Wer aus dem Osten Deutschlands kommt, gehört zur zweiten Klasse, früher hätte man gesagt, der fährt Holzklasse, wenn man ihn überhaupt im Zug mitgenommen hätte. Ossi, das heißt frei nach Dirk Oschmann, weniger Geld, weniger Beziehungen, nur Nachteile, weniger Anerkennung. Die Ossis sind demnach eher Populisten, haben wenig Verständnis für Demokratie, sind anfällig für Rassismus und die meisten von ihnen sind arm. Dazu noch der sächsische Dialekt und der Topf mit den Vorurteilen über unsere Nachbarn aus den fünf neuen Ländern ist voll. Wir im Westen haben keinen Grund, uns über den Osten zu erheben oder verächtlich auf ihn zu schauen.
„Der Osten- eine westdeutsche Erfindung“. Sagt der Autor des gleichnamigen Buches, der selber ein Ossi ist, geboren 1967 in Gotha, Kind einer Arbeiterfamilie. Er möge mir die Formulierung Ossi verzeihen. Dirk Oschmann hat Germanistik, Anglistik und Amerikanistik in Jena und New York studiert, ist Literaturwissenschaftler und Publizist. Er ist für die Einheit, kennt die Welt und hält uns aus dem Westen mit seinem Buch den Spiegel vor. Er sagt uns, wer wir sind und was wir mit dem Osten, der einstigen DDR, gemacht haben. Wir haben sie einfach kassiert, übernommen, sie traten bei. Ohne dass sie über die Verfassung abgestimmt hatten. Selbst die Hymne übernahmen sie. Warum eigentlich diskutierten wir nicht gemeinsam über die künftige Verfassung der neuen und größeren Bundesrepublik? Weil es Helmut Kohl nicht wollte, der Kanzler der Einheit, wie er sich nannte und wie ihn seine Wählerinnen und Wähler nannten. Ich erinnere mich an Gespräche mit Hans-Jochen Vogel, den SPD-Fraktions- und Parteichef. Der war für eine Debatte über die Verfassung, darüber, dass die Deutschen aus Thüringen und Sachsen mitreden sollten über die künftige Verfassung, über Ergänzungen, Veränderungen. Warum hat keiner vorgeschlagen, wir könnten doch die DDR-Hymne übernehmen: Auferstanden aus Ruinen und dazu die Musik von Josef Haydn spielen? Es musste alles schnell gehen, hieß es damals. Es wächst zusammen, was zusammen gehört, wie es Willy Brandt ausdrückte oder war es doch eher so, dass zusammenwucherte, was lange getrennt war.
Der Westen als Vorlage
Oschmann beklagt das. Er kritisiert zu Recht, dass der Westen das Kriterium war, die Vorlage für den Osten. Die Werte des Westens, sie galten. Ohne Diskussion. Der Westen diktierte, was zu geschehen hatte, sag ich ergänzend zu Oschmanns Verriss. Die im Osten verdienten-pardon sie bekamen weniger Geld, weniger Rente, die schlechteren Jobs. Spitzenjobs im Osten wurden von Wessis besetzt, die Medien im Osten, in westdeutscher Hand. So war es und so ist es. Ein Beispiel: Die WAZ(für die ich ein halbes Leben gearbeitet habe), die heute als Funke-Mediengruppe bekannt und sehr erfolgreich ist, bekam Thüringen. Andere Verlage aus dem Westen bekamen andere einstige DDR-Zeitungen. Sie hatten das Geld. Und entschieden wurde in Bonn, der politischen Hauptstadt nach dem Krieg bis zum Umzug der Regierung Schröder/Fischer 1999.
Mir hat das Buch gefallen, auch wenn es einseitig ist, auch wenn Oschmann bewusst nicht differenziert. Das wollte er nicht, er wollte uns die Sachen unter die Nase halten, die ihn stören und die Menschen im Osten stören, weil sie dadurch kleiner gemacht wurden und werden, als sie es waren und sind. Dass sie das teils als Erniedrigung ansehen, kann ich verstehen, als Demütigung. Oschmann formuliert scharf, klar, verständlich. Man liest das Buch mit seinen 200 Leseseiten quasi in einem Zug.
„Der Osten hat keine Zukunft, solange er nur als Herkunft begriffen wird.“ Steht auf dem Klappentext des Buches.. Oschmann will uns die Augen öffnen, klagt an, dass auch über 30 Jahre nach dem Fall der Mauer der Westen die Norm ist, nach der sich der Osten zu richten hat. Er liefert dem Leser eine Fülle von Beispielen. Der Bundesliga-Klub RB Leipzig gelte als Dosenklub und als der meistgehasste Fußballverein Deutschlands. Schreibt Oschmann. Immerhin sind sie Pokalsieger, in der Liga auf Platz drei hinter den Bayern und Dortmund. Warum pfeift man Leipzig aus wegen Red Bull, dem Getränk aus Österreich, während der mächtige FC Bayern sich von Katar sponsern ließ? Was aber jetzt beendet ist. Gazprom hat Schalke finanziert. Ist das etwa besser? Oder nehmen wir Berlins Hertha mit einem wie Windhorst, oder den HSV mit Kühne. Wir gehen ziemlich schnell über unsere Doping-Fälle im Sport hinweg, während wir das in der DDR als System verurteilt haben, das ihre Erfolge einst möglich gemacht habe. Ist West-Doping besser als Ost-Doping?
Die Unterschiede, die Oschmann beschreibt, sind in der Tat mit Händen zu greifen. Im Verdienst, im Vermögen, in den Erbschaften, in den Autos, in den Wohnungen, im Auftreten. Beispiel Erbschaften: In Bayern und Baden-Württemberg erbt man pro Kopf rund 175000 Euro, In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg sind es 23000 Euro. Es handelt sich um Zahlen der Deutschen Bundesbank. Im Osten verdient man im Schnitt 22,5 Prozent weniger Geld- über 30 Jahre nach der Einheit. Gerecht? Im Jahr 2020 lag die Armutsgefährdungsquote in Leipzig bei 22,7 vh, in Frankfurt bei 19 vh. Dabei ist Leipzig eher als Highlight anzusehen, als Stadt, die herausragt und eher über dem Durchschnitt des Ostens liegt.
Verzicht auf Relativierung
Bewusst verzichtet der Autor auf jede Relativierung. Oschmann zitiert den Publizisten Arnulf Baring, der ziemlich unflätig 1991 die Ostdeutschen beschrieben hat: „Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar. Viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktgesellschaft einbringen könnten.“ Und Oschmann fügt dem üblen Satz hinzu: „Offenbar für Aussagen wie diese hat Baring 2004 den Europäischen Kulturpreis für Politik und 2011 das Große Bundesverdienstkreuz erhalten.“ Und der Verleger Wolf Jobst Siedler habe angeregt, der „drohenden Ver-Ostung der BRD sei nur durch eine von westdeutschen Beamten geführte Kolonisten-Bewegung zu begegnen. Im Grunde müsste eine neue Ost-Siedlung stattfinden.“ Das sind verbale Klänge aus Zeiten, von denen ich meinte, dass wir sie hinter uns hätten.
Sprache als Kennzeichen unserer Haltung gegenüber den Ostdeutschen. Ähnlich bewerte ich das, was wir lange als Buschzulage bezeichnet haben, Zulagen für den, der nach drüben ging, Dunkel-Deutschland wurde es genannt. Sollte wohl witzig sein, wurde aber eher als Beleidigung empfunden.
Oschmann hat Recht, wenn er daran erinnert, dass der Westen der Meinung gewesen sei, er müsse sich nicht ändern und könne einfach Westen bleiben, während der Osten natürlich Westen werden sollte. Wobei man von politischer Seite alles daran gesetzt habe, den Osten eigentlich zum Osten zu machen- zu der Region, für die all das Elend steht, Armut, Rassismus, Populismus. Die Eliten kamen aus dem Westen und wurden im Osten wieder die Eliten. Teilhabe am Reichtum des Westens fand nicht statt.
Gleiche Lebenschancen
Das Ziel müsse sein, „gleiche Lebenschancen und Chancenteilhabechancen für alle“ herzustellen, fordert der Autor. Chancen in Ost und West und für Ost und West. Gleiche Löhne für gleiche Arbeit, gleiche Renten, von adäquaten Erbschafts- und Vermögenssteuern ganz zu schweigen. Wörtlich stellt er fest: „Das ist schlicht eine Frage sozialer Gerechtigkeit in einer demokratischen Ordnung.“ Und man sollte aufhören, den Osten immer wieder als Ursprung allen Übels zu bezeichnen. Und man sollte endlich umsetzen, was man 1992 beschlossen hatte: Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen vorrangig im Osten anzusiedeln. Und überhaupt wäre es geboten, das West-Ost-Schema aus dem Sprach- und Schreibgebrauch zu verbannen und stattdessen das ganze Land mit all seinen Reichtümern in allen Regionen zu sehen, den Dialekten, Mentalitäten und Kulturlandschaften.“
Oschmann sieht immer noch, über 30 Jahre nach dem Fall der Mauer und der deutschen Einheit, das Land gespalten. „Wenn wir aus dieser Teilung nicht herausfinden, wird auch das Vertrauen in die Demokratie weiter schwinden und die Gesamtgesellschaft einen Schaden nehmen, der sie langfristig an den Rand ihres Zusammenhalts führen dürfte“. Eine gesellschaftliche Stabilität ist in der Tat kaum möglich, ohne dass wir endlich aufhören, den Osten zu benachteiligen und verächtlich auf ihn herabzublicken. Es sind scharfe Urteile des Dirk Oschmann. Man kann das Buch nur allen ans Herz legen. Diese Debatte, wie der Germanist Oschmann sie in diesem Buch anregt, muss geführt werden. Ob wir damit dem Problem der AfD beikommen, die im übrigen keine Erfindung des Ostens ist und deren Meinungsführer fast alle dem Westen entstammen?