Wer regelmäßig die Tageszeitungen liest, den kann das Gefühl beschleichen, in Deutschland ginge es drüber und drunter. Tut es das wirklich? Zugegeben, ich lebe in Bonn, in der alten politischen Hauptstadt, da geht es schon mal gemütlicher zu als in München, Hamburg oder Berlin. Aber steht München etwa Kopf? Geht Berlin gerade unter? Und ist Hamburg am Ende? Auch in Bonn leben Flüchtlinge, viele Geflüchtete, gibt es Unterkünfte, Diskussionen darüber, was geht und was nicht, mancher empört sich, ohne darüber nachzudenken, wie gut es ihm hier geht. Um in der Sprache des Boulevard zu schreiben: Wird eine der Städte in der Republik gerade überflutet von Massen von Flüchtlingen? Sind wir noch handlungsfähig? Oder haben wir den Überblick verloren wegen der vielen Geflüchteten? Natürlich nicht.
Kontrollen an allen deutschen Grenzen. So der Aufmacher der SZ auf der ersten Seite. Innenministerin Nancy Faeser ordnet Polizeieinsätze an, um die Zahl der illegalen Einreisen zu verringern. So lautet die Unterzeile des Berichtes. Die Ampel geht auf die Union zu, die härteres Durchgreifen verlangt und damit den Druck auf die Berliner Regierung erhöht. Der Leitartikel des Blattes aus München trägt den Titel: Zuerst das Recht. Weil die Populisten den Markt der Meinungen überflutet haben mit ihren Forderungen, in denen weniger das Recht, sondern das Rechthaben eine Rolle spielt. CSU-Dobrindt, in der Bierzelt-Sprache schon immer ein Meister wie sein Ministerpräsident, wird zitiert mit Worten aus 2018, als er von einer Abschiebe-Industrie gesprochen hatte und dem Autor zufolge voller Verachtung war für Anwälte, die das geltende Asyl- und Migrationsrecht, von den Unions-Parteien maßgeblich mitgestaltet, beim Wort nehmen.
Das mit dem Recht ist so eine Sache und kompliziert dazu. Seit Jahren wird über das Asylrecht gestritten, werden Änderungen verlangt, heute verliert da mancher den Überblick. Wobei ich längst den Eindruck habe, den Protagonisten an der Migrations-Debatten-Front geht es gar nicht um Recht, sondern um Stimmungsmache. Auch wenn in manchen Dörfern kaum ein Migrant oder Asylbewerber zu sehen ist, die Debatte läuft auf Hochtouren. Wir sind schließlich im pausenlosen Wahlkampfmodus, da kann man keine Rücksicht nehmen, da ist der Haudrauf gefragt gegen Ausländer und all jene, die so aussehen, als kämen sie aus weiter Ferne. Mich hat erschreckt und mich mit Scham erfüllt, als ich nach dem Anschlag von München ein Interview mit Charlotte Knobloch, der Präsidentin der jüdischen Kulturgemeinde von München und Oberbayern las. Darin äußerte diese große Frau, die auf ein langes, nicht immer einfaches Leben zurückblickt und die mit viel Glück die Shoa überlebte, wie sehr es sie mitgenommen habe, dass ihre Enkel, die vom Lärm der Sirenen in Israel geplagt, ein paar Tage der Ruhe in München genossen hatten. Die aber jetzt wieder in die Heimat zurückgeflogen seien, aus Angst oder Sorge, weil sie den Eindruck nicht loswurden, angestarrt zu werden. Die Enkel sprachen hebräisch.
Gängiges Vorurteil
Ich bezweifle überhaupt nicht, dass es in manchen Dörfern und Städten Probleme gibt, weil es dort zu viele Flüchtlinge gibt, weil man sie nicht überall gleichzeitig und vernünftig unterbringen kann. Es fehlen die Lehrer, die Ausbilder in den Kitas, es fehlen die Wohnungen, sie dürfen zunächst nicht arbeiten, was die Einheimischen gegen sie aufbringt, weil sie für Nichtstun Geld kassierten. So das gängige Vorurteil, ich lasse mal all die Beschimpfungen weg, die da regelmäßig fallen, sehe aber das Problem für die Geflüchteten. Man schaut sie scheel an, zeigt mit dem Finger auf sie. Da wird kein Unterschied gemacht, ob es sich dabei um politisch Verfolgte handelt oder um Wirtschaftsflüchtlinge. Sie sind arm dran, haben die Heimat verlassen aus Not, aus Furcht vor dem Bürgerkrieg zu Hause, sie sind aufgebrochen in die Welt, um draußen zu arbeiten und sich Geld zu besorgen für den Rest der Familie irgendwo in Afrika oder anderswo.
CDU-Chef Friedrich Merz hat vor Tagen der Ampel-Regierung ein Ultimatum gestellt, sie müsste nun liefern, Punkt für Punkt, zuverlässig, der Mann will Taten sehen, nicht länger die Sprüche der Bundesinnenministerin Faeser hören. Als wenn die Ministerin so einfach die Grenzen dicht machen, jeden Asylbewerber abweisen könnte. Europa-Recht gilt. Die Sprache in dieser Debatte ist unmenschlich, sie nimmt auf das Schicksal der Menschen- es sind wohl an die Hundert Millionen weltweit auf der Flucht und nur ein Bruchteil davon ist in Deutschland- keine Rücksicht. Schließlich will die Union die Ampel-Regierung mit Scholz und Faeser und wie sie alle heißen, vor sich hertreiben. Beinahe wöchentliche Umfragen geben Merz und Söder Recht, das Migrations-Thema ist das Problem, das die Deutschen am meisten umtreibt. Die Wahlen in Sachsen und Thüringen wie vor Monaten die Europa-Wahl haben bewiesen, dass das Flüchtlings-Thema den Menschen Sorgen macht, ja Angst vor dem eigenen Abstieg, Angst vor einer Kriminalität, die sie fast täglich in den Medien präsentiert bekommen. Messer-Attacke von Solingen, Überfall auf das NS-Dokuzentrum in München und das benachbarte israelische Konsulat, nur zwei Beispiele. Messer werden verboten in der Öffentlichkeit. Bei Volksfesten müssen Besucher mit Kontrollen rechnen, ihre Taschen und Mäntel werden durchsucht. Die Stimmung ist längst hysterisch. Politisch ausgenutzt wird sie vor allem von der AfD, die Ausländer remigrieren will, sie abschieben in großem Stil. Das verfängt bei vielen Leuten.
Faeser will Asylgesuche schon an der Grenze prüfen. Meldet ZEIT Online. Hat die Ministerin denn so viel Personal übrig, um die lange deutsche Grenze entsprechend zu sichern? Der Berliner Tagesspiegel fragt, was die Regierung darf und was nicht. Telepolis schreibt: „Faeser geht an Grenzen: Aktionismus mit flexiblem Inhalt“. Der Stern macht zum Thema: „Folgen der Grenzkontrollen: Man hofft darauf, dass andere Staaten ihrerseits die Grenzen dichtmachen.“ Die NZZ-Überschrift lautet: „Wenn Deutschland dichtmacht, hat das Konsequenzen für die europäische Asylpolitik.“ Und der Focus meldet, dass ein Karibik-Auswanderer nach Deutschland zurück will. Der Mann habe eine Lebensweisheit erkannt: Es gibt nichts Schöneres.“ Ich vermute, in Deutschland zu leben.
Asylbewerber-Lager in Rott am Inn
Im Münchner Merkur und im Bayerischen Rundfunk erfahre ich von Protesten gegen den Plan einer Unterkunft für rund 500 Asylbewerber in Rott am Inn. Der Ort selber hat nur 4000 Einwohner, man fühlt sich überfordert im Ort, wo der CSU-Heilige Franz-Josef Strauß mit seiner Ehefrau Marianne in einer Gruft beerdigt ist. Es soll längst ein richtiger Wallfahrtsort geworden sein, Rott am Inn und das Grabmal für den früheren CSU-Chef und bayerischen Ministerpräsidenten. Es ist nicht das erste Mal, das man von so einem Fall liest, dass eine kleine Gemeinde Hunderte von Geflüchteten aufnehmen soll. Wie soll das geschehen? Es fehlen Wohnungen, Lehrer, Kindertagesstätten, die Integration von Ausländern auf dem Land ist ein großes Problem. So kann man auch Ängste und Wut schüren.
Der CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl in Brandenburg in gut 10 Tagen, Redmann, fordert Obergrenzen, nicht ganz neu, die hatte schon der frühere bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer von der damaligen Kanzlerin Angela Merkel(CDU) verlangt. Und sich später darüber gefreut, dass zu seinem 69. Geburtstag-quasi als Geburtstagsgeschenk- 69 Asylbewerber nach Afghanistan zurückgeflogen wurden. Seehofer hatte sich mit Merkel mehrfach gestritten um die Asylpolitik der CDU-Chefin. So hatte er verlangt, man müsse doch wissen, wer nach Deutschland komme. Andere führende CSU-Politiker hatten kritisch von der Einwanderung in deutsche Sozialsysteme gesprochen.
Um Menschen an der Grenze zurückweisen zu können und notfalls EU-Recht zu umgehen, hat Friedrich Merz vorgeschlagen, eine „nationale Notlage „auszurufen. Unterstützt wurde er von Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl. „Diese Notlage lässt sich sehr wohl begründen“, meinte der Schwiegersohn des vor Monaten verstorbenen Ex-CDU-Bundesvorsitzenden und Ex-Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble. Insbesondere nach der nach Solingen weiteren mutmaßlich islamistisch motivierten Tat in München sieht Strobl dieses Vorgehen als „unstrittig“.
So kommt der Hass und er wird durch solche Debatten hochgeschaukelt, geltendes Recht hat am Biertisch nie dominiert. Der Leitartikler der SZ, Ronen Steinke, zitiert in diesem Zusammenhang Markus Söder, der „neuerdings im Bierzelt tönt, es sei an der Zeit, dass wieder das Volk entscheide statt der Gerichte. Es klingt fast so, vermutet der Autor, als wäre dem CSU-Chef das recht. Aber Regeln sind nun mal dazu da, sie einzuhalten, sie kann man nicht einfach nach Stimmungslage übergehen. Das würde das Zusammenleben in diesem Staat unberechenbar machen. Es geht immer wieder um die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren. Darauf müssen sich gerade auch die Schwächsten in dieser Gesellschaft berufen können- die Flüchtlinge. Auch Gewaltverbrecher haben das Recht auf ein Gerichtsverfahren, dass sie nach Verbüßung der Strafe in einem deutschen Gefängnis auch nach Kabul abgeschoben wurden, geschah nach deutschem Recht.
Gleich, wie sich Ampel und Union verständigen oder weiter streiten, das Problem der Flüchtlinge ist da und verschwindet nicht durch mögliche Gipfelbeschlüsse. Das Problem löst sich auch nicht, Herr Merz und Herr Söder, wenn in gut einem Jahr Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Ampel-Koalition die Bundestagswahl verlieren sollten und Friedrich Merz Kanzler würde mit der Union als stärkster Regierungspartei. Das Flüchtlings-Problem übernimmt er, wie es Scholz schon von Merkel geerbt hat. Und dann wird er sehen, dass man Probleme nicht einfach dadurch löst, indem man sie möglicherweise ins Ausland verschiebt. Die Millionen Menschen auf der Flucht, sie sind einfach da und wir haben die Pflicht, sich um sie zu kümmern, ihnen Schutz und Sicherheit zu gewähren. Es ist die christliche, humane Pflicht.