Um die Identitätspolitik ist eine emotional aufgeladene Kontroverse entbrannt. Sie verläuft in den Bahnen von Schwarz und Weiß, gut und böse. Der Ton ist hasserfüllt und aggressiv. Das ist unproduktiv, denn derart verengte, von Häme, Hochmut und Verachtung vergiftete Debatten führen zu keiner Verständigung. Einen Beitrag zur Versachlichung und Differenzierung leistete die Universität Münster mit einer prominent besetzten digitalen Podiumsdiskussion. Deren gemeinsamer Nenner war nicht weniger als mehr Gerechtigkeit. Das Ziel ist das gleiche, der Weg dahin umstritten.
Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), der sich mahnend über die Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt geäußert und damit der Diskussion eine breitere Öffentlichkeit verschafft hat, setzte sich ausführlich mit den Standpunkten von Mithu M. Sanyal und Andrea Geier auseinander. Die Kulturwissenschaftlerin Sanyal ist Autorin des Romans „Identitti“; die Literaturwissenschaftlerin Geier lehrt an der Universität Trier. Vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität wirkten der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide und der Soziologe Detlef Pollack an der ergiebigen Veranstaltung mit.
Über die Ablehnung rechter Identitätspolitik mit ihrer völkischen Grundierung, die spaltet, Hass schürt und Gewalt sät, herrschte schnell Einigkeit. Die Titelfrage der Diskussion: „Wieviel Identitätspolitik braucht unsere Gesellschaft?“ galt der linken Identitätspolitik und damit den vielfältigen Aspekten im Verhältnis zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten, Stigmatisierung und Feindbildern, Rassismus und Diskriminierung, Schuld und Verantwortung, Betroffenheit und Opferrolle.
Thierse sieht auch hier Gefährdungen. Zwar sei Streit ein Wesenselement von Demokratie, doch besorge ihn die aggressive Atmosphäre. Viele Menschen seien verunsichert, was noch sagbar sei, sagte Thierse und sprach von einem „bestürzenden Ausmaß von Zustimmung“ zu seinem Beitrag. Es habe ihn irritiert, dass ihm für seinen Mut gedankt wurde, auszusprechen, was andere nicht mehr auszusprechen wagen.
Zigeunerschnitzel, Negerkuss, Indianerspiele: das sind plakative Stichwörter in der Debatte, die im Internet wütet und entsprechend „sehr schlecht differenziert“ ist, wie Mithu Sanyal sagte. Der Ton in der Gesellschaft sei insgesamt aggressiver geworden; zu fragen sei etwa, ob denn die Mehrheit wirklich gefährdet sei. Sie verwies auf die Schulen, in denen die „migrantisch geprägten jungen Männer die großen Verlierer“ seien. Auch Andrea Geier forderte, die Debatte konkreter zu führen mit Blick auf Bildung zum Beispiel, Berufsleben und Geschlechtergerechtigkeit. „Dann“, sagt sie, „sind Schreckensszenarien, die Mehrheitsgesellschaft sei in Gefahr, schnell vom Tisch.“
Im Konkreten werden gruppenbezogene Benachteiligungen sichtbar. Systemischer Rassismus zeigt sich, wo Herkunft, Aussehen oder der Name über Zugänge und Chancen entscheiden. Identitätspolitik sei letztlich ein „Schrei nach Teilhabe“, sagt Sanyal. Oder aber nach Bevorzugung, wenden Kritiker ein. Betroffene müssen das erste Wort haben, aber nicht unbedingt auch das letzte, sagt Thierse, und an der Stelle widerspricht ihm keiner.
Auch Detlef Pollack sagt: „Betroffenheitsrhetorik darf nicht das letzte Wort sein.“ Sonst könne das „dazu führen, dass man sich nicht verändern möchte, um Ansprüche zu behalten“. Und Thierse warnt, Betroffenheit dürfe nicht ausschließen, dass andere auch eine Chance haben, sich einzumischen. Anderenfalls werde „Betroffenheit zur Barriere gegen gemeinsame Lösungen“.
Wer ist Wir? Wer sind die anderen? Andrea Geier problematisiert die Herangehensweise, indem sie fragt: „Wer behauptet, Wir zu sein und stellt Ansprüche an andere?“ und: „Wer muss gegenüber wem tolerant sein?“ Die Mehrheitsgesellschaft habe die Vielfaltsfragen in die Integrationsdebatte „eingehegt“ und so die Richtung vorgegeben. Geier plädiert dafür, zunächst die Wirklichkeit mit ihren Hindernissen wahrzunehmen, Rassismus und Sexismus zum Beispiel. Dieser Schritt dürfe auf dem Weg zur Gleichheit nicht übersprungen werden, sagte sie in Richtung Thierse und warnte vor einem „Ausradierungsprozess“.
Es geht um Erfahrungen, die nur Betroffene machen. Ausgrenzung bei der Wohnungssuche, Benachteiligung in der Schule, bei Behörden, im öffentlichen Raum. In der Kontroverse stehen sich zwei Haltungen gegenüber. Die eine spricht den Betroffenen aufgrund der hohen Emotionalität die notwendige Rationalität im Diskurs ab; die andere weist die Pauschalvorwürfe an die Mehrheitsgesellschaft zurück.
Schuldzuweisungen und Vorurteile sind kontraproduktiv. Der notwendige gesellschaftliche Aushandlungsprozess verlangt allen Vernunft, Verantwortung und die Fähigkeit ab, sich in die Schuhe des anderen zu stellen. Identität ist nicht eindimensional und sie entsteht im Miteinander. Sehr persönliche Schilderungen aus den eigenen Lebensläufen sowohl von dem Ostdeutschen Pollack als auch von dem Muslim Khorchide zeigten die Gefahr einer Stigmatisierung auf.
„Erst nach dem Mauerfall, durch den Blick der Westdeutschen, wurde ich zum Verteidiger der Ostidentität, die ich nie empfunden hatte“, sagte Detlef Pollack. Ganz ähnliche Effekte berichtete Mouhanad Khorchide, der von konstruierten Fronten sprach und der Stigmatisierung als Opfer; das verstärke auch bei liberalen Muslimen wie ihm das Zugehörigkeitsgefühl zu einer gefährdeten Gruppe.
Die „moralische Einteilung unserer Gesellschaft“ sei „das eigentliche Problem“, sagte der Islamwissenschaftler, und der Soziologe unterstrich, dass im West-Ost-Konflikt die Mehrheitsgesellschaft ihre Lernfähigkeit bewiesen habe. Er erinnerte daran, dass Identität nach Niklas Luhmann nicht einfach da ist, sondern sich im Umgang mit anderen herausbildet. Und auch Wolfgang Thierse betonte, dass Identität „im Blick der anderen entsteht“.
Er leitete daraus ab, dass es ohne kulturelle Aneignung keine Kultur gebe. Das sei „immer am Rande von Verletzungen, aber es geht nicht anders“. Von Vorurteilen über Differenzierung zu Urteilen zu gelangen, seien langwierige Prozesse, die Geduld erforderten. Da dürfe man keine falschen Fronten errichten und sich auch „nicht Gruppenlogiken unterwerfen“. Betroffenheit sei in Argumente zu übersetzen. Mit der Haltung: Nur weil ich Opfer bin, habe ich schon Recht – werde es nicht gehen.
Umgekehrt dürfe Betroffenheit keine Kategorie sein, die das Mitsprechen ausschließt, argumentierte Geier. Es sei durchaus produktiv, individuelle Erfahrungen in den Diskurs einzubringen. „Wir sind betroffen“, sagte sie, „im Sinne von: das geht mich etwas an.“
Nicht über die Menschen, sondern mit den Menschen zu reden, empfahl Mithu Sanyal, und als Wolfang Thierse sagte, Indianerspielen sei „nicht verdammenswert“, entgegnete sie, das zu beurteilen, brauche mehr historisches Wissen. „Wir sagen Euch, wer Ihr seid“, sei die Haltung des Kolonialismus, befand Sanyal und führte an, in Deutschland gebe es bis heute „vier Kolonialdenkmäler, aber nur ein Anti-Kolonialdenkmal“.
Zu einem anderen aktuellen Beispiel, dem so genannten Blackfacing, bei dem weiße Schauspielspieler ihr Gesicht schwärzen, um die Rolle eines Schwarzen zu spielen, bezog Geier dezidiert Stellung. Eine entsprechende Satire, die der Bayerische Rundfunk kürzlich nach scharfer Kritik zurückzog, wäre besser gar nicht erst ausgestrahlt worden. „Es gibt keine produktive, nicht rassistische Verwendungsweise von Blackfacing.“ Das Argument, Schauspieler könnten in jede Rolle schlüpfen, ließ Geier nicht gelten. Nein, Weiße können nicht alles machen. Solange jedenfalls nicht, bis im Theater wirklich alle alles machen könnten.
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