Unter den Webseiten zählt Wikipedia seit mehr als 10 Jahren schon zu den Giganten. Im Nutzungsranking auf Platz 5 oder 6 aller deutschsprachigen Webseiten, je nach statistischer Quelle. Und mit etwa 2,5 Millionen Artikeln schlägt Wikipedia alle Enzyklopädien, die es jemals gegeben hat. Zum Vergleich: Die Encyclopedia Britannica enthielt 2010 etwas über 75.000 Artikel von knapp 4500 Autoren in 32 Bänden und mit 44 Millionen Wörtern. Ein Wissensgigant, der seit 1768 sich zum Maßstab für Qualität von Information entwickelt hat, auch wenn ein wichtiger Kritikpunkt immer war, dass es aus einer kulturell sehr einseitigen Sicht geschrieben war. Und – entsprechend unserer westlichen Leitkultur- androzentrisch.
Die Zeit bzw. das Internet hat dem – zumindest analog – ein Ende gesetzt. Die Encyclopedia Britannica ist nicht mehr das Flaggschiff des bildungsbürgerlichen Bücherschranks. Sie erscheint seit 2012 nur noch online. Auch die deutschen Konkurrenten ereilte dieses Schicksal. Das Meyers Konversations-Lexikon strich schon in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts nach knapp 150 Jahren die Segel. Die Brockhaus Enzyklopädie, seit Anfang des 19. Jhds. in deutschen Bücherschränken zu Hause, wurde 2014 nach über 200 Jahren als gedrucktes Nachschlagewerk eingestellt. Seit 2015 versucht man sich online.
Neuer Weltstandard des Wissens oder Müllhalde des Wissens?
Nicht ganz unschuldig daran ist das in den USA gegründete Projekt Wikipedia, das am 15.Januar 2001, die deutsche Version am 15.März 2001, als Hobby-Projekt einer Online-Enzyklopädie an den Start ging und in kürzester Zeit zu einer weltumspannenden und mächtigen Community heranwuchs, die rein ehrenamtlich und mit erheblicher Selbstausbeutung zur ersten Anlaufstelle für enzyklopädische Informationen wurde.
Die deutsche Version von Wikipedia hat weit über 20.000 aktive Autoren. Seit 2001 haben fast 1 Millionen Autoren ca. 2,5 Millionen Artikel mit knapp 88 Millionen Bearbeitungen produziert. Das entspricht 1489 Bänden in gedruckter Form, ohne Bilder. Die Qualität der Beiträge ist dabei oft sehr hoch. Aber es gibt auch viel Schatten und oft auch Unterirdisches. Und ein zentraler Schwachpunkt ist: Nicht anders als die Encyclopedia Britannica ist die „Weltsicht“ von Wikipedia stark westlich orientiert und männlich. Das „Warum“ ist ganz einfach erklärt: Die ganz überwiegende Mehrheit der Autoren ist männlich. Vor allem die „Vielschreiber“. Wikipedia ist leider mit weiteren Daten sehr zurückhaltend. Mit gutem Grund. Eine Befragung aus dem Jahr 2007 zeigte ein sehr verzerrtes Bild, das aber auch heute noch in ähnlicher Weise gilt:
88% der Autoren waren männlich, 10% weiblich, 2% ohne Angabe.50% waren Single. Zur Altersstruktur gibt es keine Daten. Aber es fällt auf, dass die Vielschreiber und wichtigsten Autoren schon sehr lange bei Wikipedia mitarbeiten. Und: Fast 60% aller Beiträge und redaktionellen Änderungen stammen von einer überschaubaren Zahl von Autoren, nämlich weniger als 1.600. Das sind weniger als 0,2 % aller Autoren. Die drei „Fleißigsten“ Autoren stellen dabei sogar allein einen Anteil von über 5% aller Artikel und Bearbeitungen. Und: Unter den 25 Autoren mit den meisten Beiträgen konnte kein Hinweis gefunden werden, dass es sich bei der Person bzw. dem Pseudonym des Autors um eine Frau handelt. Das muss ja eigentlich, da wir ja – zumindest die meisten – im 21. Jahrhundert leben, keine Rolle spielen. Aber die Inhalte zeigen leider ein völlig anderes Bild.
Angesichts der überwältigende Fülle an Artikeln auf Wikipedia wagen wir einmal ein kleines Experiment: Wen hält Wikipedia am 11. August unter den Menschen, die Geburtstag haben oder hatten und den Pechvögeln, die an diesem Tag das Zeitliche segneten für erwähnenswert?
Wer als Frau bei Wikipedia erwähnt werden will sollte Dichterin, Schauspielerin, Prinzessin, Nonne oder Prostituierte sein- alles andere wird schwer
Insgesamt weist der 11. August 591 Personen aus, die durch eine besondere Lebensleistung es verdient haben, dass ihre Geburt oder ihr Tod in dem größten enzyklopädischen Wissensspeicher der Welt vermerkt und durch einen Beitrag gewürdigt werden. Neben einer – bei einer deutschen Version noch verständlichen – sehr starken Fokussierung auf den deutschsprachigen Kulturraum, fällt sofort auf, dass nur 98 Frauen hier zu finden sind. Das entspricht einem Anteil von 16,6%. Nun könnte man denken, dass das natürlich darauf zurückzuführen sei, dass in älteren Epochen die Chancen für Frauen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kunst oder Kultur doch sehr beschränkt gewesen sind. Sehen wir uns das doch dann einmal genauer an:
Bei den Einträgen unter „geboren bis 1700“ finden sich 18 Einträge. 4 davon beziehen sich auf Frauen (=22,2%), darunter 1 Prinzessin, 1 Gräfin, 1 Ehefrau und 1 Mätresse. Bei den Männern stehen 7 Kardinälen/Priestern oder Theologen immerhin 2 Dichter, 2 Beamten, und jeweils 1 Sänger, Maler, Bürgermeister und Adeligen gegenüber. Im Zeitraum zwischen 1700 und 1800 finden sich 23 Einträge, darunter wiederum 4 Frauen (=17,3%). 3 Herzoginnen und 1 Ehefrau stehen bei den Männern 6 Wissenschaftler, 3 Theologen/Priestern, 2 Staatsrechtlern/Juristen, 2 Politiker, 2 Malern und jeweils 1 Musiker Banker und Soldat gegenüber und noch der Turnvater Jahn.
In den darauffolgenden hundert Jahren bis 1900 finden schon 88 Personen Berücksichtigung bei Wikipedia. Wer einen starken Anstieg des Frauenanteils erwartet hat, wird sich wundern. Denn 74 Männern stehen nur 14 Frauen gegenüber. D.h. der Frauenanteil sinkt hier auf 15,9 %. Immerhin sind neben 5 Schriftstellerinnen auch 3 Politikerinnen/Frauenrechtlerinnen, 3 Künstlerinnen, 2 Wissenschaftlerinnen und eine Prominente, die Wikipedia als „Enkelin“ ausweist, zu finden. Das mag ja hinreichend für einen Wikipedia-Eintrag sein, aber sind in 100 Jahren am 11.August nicht noch weitere „Enkelinnen“ zu finden gewesen? Offenbar nicht. Bei den Männern ist die Mischung auch bunter im Vergleich zu den vorhergehenden Epochen. Es sind 18 Wissenschaftler, 15 Künstler, 12, Politiker, 8 Sportler,3 Soldaten, ebenso viele Unternehmer, 2 Journalisten, 1Patriot, 1 Spiritist und 1 Architekt und Großonkel wikipediawürdig. Überzeugende Auswahl!
Und jetzt sind wir ja schon im 20 Jhd. Endlich haben wir den erwarteten Anstieg des Frauenanteils!! 100 Jahre Kampf für Frauenrechte müssen ja auch Erfolg haben. Wikipedia hält immerhin 57 Frauen für erwähnenswert. Von 237 Personen insgesamt. Somit wären wir bei einem Anteil von 24,1%. Also bei Wikipedia ist immerhin jeder vierte erwähnenswerte Mensch eine Frau. Die verteilen sich auf 26 Künstlerinnen/Schriftstellerinnen, 10 Sportlerinnern, 3 Wissenschaftlerinnen, 2 Pornodarstellerinnen, 1 Prostituierte und 1 Schönheitskönigin, 1 Apnoetaucherin und 1 Äbtissin. Bei den Männern schaffen es mit 55 Sportlern fast ebenso viele VIPs in die Wikipedia-Liste wie Frauen insgesamt. Was auffällt: In der „Etikettierung“ scheint die Policy von Wikipedia zu sein, möglichst keine Wertungen zu verwenden. So wird ein Nazi-Verbrecher als „deutscher SS-Angehöriger und KZ-Arzt“ eingeführt. Bei den Frauen scheint das Etikett „Mätresse, Prostituierte oder Pornodarstellerin“ offenbar wertneutral zu sein. Zumindest wenn die Autoren Männer sind. Uuups, jetzt haben wir ganz vergessen, wen Wikipedia im 21. Jhd. unter „geboren“ einen Eintrag widmet. Da könnten ja jede Menge Sportlerinnen, fff-Aktivistinnen, Frauenrechtlerinnen, Menschenrechtsaktivisten o.ä. aufgeführt sein. Fehlanzeige. Es gibt nur einen Eintrag. Ein bosnisch-herzegowinischer Jugend-Poolbillardspieler. Natürlich Poolbilliard und Mann. Was sonst sollte wikipediawürdig sein. Vielleicht sollte man Wikipedia noch um alle SchülersprecherInnen erweitern. Oder überhaupt alle JugendsportlerInnen, die jemals einen Pokal in Händen hatten.
Über tote Frauen spricht man nicht!
Widmen wir uns den Toten. Vielleicht stehen hier bei den Autoren von Wikipedia die Frauen etwas stärker im Fokus der Aufmerksamkeit. Eine trügerische Hoffnung, wenn man auf die Zahlen schaut. Zum einen fällt auf, dass am 11. August offenbar weniger gestorben wird, zumindest im Vergleich der in der Rubrik „geboren“ aufgelisteten Personen. Hier weist Wikipedia lediglich 224 Einträge auf. Zum anderen wird deutlich: Frauen sterben offenbar deutlich weniger, denn hier sind zum 11.August nur 19 erwähnenswerte „Verblichene“ gelistet. Also ein Anteil von 9,5%. Man könnte natürlich auch schlussfolgern, dass den Wikipedianern (so bezeichnen sich bei Wikipedia die Autoren; Nicht erwähnenswert ist, dass ich den Begriff Wikipedianerinnen oder gendergerecht WikipedianerInnen an keiner Stelle gefunden habe) es weniger erwähnenswert erscheint, wenn eine von den ohnehin schon recht unterrepräsentierten, enzyklopädiefähigen Frauen verstirbt. Aber schauen wir uns doch das Verbleichen im Detail an:
Bis 1800 weist Wikipedia 45 Personen auf. Darunter 4 Frauen (= 8,2 %), nämlich 1 Kaiserin, 1 Gräfin, 1 Nonnen und 1 Malerin. Wenn man mal 2500 Jahre halbwegs gut dokumentierter Kulturgeschichte unterstellt, ist das schon eine etwas magere Ausbeute für die ersten 2300 Jahre. Oder anders gewendet. Im Zeitraum von 500 v.u.Z. bis 1800, also in 2300 Jahren, stirbt lt. Wikipedia am 11. August alle 575 Jahre eine Frau, die es wert ist in die weltweit umfassendste Enzyklopädie aufgenommen zu werden.
Aber schauen wir mal auf die folgenden 100 Jahre. Bis zum Jahr 1900 sind es nur 33 erwähnenswerte Menschen, die am 11. August ihr letztes Lebenszeichen setzen. Darunter immerhin 3 Frauen (=8,3%), also eine Steigerung zum vorhergehenden Zeitraum von 0,1 Prozentpunkten. Man merkt, in der Moderne werden Frauen bedeutsamer. Die drei im 19. Jhd Verblichenen erzeugten Aufmerksamkeit als Mätresse, Schriftstellerin und Sängerin. Ok Wikipedia, verstehe jetzt allmählich, worin der Nachrichtenwert bestehen muss.
Schauen wir einfach mal 100 Jahre weiter. Unter den 107 im 20 Jhd. am 11. August verstorbenen Menschen bei Wikipedia finden sich dann schon 10 Frauen (=9,3%), wir erleben also einen schwindelerregenden Anstieg um 1 Prozentpunkt. Die Frauenbewegung jubiliert. Schauen wir uns dann doch mal das Profil an. Wikipedia listet auf: 6 Künstlerinnern, 2 Zeuginnen Jehovas als Opfer des NS-Terrors, 1 Widerstandskämpferin und 1 Mätresse. Mätresse??? Definiert Wikipedia nicht wie folgt „Mätresse (aus französisch maîtresse, Herrin[1]), als historischer Begriff in Europa maîtresse en titre, Titularmätresse, maîtresse régnante, regierende Mätresse oder offizielle Mätresse, war der mächtigste weibliche Günstling am absolutistischen Hof“. Ist der Absolutismus (mal von den USA, Türkei, Ungarn, Polen und UK abgesehen) nicht schon „erledigt“? Aber lesen wir bei Wikipedia weiter. „Die Bedeutung des Begriffs Mätresse änderte sich im Lauf der Jahrhunderte von der herausragenden Geliebten in der Renaissance zur politischen Karrierefrau im Absolutismus und sank im 19. Jahrhundert als Folge der bürgerlichen Revolutionen ab zu einer Bezeichnung für ein prostitutionsnahes Dauerverhältnis eines mächtigen Mannes.“
Also im20. Jhd. erweitert Wikipedia also die Kategorie „Mätresse“ um „Karrierefrauen“ und „Prostituierte“. Worum ging es bei einer Enzyklopädie noch einmal? Wissen! Ok.
Ein anderes Beispiel: Julius Busch wird für den 11. August von Wikipedia als deutsch-baltischer Pastor und evangelischer Märtyrer „introduced“. Er wurde am 11. August 1906 vermutlich von russischen Revolutionären ermordet. Über die Gründe muss der Beitrag allerdings etwas spekulieren. Als mögliches Motiv wird genannt, dass Busch Angehöriger der deutschen Minderheit war und als Pastor auch ein Vertreter der herrschenden Schicht war. Warum Busch aber nun ein Märtyrer sein soll, erschließt sich nicht. Er ist ein Opfer während revolutionärer Wirren. Nicht mehr und icht weniger. Mit deutlich mehr Berechtigung sollte man dann doch in der Enzyklopädie aller Opfer von Femiziden aufführen. Wikipedia selbst führt dafür im entsprechenden Beitrag Quellen auf, die 50.000 gezielte Tötungen von Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts weltweit aufführen und 5000 in Europa, jedes Jahr. Die deutsche Kriminalitätsstatistik weist im Durchschnitt jeden Tag einen Gewaltakt gegen Frauen mit Tötungsabsicht aus, davon sind ca. 1/3 erfolgreich. Die sollten dann doch mindestens mit demselben Recht wie Busch als Märtyrerinnen bei Wikipedia Beachtung finden.
Aber betrachten wir noch das 21. Jhd. Hier listet Wikipedia bislang 32 verstorbene Mitmenschen auf. Darunter: 16 Frauen! Nein, das ist natürlich ein Scherz. Es sind 2. In Worten: Zwei! Also 6,25% der am 11. August im 21. Jhd. unter „verstorben“ gelisteten. Die Profile: 1 Aktivistin und 1 Brauereierbin und Faschistin. Schauen wir uns das letztere Profil an. Es geht um Diana Mitford. Sie war natürlich keine Brauereierbin, sondern lediglich kurze Zeit mit dem Erben einer Brauerei verheiratet: Im Beitrag ist es richtig dargestellt, aber die Überblicksseite verfuhr wohl nach dem Prinzip „wiki-wiki“, das ist hawaiisch und heißt „schnell-schnell“.
Aber vielleicht ist das des Rätsels Lösung. „Schnell-schnell“ ist ja typisch männliche Sozialisation. Warum gründlich, wenn es auch schnell erledigt werden kann. Und typisch männlich auch die vielen Auseinandersetzungen unter den Autoren um kleinste Änderungen der Artikel. Bei Wikipedia artet das Lektorat vielfach auch zum Krieg aus. Hier zeigt sich Wikipedia nicht als „Community“, sondern als eine große Zahl von Individuen, die Besitz ergreifen wollen von „Ihrem Artikel“ und „Ihre“ Meinung gegen jeden „Eindringling“ verteidigen. Recht hat nicht, wer Recht hat, sondern wer am lautesten und am längsten „schreit“. Auch das kann erklären, warum „Frauen“ weder im Inhalt noch bei den AutorInnen eine angemessene Rolle spielen. Sie „spielen“ dieses Spiel einfach nicht mit. Wer will sich das auch schon freiwillig antun.
Noch einmal kurz zur Erinnerung: Was ist denn eigentlich eine Enzyklopädie? Fragen wir doch Wikipedia: „Eine Enzyklopädie (…), früher auch aus dem Französischen: Encyclopédie (griechisch ἐγκύκλιος παιδεία enkyklios paideia, „Grundausbildung, allgemeine Erziehung“), ist ein besonders umfangreiches Nachschlagewerk. Der Begriff Enzyklopädie soll auf Ausführlichkeit oder eine große Themenbreite hinweisen, wie beispielsweise bei einem Menschen, dem enzyklopädisches Wissen nachgesagt wird. Es wird eine Zusammenfassung des gesamten Wissens dargestellt.“
Also „DAS GESAMTE WISSEN“. Das sollte dann doch eigentlich auch Frauen einschließen. Bei Wikipedia tut es das aber nicht. Da hat dieses Projekt noch einen weiten Weg vor sich. Bis dahin fällt die Bilanz leider bescheiden aus: Wikipedia – frauenfeindlich, ethnozentrisch und rassistisch. Wenn man mal näher hinschaut – selektiv und voller toxischer Männlichkeit. Angesichts der hohen Nutzungszahlen (allein in Deutschland ca. 1 Milliarde Seitenabrufe je Monat) und speziell seiner herausragenden und sogar von der EU und den Bundesländern forcierten Bedeutung im Schuleinsatz eine frustrierende Erkenntnis. Wie soll sich in unserer Gesellschaft etwas ändern, wenn schon das in der Schule wichtigste Informationsmedium mit dem Mainstream männlichen Denkens verseucht ist?
Bildquelle: Pixabay, Bild von Manfred Steger, Pixabay License
Super geschriebener und informativer Artikel :-). In diesen Blog werde ich mich noch richtig einlesen