Nach der viel beachteten soziologischen Studie von Steffen Mau über das „Leben in Ostdeutschland“ liegt nunmehr ein Text des Leipziger Germanisten Dirk Oschmann vor, der erschreckende Belege für die systematische Benachteiligung der Ostdeutschen in nahezu allen Lebensbereichen nachweist. Das Besondere beider Studien ist: beide Autoren stammen aus der ehemaligen DDR und können von daher autobiografische und allgemeine Sichtweisen miteinander verbinden. Steffen Mau wuchs in einer Rostocker Plattenbausiedlung auf; Dirk Oschmann in der Kreisstadt Gotha, von wo aus man wenige Kilometer weiter über die A 4 nach Hessen kommt. Hätten die Amerikaner nicht im Sommer 1945 das bereits von ihnen besetzte Thüringen gegen West-Berlin eingetauscht, wären meine Eltern in Thüringen im Westen groß geworden. Geografie als Schicksal.
Oschmanns Anliegen ist es, mit den Deutungsselbstverständlichkeiten, in denen sich der Westen bequem in den letzten 30 Jahren eingerichtet hat, gründlich aufzuräumen. Er schildert in seiner aktuellen Zustandsbeschreibung die Art und Weise, wie der Westen den Osten wahrnimmt und diskursiv zurichtet und rekonstruiert die scheinbar auf Dauer gestellten Zuschreibungsmechanismen, die weitgehend auf Vorurteilen, Stereotypen, Ressentiments, Schematisierungen und anderen diskursiven Mustern beruhen. 17 % der Westdeutschen waren überhaupt noch nie im Osten. Aber 100 % haben zweifellos eine klare Vorstellung von diesem ‚Osten’: meinungsstark, aber ahnungslos. Der ‚Osten’ wird überwiegend als homogenes Gebilde gesehen und steht für das prinzipiell Rückständige, Unkultivierte, Barbarische. Die negativen Zuschreibungen und üblichen Herabwürdigungen wirken offenbar ungebrochen weiter. Bereits Adenauer sprach davon, hinter Kassel beginne die ‚Walachei’ und bei Magdeburg ‚Asien’.Abfällige Äußerungen dieser Art setzen sich bis in die jüngste Gegenwart fort, wie Oschmann an vielen Beispielen aufzeigt. Das gängige Muster sieht so aus: Der Westen begreift sich stets als Norm und sieht den Osten nur als Abweichung, als Abnormalität. Der Osten erscheint als Geschwür am Körper des Westens, das ihm dauerhaft Schmerzen bereitet und das er nicht wieder los wird. Darum stört es den westdeutschen Wohlfühl- und Diskurskonsens.
Besonders drastisch, ja geradezu gnadenlos werden diese Sichtweisen in einem Gespräch des Publizisten Arnulf Baring mit dem Verleger Wolf Jobst Siedler artikuliert.
Baring: Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar. Viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktgesellschaft einbringen könnten.
Dem sei, so lässt sich daraufhin Siedler vernehmen, mit einer von westdeutschen Beamten geführte „Kolonisten-Bewegung“ begegnen. Im Grunde müsste eine neue Ost-Siedlung stattfinden. Es handelt sich wirklich um eine langfristige Rekultivierung, eine Kolonisierungsaufgabe, eine neue Ostkolonisation.
Hier schlägt die ungehemmte Bewunderung für das Dritte Reich durch, das Siedler zufolge ein außerordentlich moderner Staat war, in vielerlei Hinsicht der modernste Staat Europas, wenn man das außermoralisch nimmt.
Beide erhielten übrigens das Große Bundesverdienstkreuz; Baring zusätzlich noch den Europäischen Kulturpreis für Politik.
Als symptomatisch für die Sicht der Medien auf den Osten kann eine SPIEGEL-Ausgabe von 2019 angesehen werden. Der Titel: So isser, der Ossi. Klischee und Wirklichkeit: Wie der Osten tickt – und warum er anders wählt. Dabei setzt schon das Cover die ganze Maschinerie der Herabwürdigung und Häme in Gang; pünktlich 30 Jahre nach dem Fall der Mauer. Oschmann schreibt:
Auf drei Aspekte des Covers möchte ich die Aufmerksamkeit lenken. Erstens auf das Verb ‚ticken’, das im allgemeinen Sprachgebrauch ja selten etwas Positives erwarten lässt. Entweder jemand ‚tickt nicht ganz richtig’ oder eine Zeitbombe ‚tickt’. Beide Varianten werden hier mobilisiert, um nahezulegen, dass der Osten erstens nur als pathologische Abweichung wahrzunehmen und folgerichtig zweitens als hochgradig gefährlich einzustufen ist.
Zweitens fällt auf, dass wieder nur die männliche Version thematisiert wird: der Ossi. Verklemmt soll er sein, verdruckst, schwach, feige, hässlich, dumm, faul, unartikuliert, verhaltensauffällig, radikal, unfähig, fremdenfeindlich, chauvinistisch und natürlich ein Nazi.
Und drittens zeigt das ‚Spiegel-Cover’ ein schwarzrotgoldenes ‚Anglerhütchen’. Was es zu verstehen geben soll, steht außer Frage. Es dient, kurz gesagt, Als Sinnbild für Nationalismus, provinzielle Beschränktheit, Primitivität und obendrein für billigen, schlechten Geschmack.
In der Regel sind es gut etablierte ‚Westmänner’, die sich über das Hauptfeindbild ‚Ostmänner’ in dieser Weise öffentlich und ungestraft lustig machen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben sie die Macht und besetzen die relevanten Positionen in Politik, Wirtschaft, Medien, Justiz, Wissenschaft, Militär und so weiter, also in allen gesellschaftlichen Teilbereichen.
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Wie kommen derartige Meinungen über „den“ Osten zustande, fragt sich der Autor und folgert: Die Chefredaktionen aller großen Zeitungen und Medien werden von Westdeutschen geleitet. Gerade hat der RBB, eine der beiden großen ARD-Medien-Anstalten im Osten, die alte, aus Hannover stammende Chefin Patricia Schlesinger wegen dubioser Praktiken entlassen müssen – und stellt wen ein? Die nächste Frau aus dem Westen.
Oschmann weist darauf hin, dass selbst die Chefposten sämtlicher größeren Regionalzeitungen von Westdeutschen besetzt werden: mit deren Perspektiven, Überzeugungen und Agenda; hinzu kommt, dass fast keine der größeren Zeitungen Regionalbüros unterhält, über die sich ein dauerhafter Bezug zur Lebenswelt vor Ort herstellen ließe. Die Generalaussprache, das politische Bewusstsein, die soziale Erinnerung, alle Selbstverständigung, die sich eine ganze Bevölkerung erobert hatte, verwandelte sich in Entmündigung und Belehrung. In den Worten von Jürgen Habermas: Es gab vor der Wende keine Öffentlichkeit und danach auch keine.
Der Autor sieht in der strukturellen, institutionellen und vor allem personellen Benachteiligung des Ostens eines der größten Konfliktfelder der latenten und manifesten Ost-West-Spaltung. Der Anteil Ostdeutscher in Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz, Medien und Wirtschaft beläuft sich derzeit auf durchschnittlich 1,7 %. Zum Beispiel wird nur eine der 108 deutschen Universitäten von einer Ostdeutschen geleitet.
Angesichts dieses nahezu vollständigen Totalausschlusses könnten sich die Ostdeutschen nur verhöhnt vorkommen, wenn in Sonntagsreden und zu anderen Anlässen von ‚Diversität’, Integration, Inklusion gesprochen wird, weil er niemals mitgemeint ist.
In Zahlen und Fakten zeigt sich die systematische Benachteiligung des Ostens etwa bei den nach wie vor bestehenden Lohnunterschieden. Im Durchschnitt betragen sie 22,5 % – wohlgemerkt: für die gleiche Arbeit. In bestimmten Branchen gewinnt man den Eindruck, beim Osten handele es sich um ein Billiglohnland. Im Texttilbereich beträgt der Unterschied 69,5 %; in der Autoindustrie 41,3 %; im Maschinenbau 40,4 %; in der Herstellung von IT-Gütern 39,8 %; in der Schifffahrt 38,9 %. Hinzu kommt, dass die Ostdeutschen signifikant weniger oder kein Weihnachtsgeld bekommen.
Natürlich verweisen die Bescheidwisser aus dem Westen gern auf die geringeren Lebenshaltungskosten im Osten; allerdings liegen z.B. die Energiepreise in Thüringen und Sachsen über denen in Hamburg oder Bayern und das Leben in Großstädten wie Dresden, Leipzig, Rostock, Erfurt, Potsdam oder Jena ist ähnlich teuer wie das in westlichen Großstädten.
Gavierender dürfte sein, dass sich seit über 30 Jahren die großen Firmen im Osten fest in westdeutscher Hand befinden und die Zahl der im Osten sozialisierten Firmenvorstände bei unter einem Prozent liegt.
Das Prinzip: gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist eine Frage der Gerechtigkeit. Es sollte für Frauen genauso gelten wie für Ostdeutsche. Und vor allem muss auf die Folgen dieser Entwicklung hingewiesen werden: niedrige Löhne wirken sich auf die späteren Renten aus; es ist nahezu unmöglich, Vermögen zu bilden und dauerhafte Armut kommt im Osten sechsmal so oft vor wie im Westen – mit allen Folgen, die das für die Lebensaussichten und –chancen der nachfolgenden Generation hat.
Derartige Erscheinungen führen dazu, dass mittlerweile nur noch 39 % der Ostdeutschen Vertrauen in die Demokratie äußern (im Westen sind es 59 %). Die Differenz in Sachen Demokratie erschreckt und empört den Westen, die Differenz in Sachen Bezahlung jedoch nicht. Das eine wird ausführlich kritisch kommentiert und als Beweis für die angeblich demokratiefeindliche Ausrichtung des Ostens interpretiert, das andere hält der westliche Normalismus für ‚normal’ und gerechtfertigt, sofern es ihn überhaupt interessiert. Als gäbe es zwischen der Demokratiefrage und der sozialen Frage keinen elementaren Zusammenhang.
Hinsichtlich des von westlicher Seite häufig erhobenen Vorwurfs des mangelnden Demokratieverständnisses oder gar der Demokratieunfähigkeit weist der Autor darauf hin, dass man Leuten, die, teils mit hohem persönlichen Risiko, eine Diktatur in die Knie gezwungen haben, nicht erklären muss, was Demokratie ist. Ja man kann sogar sagen, dass der Osten die Demokratie besser versteht, weil er sie sich erkämpfen musste, statt sie von den Amerikanern geschenkt bekommen zu haben.
Nach Oschmann ist auch die Demokratiegeschichtsschreibung eine Erzählung der Sieger; wie die Demokratie zustande gekommen ist, interessiert da wenig. Was die politischen Erfahrungen des Ostens angeht, stellt er fest, dass der Osten nicht nur die Diktaturerfahrung hat, sondern auch eine Revolutions- und Umsturzerfahrung sowie viel zu kurze Erfahrungen in unmittelbarer Basisdemokratie. Und seit den 90er Jahren dann die Erfahrung mit der gegenwärtigen Spielart der Demokratie. All das lässt die Leute die Dinge oft schärfer sehen als viele im Westen meinen. Denn er hat kurz entschlossen die ‚Selbstbefreiung des Ostens’ als ‚Sieg des Westens’ interpretiert und dergestalt noch den Neoliberalismus gestärkt.
Seither mache der Osten die Erfahrung, von der wirklichen Gestaltung der Demokratie im Grunde ausgeschlossen zu sein, weil es zwar formale, reell aber nur wenige Chancen auf Teilhabe, Repräsentativität, Einstieg oder gar Aufstieg in gesellschaftlich relevante Teilsysteme gibt, von Macht, Geld und Einfluss ganz zu schweigen. Bei vielen Ostdeutschen dürfte die Enttäuschung und Wut über diese Entwicklungen dazu geführt haben, rechts zu wählen. Ähnliches hat Didier Eribon für Frankreich festgestellt, wo viele ehemals kommunistische und sozialistische Wähler mittlerweile Le Pen wählen. Auch die Wahlergebnisse im Osten zeigen, dass es oft Wähler der Linken sind, die in letzter Zeit die AfD wählen.
Oschmann weist darauf hin, dass die AfD keine ‚Ostpartei’ ist, wie viele zu meinen scheinen. Die AfD war eine Westgründung, gar eine westdeutsche Professoren-Partei, sie hat mit Ausnahme von Tino Chrupalla auch eine komplett westdeutsch besetzte Führungsspitze, obwohl inzwischen einige dieser bundesweit bekannten Politiker im Osten wohnen. Alle kamen oder kommen sie aus dem Westen, Bernd Lucke, Alexander Gauland, Jörg Meuthen, Alice Weidel, Beatrix von Storch, Andreas Kalbitz, Gottfried Curio, Björn Höcke, der sogar offiziell und öffentlich als ‚Faschist’ bezeichnet werden darf und natürlich kommt auch der rechte Vordenker Götz Kubitschek aus dem Westen, pikanterweise und nicht zufällig aus dem deutschen Südwesten, dem Eldorado für Verschwörungstheoretiker. Selbst der bekannte FDP-Politiker Thomas Kemmerich, berüchtigter AfD-Kooperator und Thüringer Kurzzeitministerpräsident, kommt aus Aachen, dem Westen des Westens. Dennoch wird die AfD vornehmlich als Partei des Ostens wahrgenommen, dessen Ansehen dadurch zusätzlich beschädigt wird.
Zusammenfassend stellt der Autor fest, dass der Osten im herrschenden Diskurs vor allem mit Hässlichkeit, Dummheit, Faulheit, Rassismus, Chauvinismus, Rechtsextremismus und Armut assoziiert wird, also Scheitern auf ganzer Linie. Diesen erfolgreich eingeführten Zuschreibungen steht die Selbstwahrnehmung des Westens gegenüber, der mit Schönheit, Klugheit, Fleiß, Weltoffenheit, Liberalität, Demokratie und Reichtum, also Erfolg auf ganzer Linie verbunden wird.
Dass ausgerechnet der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck das Bild vom Osten mitgeprägt hat, soll nicht unerwähnt bleiben. Er und Angela Merkel werden gern als Positivbeispiele für die Aufstiegschancen Ostdeutscher zitiert. Frau Merkel hat ihre Ostsozialisation allerdings fast nie erwähnt; außer in ihrer letzten Rede. Wenn ihr etwas gelang, wurde gern auf ihren Geburtsort Hamburg verwiesen; ansonsten wurde sie vor allem in CSU-Kreisen als Zonenwachtel bezeichnet oder ihre Diktatursozialisation gegen sie mobil gemacht.
Dagegen hat Joachim Gauck nach Auffassung Oschmanns den einfachsten Weg der maximalen Distanzierung gewählt, indem er den Osten insgesamt als ‚Dunkeldeutschland’ bezeichnet und ihm damit einen Bärendienst erwiesen. Indem er das Wort verwendete, hat er sich von der Sache, die doch auch die seine ist, befreit, so als ginge sie ihn nichts an. Dergestalt hat er dem verächtlichen Gerede über den Osten noch ein hochwillkommenes terminologisches Geschenk gemacht, das nun ein für alle Mal zu gelten scheint, da es ja sogar ein Ostdeutscher gesagt hat.
Mit welchen Mitteln im Kampf um die Deutungshoheit und Diskursherrschaft nach 1990 gearbeitet wurde, lässt sich beispielhaft an der „Auseinandersetzung“ mit der Schriftstellerin Christa Wolf nachvollziehen. Dabei geht es um die Deutung ihrer literarischen Vergangenheit und die Durchsetzung einer künftigen Lesart; mithin um maximale Deutungshoheit. Wer bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt auch, was sein wird, schreibt Oschmann.
Die Debatte wurde mit einem explizit strategischem Kalkül von Ulrich Greiner in der ZEIT eröffnet. Mit Frank Schirrmacher von der FAZ, Karl Heinz Bohrer vom Merkur und Hajo Steinerr von der Weltwoche weiß er sich darin einig, dass diese Literatur nichts weiter gewesen sei als ‚Gesinnungsästhetik’, ja ‚Gesinnungskitsch’, konkret eine ‚Verbindung von Idealismus und Oberlehrertum’, bei dem moralische Fragen das Ästhetische unter sich begraben hätten.
Dem folgten weitere Kampagnen gegen Heiner Müller, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Christoph Hein u.a., wohl mit dem Ziel, die ostdeutsche Literatur möglichst abzuschaffen. Oschmann weist nach, dass die durchweg männlichen Kritiker verschwiegen, dass die angebliche Staatsdichterin Christa Wolf schon als junge Frau durchaus Mut und Schneid aufbrachte, als sie in der Debatte vom 11. Plenum 1965 unter lauter alten Ideologen in scharfer Form die Zensurmaßnahmen der Partei kritisierte, oder als eine der zwölf Erstunterzeichner des Protestbriefs gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976 oder in einer Vielzahl anderer Auseinandersetzungen ihre Zivilcourage bewies. Dagegen wurde ihre Tätigkeit für die Stasi von dieser selbst als unbrauchbar eingestuft.
Nur wer ihre literarischen Leistungen wie ‚Nachdenken über Christa T.’ oder ‚Kein Ort. Nirgends’, in der sie wohl auch ihre bedrückenden Lebensbedingungen schildert, nicht kennt, kann die pure Ignoranz und den Geistesbankrott ihrer Kritiker aus der saturierten Perspektive westdeutscher Bürgerlichkeit einschätzen; so etwa Lew Kopelew, der ihnen kleinkarierte Gehässigkeit und Wirklichkeitsferne bescheinigte.
Oschmann kann aus seinem Erfahrungsbereich, der Hochschulpolitik, zahlreiche Beispiele anführen, für wie selbstverständlich die verstetigte Ungleichheit mittlerweile gehalten wird. Er ist der einzige Hochschullehrer in seinem Fachbereich, der aus dem Osten stammt. Ein Grund dafür dürfte sein, dass er mehrere Forschungs- und Lehraufträge in den USA und England vorweisen konnte. Ansonsten wurden die Stellen nach der Wende fast ausschließlich von Wissenschaftlern aus dem Westen besetzt, die es verstanden, über entsprechende Netzwerke, Berufungspolitik und Nachwuchsrekrutierung ihre Positionen auszubauen und auch für die absehbare Zukunft zu sichern.
Von gleichen Startbedingungen für Ostdeutsche könne von daher keine Rede sein. Im Gegenteil: sie werden meist für ihre Misere selbst verantwortlich gemacht, da sie das Streben in die Elite nicht gelernt hätten, weniger risikofreudig oder schlichtweg nicht diskursfähig oder einfach zu ungebildet sind. Argumente dagegen werden als Jammern abgestempelt, auch dies ein beliebtes Klischee, das der Westen gern gegen Kritiker vorbringt: er ist der ewige Jammerossi.
Am Schluss seines persönlich geprägten, zornigen Textes, weist Oschmann eindringlich auf die Folgen der westdeutschen Selbstermächtigung hin, in der geschilderten Weise über den Osten zu urteilen. Er schreibt: Wenn wir aus der Teilung des Landes nicht herausfinden, wird auch das Vertrauen in die Demokratie weiter schwinden und die Gesamtgesellschaft einen Schaden nehmen, der sie längerfristig an den Rand ihres Zusammenhalts führen dürfte.
Wer diese Warnung des Verfassers für übertrieben hält, sollte das Buch von Dirk Oschmann lesen. Es ist gut lesbar und zwingt zum Nachdenken. Der Autor verzichtet bewusst auf jede bemühte Ausgewogenheit und Stromlinienförmigkeit, da diese im Westen niemanden interessieren und in der Regel politisch und gesellschaftlich folgenlos bleiben würde. Er rät, sich nicht am Ton seiner Darstellung, sondern an den dargestellten Sachverhalten zu stören.
Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Ullstein 2023
Gut der Beitrag! Wäre es in diesem Zusammenhang nicht interessant ein Beispiel dazu zu bringen, wie der Osten auf den Westen blickt? Gern würde ich dazu einen Beitrag liefern, autentisch und ironisch distanziert beschrieben.