Mich hat der Titel des Buches von Daniel Schulz „Ich höre keine Sirenen mehr“ dazu verleitet, das Buch zu bestellen. Sirenen, das kenne ich aus dem letzten Krieg, dem Zweiten Weltkrieg. Jahrgang 1941, war ich also etwa drei Jahre alt, als ich hörte, wie die britischen und amerikanischen Flugzeuge übers Ruhrgebiet donnerten und im Anflug auf Bochum, Dortmund, Essen in die Tiefe stürzten und ihre Bombenlast auf das industrielle Herz des Reichs abwarfen. Wir wohnten am Rande des Reviers in einem kleinen Dorf namens Henrichenburg. Wenn die Sirenen heulten, packten mich die Eltern und die anderen älteren Geschwister, um durch den Garten des Nachbarn rennend, den kleinen Bunker zu erreichen. Viel mehr habe ich als Kind von diesem Krieg nicht mitbekommen, natürlich verstand ich ihn nicht, aber das Heulen der Sirenen blieb in meinem Gedächtnis. Bis heute.
Daniel Schulz, 1979 in Potsdam geboren, preisgekrönter Autor der taz, beschreibt den Alltag des Kriegs, wie sich die Menschen in der Ukraine organisieren, damit sie sich wehren können gegen den russischen Aggressor. Das Erstaunliche ist ja, wohl auch für den russischen Präsidenten Putin, dass sich die viel kleinere Ukraine-gewiss mit Hilfe westlicher Waffen- gegen die Übermacht aus dem Osten so tapfer schlägt und den Russen nicht nur Paroli bietet, sie aufhält, sondern sie sogar zurückwirft aus schon eroberten Regionen. Die Weltmacht Russland beißt sich die Zähne aus an dem kleinen Nachbarn, mit dem man früher brüderlich und schwesterlich verbandelt war in der Sowjetunion, aber nicht nur so. Schulz kennt das Land und er kennt dort Leute, er hat Bekannte und Freunde, er hat die Ukraine immer wieder bereist und mit Studenten, Künstlern, Zivilisten also, und Soldaten gesprochen. Er erfährt und schildert, wie die sich seit Jahr und Tag zusammentun, um die Invasoren an ihrem Ziel zu hindern, das ganze Land zu unterwerfen.
„Es gibt keine landesweite Koordination, keine Dachorganisation, die meisten dieser kleinen Gruppen wissen gar nicht voneinander. Manchmal versuchen sie tagelang, dasselbe zu besorgen oder schicken Fahrer an dieselben Orte“. Schreibt Schulz und benennt das die „Ukrainische Anarchie.“ Russland, zitiert Schulz eine gewisse Lizza, „wird uns niemals besiegen. Wenn eine Gruppe ausfällt, machen die anderen einfach weiter.“ Die ukrainische Anarchie, das sei eine Geschichte, die Ukrainerinnen und Ukrainer gern über sich selbst erzählten. Dieses Narrativ entfalte jetzt im Krieg „seine Wirkung als Erklärung und Motivation für das eigene Handeln. Weil die Ukrainer „im Notfall in der Lage sind, zusammenzuarbeiten wie ein Bienenschwarm“
Anarchie-Erzählung
Die Anarchie-Erzählung grenze die Verteidiger ab von den Russen, dessen Präsident den Menschen in der Ukraine ihre Identität und Eigenständigkeit abspreche. „Uns verbindet gar nichts mit den Russen“, lässt Schulz Lizza sprechen. „Wenn ich die sehe, wie sie den Krieg führen- wie ferngesteuerte Zombies. Die ducken sich nur vor Angst, die sind gar nicht in der Lage, sich selbst so zu organisieren wie wir.“ Weil die Ukrainer wissen, wofür sie kämpfen und wogegen, sie haben etwas zu verlieren, Leben, Freiheiten. Selbständigkeiten. Die Russen, da sind sie sich einig, „wollen alles Ukrainische töten, die sind verrückt“, sagt Lizza.
Sie führen den Krieg, anders als wir es im Westen wahrgenommen haben, schon seit 2014. Ein Zermürbungskrieg im Donbass, im Osten des Landes, ein verlustreicher Krieg für beide Seiten. Vor Putins Invasion habe es 150 Nichtregierungsorganisationen und kirchliche Gruppen gegeben, danach wären weiter 1700 gegründet worden. Daneben gebe es vielleicht Tausende, die nirgendwo registriert seien, die nur kurz bestünden, die nicht einmal einen Namen hätten. Heißt auch: Jeder packt mit an, die einen an der Front und die anderen zu Hause oder unterwegs, damit das Leben weitergeht, damit Putin nicht siegt. Humanitäre und militärische Hilfe. „Jede ukrainische Küche ist ein Krisenzentrum“, sagt eine Darya Bassel.
Daniel Schulz ist im Land unterwegs gewesen und bringt die Menschen, die Freunde und Bekannten zum Reden über das Leben mit dem Krieg. Denn sie wollen ja Überleben und am Ende gewinnen, sie wollen ihre Ukraine für sich behalten und sie nicht den Russen überlassen. „Krieg und Normalität, Alltag und Ausnahmezustand, sie sind nicht so trennscharf geschieden, wie es in westeuropäischen Filmen vom Sturm auf die Normandie oder den Kämpfen um Berlin oft erscheint, diese Zustände fließen ineinander.“ Beschreibt Schulz. Es schlagen russische Raketen ein, töten und zerstören, man hört die Sirenen des Luftalarms, dann sind da die Schrecknisse von Buchta und Irpin mit den Verbrechen russischer Soldaten an Ukrainerinnen und Ukrainern, Leichen, von der Polizei entdeckt, und dann gibt es wieder so etwas wie normales Leben in Städten, wird sogar ein Parkverbot eingehalten, es fahren Taxis in Lwiw, es haben Cafés bis neun Uhr abends geöffnet, als gäbe es hier keinen Krieg.
Es geht um die Deutungshoheit
Schulz beschreibt, wie in diesem Krieg um die Deutungshoheit gerungen werde, wie in jedem Krieg, wo gelogen wird, dass sich die Balken biegen. Moskau und Kiew versuchen der Welt ihre Sicht der Dinge zu erzählen. Und Schulz betont, dass man nicht mit gleichen Mitteln arbeite, dass „das Lügen russländischer Offizieller zu den Massakern ihrer Armee an Zivilisten in Irpin und Buchta, zu Folter in den besetzten Gebieten, dass es dieses Lügen von ukrainischer Seite nicht gibt. Allein schon deswegen nicht, weil deren Armee solche Verbrechen, Stand heute, nicht begangen hat.“ Bisher „gelten nur einzelne Kriegsverbrechen ukrainischer Soldaten gegen russländische Kriegsgefangene als bewiesen oder sehr wahrscheinlich. Dazu zählen beispielsweise die Schüsse auf Beine von Kriegsgefangenen im Dorf Mala Rohan, östlich von Charkiw.“
Es ist ein bemerkenswertes Buch, das einen mitnimmt und tief beeindruckt, weil der Autor vor Ort war. So schreibt er, „diesen Krieg, die Verheerungen der Invasion seit Februar 2022 erst hier im Ansatz zu verstehen. Selbst das Schild an der Bushaltestelle hat Einschusslöcher.“ Schulz ist ein guter Beobachter, der die Kleinigkeiten notiert und sie dem Leser offeriert: Bilder von Küchenschränken, die über Abgründen hingen, die dort klafften, wo einmal Menschen an einem Tisch gegessen oder an einem Herd gekocht hätten. „Vergangenheit und Gegenwart, sie fließen hier ineinander. Und die Zukunft auch. Die scheinbare Normalität in Zeiten des Krieges, die geöffneten Geschäfte und Cafés, die lachenden Ukrainerinnen und Ukrainer auf den Straßen ihrer Städte, das kann eine Hoffnung erzeugen, eine Illusion nähren, dass es mit diesem Krieg vielleicht doch gar nicht so schlimm sei.“ Trotz aller Schrecken. Die „simulierte Normalität kann stärker sein“. Vielleicht ist es das, was die Stärke der Ukraine ausmacht.