Ausschmückung wäre da fehl am Platz. Schauen Sie sich um. Ist diese Wirklichkeit, die Sie hier sehen, wert, in irgendeiner Weise ästhetisch überhöht zu werden? Ich suche in den unbedeutenden oder gar abseitigen Dingen eine Art ‚verborgenen Sinn’ oder wie schon Tschechow sagt: ‚Die Dramen, die sich im Kleinen abspielen’. Das könnte das Credo meines Schreibens sein. Was sollte ich auch sonst tun, außer zu schreiben? So mache ich einfach immer weiter. Die wahren Schriftsteller sind doch die, die immer wieder von vorne anfangen. Dabei verstehe ich gar nicht, warum die Leute meine Texte überhaupt zur Kenntnis nehmen. Was sie da lesen, kennen sie doch. Aber Ihr Beispiel zeigt mir ja, dass es doch hin und wieder jemanden gibt, der sich dafür interessiert.