Wer das Buch von Miriam Gebhardt „Unsere Nachkriegseltern“ liest, den beschäftigt automatisch die Frage, wie unsere, meine Eltern-Jahrgang 1900/1901- uns, mich, Jahrgang 1941, mitten im 2.Weltkrieg geboren, geprägt haben. Deshalb habe ich das Buch aus meiner Geschichte als Kind gelesen, nachgedacht, wie das war, als ich Kind war und wie die Verhältnisse damals waren. Ich habe all die wichtigen Geschichten der Historikerin Gebhardt, basierend auch auf Studien und Umfragen, nicht aus der Warte des Vaters gelesen, der ich erst 1974 wurde. Meine Bemerkungen zu dem Buch sind also aus einem anderen Blickwinkel.
Die Verhältnisse damals, gegen Ende des Krieges, waren bescheiden. Wir bewohnten auf dem Land, am Rande des Ruhrgebiets, eine Wohnung mit Wohnküche und Wohnzimmer und zwei Schlafzimmern. Wir waren sieben Personen. Man musste also zusammenrücken, Rücksicht nehmen. Es gab einen Ofen in der geräumigen Wohnküche, in der sich auch ein Waschbecken befand, Badezimmer gab es nicht, aber ein Plumpsklo, draussen eine Pumpe. Romantisch, mögen Sie sagen, aber das war es nicht. Der Ofen, beheizt mit Holz und Briketts, befand sich zwischen Küche und Wohnzimmer, das nur an Sonn-und Feiertagen betreten wurde oder wenn hoher Besuch kam. Jahre später, der elektrische Strom war ziemlich billig, da mein Vater bei der VEW beschäftigt war, wurden Heizgeräte angeschafft, um die oberen Räume im eiskalten Winter ein wenig zu wärmen. Damals lernte ich das Lied „Blumen blühen an Fensterscheiben, sind sonst nirgends aufzutreiben“. Die Straße war teil gepflastert, teils irgendwie mit Schotter befestigt, Asphalt kam später. Der Weg zur Volksschule war etwa zwei Kilometer weit, zu Fuß brauchte ich 20 Minuten. Teils lief ich mit Nachbars Kindern um die Wette. Ein Kinder-Fahrrad hatte niemand, vom Auto ganz zu schweigen. Der erste aus der Verwandtschaft, der sich ein Auto, einen Opel Olympia, leisten konnte, war ein Onkel aus Hamm, er war Rechtsanwalt, Jahre später kreuzte er mit einem Mercedes Cabrio auf. Ich erzähle das, weil heute vieles anders ist, trotzdem einigen nicht genug, weil sie nicht wissen, wie es war, als sehr viele wenig hatten und doch zufrieden waren.
Die Autorin schreibt vom erhöhten Sicherheitsbedürfnis damals, von dreifachen Schlössern. Unsere Haustür, durch die man Zugang zu drei Wohnungen in Parterre bekam, war durch ein einfaches Schloss zu schließen. Wenn man am Abend vergaß, den Schlüssel umzudrehen, hätte jeder ungehindert in jede Wohnung gehen können. Angst hatten wir nicht, Einbruch gehörte nicht zum Alltag. Gelebt wurde sparsam, das stimmt, wer einen Garten hatte, der hatte Gemüse und Obst, Kartoffeln vor allem, Wirsing, Kohl, Äpfel, Erdbeeren, Birnen, Stachelbeeren. Wir haben nicht gehungert, aber die Verhältnisse waren nicht üppig. Es gab nicht jeden Tag Fleisch. Der nächste Lebensmittelladen war 1,5 Kilometer, der Bäcker rund 500 Meter entfernt. Dort ließ meine Mutter anschreiben, bezahlt wurde am Ende des Monats. Das war keine Ausnahme. Ich sah den großen Zettel, auf dem die Bäckerin mit der Hand die Namen und Kosten notierte. Gern begleitete ich die Mutter, weil ich dann ein Stück Nussecke geschenkt bekam, ähnlich wars beim Metzger, da gab es eine Scheibe Wurst.
Mit Stock und Schlägen
Die Erziehung in der Schule war autoritär, der Lehrer hatte das Sagen. In der Volksschule, so hieß das damals, verschaffte sich mancher Lehrer auch mit dem Stock und Schlägen Gehör und Respekt. Zu Hause wurde das durchaus akzeptiert, wer dagegen protestierte, musste damit rechnen, noch zusätzlich eins hinter die Löffel zu bekommen. Das Schulessen war gewöhnungsbedürftig, nicht jedem bekam der Eintopf, den man auch als Frass bezeichnen konnte. Die Kirchen waren voll, als Kind war im Grunde ein jeder Schüler Messdiener, manchmal schon vor der Schule im Schwesternheim. Der Pfarrer war eine Respektsperson, fast heilig. Die Autorin spricht von patriarchalischer Familienpolitik, der Vater hatte das Sagen in den eigenen vier Wänden. War halt so.
Die Gegend, in der ich groß wurde, am Rande von Recklinghausen, unweit des Schiffshebewerks, war damals konservativ, parteipolitisch pechschwarz, man wählte CDU, Konrad Adenauer war der große Kanzler. Der Alte hatte es auch in dieser Ecke Deutschlands geschafft, jede Debatte über die Nazizeit abzuwürgen. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendwer mal darüber gesprochen oder dass es Diskussionen gegeben hätte. Wenn die Männer bei Geburtstagen ein paar Biere getrunken hatten, sangen sie „Und wir fahren gegen Engelland“. Der Holocaust war hier kein Thema, die Verwüstung des Landes durch den Krieg nahm man hin, die Vertriebenen wurden nicht willkommen geheißen, man hatte ja selbst kaum was. Gewiss waren auch in diesem Dorf und anderen Gemeinden die Nazis nach 1933 die alles beherrschende Partei, auch hier muss die große Mehrheit Mitglied der NSDAP gewesen sein, aber ich habe in all den Jahren keinen leibhaftigen einstigen Nazi kennengelernt. Dagegen hielt man einen Nachbarn aus welchen Gründen auch immer für einen Kommunisten. Und die waren ja schnell nach dem Krieg zu den Erfindern des Bösen erklärt worden, weil sie in Berlin waren und die DDR besetzt hatten. Der Russe stand immer vor der Tür, obwohl ihn bei uns kaum jemand zu Gesicht bekam. Dass dieser Russe aktiv und unter hohen menschlichen Verlusten an der Befreiung Deutschlands von der Nazi-Diktatur beteiligt war, darüber sprach niemand. Selbstgerecht war man. Die SPD wurde bezichtigt, es mit den Russen zu halten, Adenauer unterstellte Willy Brandt und der SPD, dass Moskau einen Teil des Wahlkampfs angeblich bezahlt habe. Was glatt gelogen war, aber es half: 1957 errang die Union die absolute Mehrheit. Einige Jahre später folgte die nächste üble Nachrede des Bundeskanzlers Adenauer über Brandt, alias Herbert Frahm, weil er ein uneheliches Kind war. Und natürlich war für viele Herbert Wehner immer noch der Kommunist, der nur das Hemd gewechselt hatte. Da konnte man ins Grübeln geraten, wenn man an all die Wandlungen dachte nach 1945, als plötzlich nahezu alle nur noch Widerstandskämpfer waren. Wo waren die braunen Hemden geblieben?
Der Mann war der Herr im Haus
Reden wir über die patriarchalische Familienpolitik in den 50er und 60er Jahren. Der Mann als Patriarch, der Herr im Hause. Wenn eine Frau sich scheiden lassen wollte, musste sie nachweisen, dass der Mann sie fehlerhaft behandelt hatte. Gelang der Nachweis nicht, erlosch ihr Anspruch auf gemeinsame Besitztümer, Unterhalt oder spätere Witwenrente. Oder wie war das mit Sex? Die Nation empörte sich über Hildegard Knef, die im Film „Die Sünderin“ die Hauptrolle spielte. Beim Namen Beate Uhse haben die meisten Männer und Frauen damals einen roten Kopf bekommen. Sex, das war ein Unthema, das gebeichtet werden musste. Wer das heute liest und an die Vergehen der Pfarrer und Bischöfe denkt, kann darüber nur müde lächeln. Welche Heuchelei verbarg sich dahinter? Nein, das sogenannte Wirtschaftswunder war nicht für jeden das goldene Zeitalter. Von Gleichberechtigung war keine Rede. Wenn eine Frau schwanger wurde und nicht verheiratet war, schaute das Dorf sie an, als hätte sie etwas Schlimmes getan. Die Autorin betont, wie wichtig die Unabhängigkeit der Frau vom Ehemann war, vor allem der eigene Beruf machte sie ein Stück weit selbstständiger und unabhängiger vom Mann. Aber so einfach war es nicht, eine Ausbildung zu absolvieren oder gar zu studieren, es sei denn, die Eltern hatten das nötige finanzielle Rüstzeug dazu. Oder die Eltern wollten unbedingt, dass zumindest die Söhne das Abitur machten und studierten. Letzteres war auch dadurch möglich geworden, weil die SPD immer stärker wurde und propagierte: Aufstieg durch Bildung, auch Kinder von Arbeitern sollten zur Hochschule gehen können. Die Ruhr-Universität Bochum entstand in den 60er Jahren.
Sei erfolgreich und bekoche deinen Mann, liest man in dem Buch. Und man liest von der Gefühlstaubheit der Wiederaufbau-Gesellschaft und dann von zunehmenden Liberalisierungsschüben in Gesellschaft wie im Privatleben. Die protestierenden Studenten ab Mitte der 60er Jahre- Grund war die Bildungsmisere und der Lehrermangel- sorgten für manche Reformen in der Gesellschaft, die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt hielten der Gesellschaft 20 Jahre nach Kriegsende den Spiegel vor. Plötzlich erfuhr man, was viele zuvor nicht wissen und hören wollten: die Nazis hatten sechs Millionen Juden ermordet, der von ihnen entfesselte Weltkrieg hatte 55 Millionen Menschen das Leben gekostet, Millionen Deutsche waren Mitglied der NSDSAP gewesen, nicht alle nur als Mitläufer, viele waren begeisterte Nazis gewesen, hatten ihre Nachbarn hingehängt, Hitler zugejubelt. Aus dem Land der Dichter und Denker war das Land der Richter und Henker geworden. Ende der 70er Jahre kam dann der Film Holocaust in Deutschlands Wohn- und Fernsehzimmer. In meiner Schulzeit war das alles kein Thema.
Die Autorin des Buches, die Historikerin Miriam Gebhardt- sie lehrt in Konstanz- stützt ihre Geschichten auf wissenschaftliche Erkenntnisse, sie erzählt autobiographische Anekdoten und zitiert Einträge aus dem deutschen Tagebucharchiv. Aus allem ist eine deutsche Geschichte geworden, auch eine Geschichte deutscher Familien, wie sie gelebt haben. Und der Leser stellt sich die Frage, die ich zum Titel meiner etwas anderen Buchbesprechung gemacht habe: Wie wir wurden. Vieles hat sich seit dem geändert, das Bild der Familie, die Bedeutung der Kirche, der Parteien, die Erziehung, die Sexualität. Es ist ein besonderes Buch, sehr zu empfehlen auch jenen, die ihren Eltern nie die entscheidenden Fragen gestellt haben. Aus Respekt, aus Ehrfurcht. Auch ich habe meine Eltern zum Beispiel nie gefragt, wie das war in der Nazizeit und welche Rolle sie gespielt haben, ob sie in der Partei waren. Letzteres habe ich ihnen einfach nicht zugetraut, weil sie eine Haltung hatten, ehrlich waren, anständig, anderen geholfen haben.