In Wahlkämpfen fahren Politiker aus Berlin und anderen fernen Ecken gern mal in Ruhrgebiet. Dort leben rund fünf Millionen Menschen. Und es ist nicht falsch zu behaupten, dass Wahlen gerade hier zumindest mitentschieden werden. Es sieht grün aus, was den Fremden immer wieder überrascht, dann folgt das Grau, manches wirkt verrostet. Da sind die Reste und Brachen der alten Schwerindustrie zu sehen, Kohle und Stahl haben die Region zwischen Duisburg und Dortmund geprägt und sie haben ihre Narben hinterlassen. Im nächsten Jahr wird die letzte Zeche geschlossen, in Bottrop, einer Stadt im Norden des Ruhrgebiets. Ihr Name, typisch für die Region und die Geschichte ihrer Gründerväter: Prosper-Haniel. Und wer sich nicht auskennt in diesem Revier, redet leicht und vorschnell etwas dahin über und gegen das Ruhrgebiet, ohne sich im Klaren darüber zu sein, was hier über Jahrzehnte für ganz Deutschland geleistet wurde, wie hier malocht wurde, damit auf den Ruinen des zerstörten alten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg etwas Neues aufgebaut werden konnte. Und: Das damals reiche Nordrhein-Westfalen hat über Jahre in den Länderfinanzausgleich eingezahlt, profitiert hat davon auch das einst ziemlich arme Bayern- auch wenn man das heute im Freistaat nicht mehr so gern hört.
Auch die Kanzlerin, die in der Uckermark und in Berlin lebende und arbeitende Angela Merkel, war an Rhein und Ruhr, um Stimmung zu machen für ihren nicht immer überzeugenden CDU-Kandidaten Armin Laschet. NRW, hat sie gesagt, werde „deutlich unter Wert regiert“. So ein Spruch klingt wie ein Ritual, gerade Politiker, die in NRW nicht regieren, greifen immer in diese Mottenkiste, früher versuchten sie es damit gegen Johannes Rau(SPD), den Landesvater und späteren Bundespräsidenten, heute attackieren sie damit Hannelore Kraft, die SPD-Ministerpräsidentin. Und wollen damit zum Ausdruck bringen, dass das Land und das Ruhrgebiet auch und gerade von der SPD-geführten Landesregierung vernachlässigt worden sei und dass man zu lange am Alten festgehalten habe, an der Vergangenheit, an Kohle und Stahl und dass man die Zukunft verschlafen habe. Aber Hannelore Kraft, die in Mülheim lebt und das Revier kennt, hält dem trocken und selbstbewusst entgegen: „Das Ruhrgebiet hat mit 2,3 Millionen genauso viele Beschäftigte wie zu den besten Zeiten von Kohle und Stahl.“
Und doch müssen sich die Bewohner im Ruhrgebiet immer wieder die Leier mit den Subventionen und Subventionen anhören, gerade so, als wären sie alle ein Sozialfall, vom Staat, also den Steuern der anderen Deutschen aus dem Süden über Wasser gehalten. Oder wie es der Franke Markus Söder, immerhin Finanzminister im bayerischen Kabinett von Horst Seehofer, in seiner nassforschen Art ausdrückte:“Der Länderfinanzausgleich belohnt das Nichtstun.“ Herr Söder, das sollten Sie wissen: Die Menschen im Revier nehmen das persönlich und sie nehmen das übel, wenn man ihnen unterstellt, sie wären faule Säcke und würden quasi nur noch abkassieren und die Füße hochlegen. Das haben die Bergleute, die nach Zechenschließungen ohne Job dastanden, nicht verdient.
Solidarität wurde an der Ruhr gelebt und gepflegt
Die Menschen nehmen das übel, weil hier im Revier die Solidarität gepflegt wurde und zwar über Jahrhunderte. Die harte Arbeit unter Tage oder vor dem Hochofen, das schweißte zusammen, man ließ sich nicht gegeneinander ausspielen. Man lebte weder in Bochum, noch in Herne, Schalke oder Dortmund im Wolkenkuckucksheim, man lebte und lebt auch heute vielfach bescheiden, wenn es nicht anders geht, aber man lebte und man lebt gern dort, man kennt sich, der eine hilft dem anderen. So ist was zusammengewachsen. Und wenn dann einer von außen kommt und meint, er könnte mal eben über diese Region herziehen, ja alles schlecht reden, dann kann es ihm passieren, dass die Leute ihm das verübeln, weil sie ihm vorwerfen, keine Ahnung zu haben.
Man kennt die Probleme, man ist schließlich nicht blind, aber man lebt damit und lässt sich ungern von Fremden erklären, wie sie das alles anders und besser machen würden.
Der Bochumer Kabarettist Frank Goosen, Jahrgang 1966, selbstverständlich Mitglied beim VFL Bochum, ist ein bekennender Ruhri, der das ganze Gerede über den Pott zur Genüge kennt. Und er spottet über jene, die sich über diesen Pott meinen, erheben zu müssen. „Das Ruhrgebiet hat sich, im wahrsten Sinne des Wortes, das Recht erarbeitet, sich hemmungslos …zu dem zu bekennen, was es einzigartig macht, nämlich jene Arbeit. Zumindest die von früher. Und trotzdem stehen wir an lauen Sommerabenden auf unseren Eisenbahnbrücken, schauen auf unsere Städte, freuen uns darüber, wie schön das Leben mit Abitur sein kann und denken: „Nä, schön is dat nich. Abba meins. Oder wie mein Opa auszudrücken pflegt: Ach, woanders ist auch scheiße.“
Von Ückendorf, Altenessen, Bredeney bis Stiepel
Ich habe das immer wieder erlebt, wenn uns Freunde aus Bayern oder Niedersachsen oder Baden-Württemberg besuchten, als wir in Wattenscheid wohnten. Wir haben dann eine Tour durchs Ruhrgebiet gemacht, zunächst nach Ückendorf, das ist ein Vorort von Gelsenkirchen, sind dann über Schalke, Bottrop, Richtung Altenessen gefahren, haben uns die Fußgängerzone in Essen angeschaut, dann ging es in den Süden zum Baldeneysee und über Bochum-Stiepel wieder nach Hause, nach Wattenscheid. Bei einer solchen Rundfahrt war alles dabei, das Türkenviertel in Ückendorf, der Schalker Markt, weil er dazu gehört- die BVB-Fans mögen es ertragen-, eine Kohlenhalde am Emscherschnellweg, der Verkehr auf der A 40, der grüne Süden mit seinen schönen Häusern. Menschen im Anzug, in kurzer Hose oder im Trainingsanzug, zu Fuß, mit dem Rad, dem Auto. Unsere Besucher waren immer wieder erstaunt über die Vielseitigkeit der Region, über das Grüne, das Graue und das Dreckige, über das Alte und das Moderne, das es ja auch in vielen Ecken dort gibt- man nennt das wohl Start-ups. Und vergessen darf man nicht die Museen, nicht nur Folkwang in Essen, sondern auch Zollverein, das alte Stahlwerk in Duisburg Nord, die Zeche Erin. Und anderes mehr.
Es gibt Probleme. Man muss sich nur den Norden des Reviers anschauen. Schön ist dort vieles nicht, manches sieht eher aus wie Abbruch, ja, das ist so und das darf man nicht verschweigen. Was fehlt, ist ein Masterplan für diese Emscherzone mit Gelsenkirchen, Oberhausen und den anderen Städten. Aber es tut sich was und zwar im Rahmen der Sanierung der Emscher, besser Renaturierung genannt. In wenigen Jahren wird die Emscher wieder sein, was sie mal war: Ein richtiger Fluß, der im Zuge der Industrialisierung des Ruhrgebiets vor vielen Jahrzehnten zu einer richtigen Kloake geworden war, in das der ganze Dreck einfach reinfloss, Dreck der Industrie, Abwässer jeder Art, die Bewohner mussten sich oft die Nase zuhalten, wenn sie sich der Emscher näherten. Sie stank. Damit ist es bald vorbei, die Abwässer werden in einem extra Kanal unter dem Flussbett geführt, die Emscher wird wieder sauber und entlang des Flüsschens in Castrop-Rauxel, Oberhausen und anderswo entstehen wieder attraktive Wohnviertel. Die Menschen ziehen wieder an die Emscher, wollen dort bauen.
Helmut Kohl vergaß die Leistung der Kumpel nicht
Man kann immer leicht behaupten, die Politik hätte sich viel früher von der Kohle verabschieden müssen. Es stimmt, es sind Milliarden Subventionen in die Kohle gepumpt worden, damit sie überlebensfähig war, weil die Kohle aus der übrigen Welt, da im Tagebau gefördert, viel billiger war. Selbst ein CDU-Kanzler wie Helmut Kohl hielt lange an der Kohle fest, weil Kohl die geschichtliche Leistung des Reviers und ihrer Menschen, der Kumpel für die Bundesrepublik anerkannte. Hätte man sich noch früher und schneller von der alten Industrie getrennt, die Region wäre buchstäblich abgesoffen. Durch den Untertagebau ist die ganze Region um viele Meter abgesackt. Wir hätten heute einen Binnensee von Duisburg bis Dortmund, würde nicht pausenlos das Grundwasser abgepumpt. Man nennt das die Ewigkeitslasten. Ohne die fürsorgliche Politik, die ja auch von der CDU in NRW mitgetragen wurde, wären Hunderttausende Kumpel und Stahlarbeiter binnen kurzer Zeit arbeitslos geworden. Durch die staatlichen Hilfen und Frühverrentungen, Sozialpläne und andere Hilfsmaßnahmen verhinderte man den freien Fall ins Nichts für Millionen Menschen, so blieb das Ruhrgebiet auch politisch stabil und wurde nicht anfällig für falsche Propheten.
Es mag ja was dran sein, was die Unternehmensberatung Boston Consulting Group in einer Untersuchung herausgefunden haben will, nämlich dass NRW gewaltige Chancen verschenke. Ich zitiere nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung: “ Würde NRW sein wirtschaftliches Potential voll nutzen, ließe sich die heutige Wachstumslücke des Bundeslandes gegenüber wirtschaftlich stärkeren Ländern wie Bayern oder Baden-Württemberg schließen.“ Wobei einzuräumen ist, dass der Strukturwandel, der das Revier seit vielen Jahren verändert, vielleicht nicht schnell genug geht, er wird wohl nie aufhören. Er ist, von der Dimension her, eine Jahrhundertaufgabe, wie die SZ zu Recht urteilt, die nur national gelöst werden kann. Und den Kritikern aus Hessen, Bayern und Baden-Württemberg sollte man ins Gedächtnis rufen, dass sie selber kaum alte Industrien wegzuräumen hatten, als die nicht mehr profitabel waren. Die SZ, das große Münchner Blatt, erinnert ferner zu Recht an die glücklichen Umstände, die manche weißblaue Politik begleiteten, darunter die Verlegung der Siemens-Zentrale von Berlin in die bayerische Metropole, was andere Technologie-Firmen nach sich zog.
Ruhrgebiet braucht die Solidarität der anderen
Das Ruhrgebiet, der Ruhrpott, ist kein Sozialfall, aber eine Region mit vielen Problemen. Hier spielt sich seit Jahren etwas ab, was es in Deutschland in dieser Form noch nie gegeben hat, die Ablösung einer alten Industrie mit Hunderttausenden von Arbeitsplätzen, ohne dass neue Unternehmen die Lücke geschlossen hätten. Vielleicht würden sie es tun, wenn man um sie wirbt, ihnen die Chance dazu gibt. Die Menschen an der Ruhr hätten es verdient. Wir sollten die Region nicht dem parteipolitischen Streit überlassen. Neulich, am Ende des TV-Duells zwischen Hannelore Kraft(SPD) und ihrem Herausforderer Armin Laschet(CDU), forderte die Ministerpräsidentin ein Umsteuern der Bundeshilfen vom Osten in den Westen. Es sei richtig gewesen, den neuen Ländern über Jahre zu helfen, aber jetzt sei es Zeit, diese Hilfen nicht mehr nach Himmelsrichtungen auszurichten, sondern nach dem Bedarf. Jetzt sei das Ruhrgebiet an der Reihe. Und Laschet gab der Ministerpräsidentin ausdrücklich Recht.
Das Revier steht für Solidarität, die viele Deutsche außerhalb des Ruhrgebiets in der Vergangenheit erfahren haben. Jetzt sind es die anderen, die helfen müssen, damit es dazu wird, was ein Werbe-Spruch vor vielen Jahren schon mal versprach: Ein starkes Stück Deutschland.
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