Ist die Demokratie in der Bundesrepublik im 75. Jahr des Bestehens des Grundgesetzes in Gefahr? Der Historiker Alexander Gallus aus Chemnitz warnt bezüglich der Erfolge der in weiten Teilen rechtsextremen AfD vor einem Gewöhnungsprozess und erinnert an den Aufstieg der NSDAP 1929/1930.“Die Demokratie muss besser geschützt werden“, forderte gerade der Kommentator im Deutschlandfunk, Henry Bernhard. In der „Süddeutschen Zeitung“ überschrieb der frühere Politik-Chef Heribert Prantl seinen Beitrag mit dem alarmierenden Wort: „Mobilmachung“. Und vor wenigen Tagen hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache die Bürgerinnen und Bürger davor gewarnt, „sich von der Demokratie abzuwenden“. Es sei falsch sich denen zuzuwenden, die einfache Antworten hätten. Weiter kämen wir nur gemeinsam. Die Warnung ist klar: Der Feind steht rechts und er bedroht die Demokratie „wie nie seit 1933“.(Prantl)
Im Mai wird das 75. Jahr des Grundgesetzes gefeiert. Aber dieses Mal reiche es nicht, mahnt Prantl, „Einigkeit und Recht und Freiheit zu besingen“, sondern: „Man muss sie entschlossen verteidigen“. Denn: „Noch nie war die Gefahr für die Demokratie in Deutschland so groß wie 2024.“ Diese Gefahr wächst von innen, durch die AfD. Drei Landesverbände der AfD sind inzwischen vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft worden: der sächsische, der thüringische und der sachsen-anhaltinische. Der AfD-Landesverband Brandenburg gilt noch als Verdachtsfall, während die AfD-Jugend als rechtsextremistisch gewertet wird.
Die wehrhafte Demokratie. Sie ist gefordert. Schon der Vater des Grundgesetzes schlechthin, der Sozialdemokrat Carlo Schmid, mahnte im Parlamentarischen Rat Intoleranz gegenüber den Verfassungsfeinden an. Sie haben keine Toleranz verdient. Prantl zitiert dazu Artikel 18 Grundgesetz. Da heißt es wörtlich: „Niemand darf die Grundrechte verletzen. Wer die Grundrechte verletzt, den darf der Staat bekämpfen. Wer die Grundrechte verletzt, der verliert seine eigenen Grundrechte. “ Es geht also darum, wie der Staat sich wehren kann. Wie er sich wehren kann, wenn ein Mensch oder eine Gruppe die Grundrechte angreift. Der Staat kann den Feinden die eigenen Grundrechte wegnehmen. Darüber entscheidet ein Gericht.
Vor den Toren der Macht
Noch nie in der Geschichte der Republik standen Neonazis so nah und zahlreich vor den Toren der Macht. Man nehme das Umfragehoch der AfD im Bund mit zur Zeit knapp 25 Prozent, man nehme das Stimmungsbarometer im Osten Deutschlands. Dort in Thüringen wie in Sachsen und auch in Brandenburg erreicht die AfD in Umfragen bis zu 33/34 Prozent der Stimmen. Es spricht also manches dafür, dass die AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg stärkste Partei werden könnte. In Thüringen, dort ist der Neonazi Björn Höcke Vorsitzender, (er darf nach einem Gerichtsbeschluss Faschist genannt werden) liegt die AfD in Umfragen „fast bei Prozentzahlen, wie sie Adolf Hitler bei der letzten freien Reichstagswahl 1932 erzielte“(Prantl). Und man darf im Fall von Thüringen wie der Historiker Gallus daran erinnern, dass dort die Nazis mit gerade mal 11,4 Prozent der Stimmen an die Macht kamen, weil bürgerliche, konservative Parteien mit ihr zusammen gingen und ihr zur Macht verhalfen. Gegen die SPD und die Kommunisten. Die Nazis bekamen zentrale Ressorts wie das Innen- und das Bildungsministerium und erhielten damit den Zugriff auf Beamte, die Polizei, Lehrer, Schule und Hochschule. So konnten sie den Kulturkampf anzetteln. Die Zeitgenossen, beschrieb es Gallus im Deutschlandfunk, hätten das alles als nicht so schlimm empfunden. Um dann eines Morgens aufzuwachen und zu erfahren, dass die Braunen die totale Macht in Händen hielten. Das Ermächtigungsgesetz 1933 gab der Demokratie den Rest, allein die SPD stimmte im Reichstag dagegen, die Kommunisten waren schon verboten. Der damaligen Demokratie hatten die Demokraten gefehlt, die sie verteidigt hätten.
Die Lage ist brandgefährlich, weshalb mich die Lethargie verwundert, mit der die demokratischen Parteien diese Entwicklung beobachten. Sie wettern gegen die AfD, tun aber nichts gegen sie oder, wie die CDU in Thüringen, verbinden sich sogar mit ihr, um der rot-rot-grünen Regierung eines auszuwischen. Merken sie nicht, dass es längst um mehr geht als die Schuldenbremse? Prantl schildert, dass die AfD in Thüringen nach dem Amt des Landtagspräsidenten greife, „sie greift nach dem Amt des Ministerpräsidenten; sie nutzt die Demokratie, um ebendiese zu zerstören. Es steht ein Dammbruch bevor. Jetzt muss sich zeigen, ob die wehrhafte Demokratie wehrhaft ist.“
Aber was heißt wehrhaft, wo sind die Waffen, um die Demokratie zu verteidigen? Wenn es nottut. Und es tut not, wenn eine Partei und ihre Politiker die Werte unseres Systems massiv bekämpfen. Dann sei es an der Zeit „für die demokratische Mobilmachung“. Eigentlich müsste eine solche verfassungsfeindliche Partei verboten werden. Dazu aber sei es zu spät, weil Wahlen anstünden, die Europa-Wahl(9. Juni 2024) und die genannten Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen(jeweils am 1. September 2024) und in Brandenburg(22. September 2024). Aber es sei nicht zu spät, so Prantl, „den Neonazis, die an die Macht drängen, das aktive und passive Wahlrecht zu entziehen sowie die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden. Zuständig dafür ist das Bundesverfassungsgericht.“
Es ist also Zeit zu handeln. Aber wer tut es? Die SPD? Die Bundesregierung, eine der Landesregierungen, eine Gemeinschaft der Demokraten? Das Bundesverfassungsgericht ist ja nicht nur dazu da, der Ampel-Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz den Haushalt wegen des Vorwurfs des verfassungswidrigen Umgangs mit der Schuldenbremse um die Ohren zu hauen und damit fast zu riskieren, dass eine Bundesregierung auseinanderfällt. Man mag das Groß oder Klein finden, was in Karlsruhe zu entscheiden war, in unserem AfD-Fall geht es ums Eingemachte, die Demokratie, den Staat, die Freiheit. Wo sind die Kläger, wenn es ums Ganze geht? Friedrich Merz kennt doch den Weg ins Badische ziemlich gut und hat vor kurzem weitere Klagen gegen mögliche weitere Haushaltsverstöße der Ampel angedroht. Und hier, gegen die AfD, die diesen Staat zerstören will, zögert er?
„Man darf nicht warten“, warnt Heribert Prantl in der SZ, „bis Neonazis die Parlamente dirigieren, die Lehrpläne an den Schulen diktieren, bis sie ihr braunes Personal an die Schaltstellen der Gerichte und den Verfassungsschutz nach ihrem Gusto umbauen.“
Der genannte kleine Widerstand ist gefragt, unklare Regeln in der Geschäftsordnung des Landtags und in der Verfassung des Landes Thüringen zu klären, um sie so „sturmfest zu machen“.(Prantl) Das hat auch Henry Bernhard im Deutschlandfunk angemahnt und daran erinnert, „welche Macht eine Partei mit Destruktionswillen entfalten kann“. Das habe die AfD Höckes schon mal im Jahr 2020 gezeigt, als sie mit deutlich weniger Abgeordneten den „ahnungs- wie planlosen und machtblinden Thomas Kemmerich kurzzeitig ins Ministerpräsidentenamt brachte.“ Nicht auszumalen, was einer AfD zuzutrauen wäre, wenn sie nach der nächsten Landtagswahl über mehr als ein Drittel der Mandate im Erfurter Landtag verfügte.
Schlafwandeln ins Desaster
„Wir schlafwandeln in ein Desaster“, zitierte der DLF-Kommentator den thüringischen Innenminister Georg Maier(SPD), der sich in der SZ zur Lage geäußert hatte. Maiers Sorge gilt der Landesverfassung, die Unschärfen aufweise und Schwachstellen, die Populisten, ich nenne sie Verfassungsfeinde, ausnutzen könnten. Beispiel: Wer über ein Drittel der Mandate verfügt, hat bei bestimmten Entscheidungen eine Sperrminorität. So können die Gremien, die Richter und Staatsanwälte wählen, Verfassungsrichter, den Präsidenten des Landesrechnungshofs, nur mit zwei Dritteln der Abgeordneten gewählt werden. Also könnte eine AfD mit einem Drittel der Stimmen die eigenen Leute in diese Gremien bringen oder versuchen, die anderen Parteien zu erpressen, Postenbesetzungen könnten verschoben, das demokratische System könnte vorgeführt werden, mahnt Bernhard.
Um das zu verhindern, braucht es Verfassungsänderungen. Mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Wenn man sich Thüringen anschaut, kann man sich nicht vorstellen, dass dort die Demokraten aus SPD, CDU, den Grünen zusammenhalten. Gewinner wäre die AfD.
Die Koalitionsfindung für den Herbst 2024 könnte schwierig werden. Zumal weder CDU noch FDP Probleme damit haben, Abstimmungsmehrheiten mit der AfD zu organisieren. Veränderungen müssten bald geschehen, so diese, dass zwingend die größte Fraktion das Amt des Landtagspräsidenten stellt. Und diese, so der DLF, „um die Wahl des Ministerpräsidenten endlich klar in der Verfassung zu verankern“.
Noch einmal sei Prantl zitiert. Die Wahlen für das Europa-Parlament wie für die Landtage seien eine Bewährungsprobe für das Grundgesetz. „An diesen Tagen gilt es, die Demokratie und die europäische Idee zu verteidigen; an diesen Tagen gilt es zu verhindern, dass Neonazis in Regierungsämter einrücken; die Gefahr war noch nie seit 1933 so groß. An diesen Wahltagen 2024 zeigt sich, was und wieviel die Deutschen gelernt haben in den siebeneinhalb Jahrzehnten, die das Grundgesetz gilt.“
Grundgesetz hat Glück gehabt
Das Grundgesetz, urteilt der Jurist Prantl, sei im Vergleich zu früheren Verfassungen „nicht einfach unfassbar gut, sondern es hat unfassbar viel Glück gehabt.“ Da war das sogenannte Wirtschaftswunder, der Aufschwung, der vielen gut bekam, Prantl nennt als weiteren Glücksfall das Bundesverfassungsgericht und schließlich die Lust der Bürgerinnen und Bürger an der Demokratie, die aber geschrumpft sei, wie die Wahlerfolge Höckes zeigen. Und wie der Bundespräsident es in seiner Weihnachtsansprache gesagt hatte als Mahnung. Frank-Walter Steinmeier hat über die Jahre immer wieder die Demokraten angesprochen, die Demokratie zu verteidigen, weil sie kein Selbstläufer sei, weil er spürte, wie die Zustimmung zu unserem demokratischen Staat zurückging, sich die Menschen entfernten von einem System, das große Teile der übrigen Welt als Vorbild sehen.
Es geht um die Zukunft, darum, „den Weg nach Rechtsdraußen zu versperren“(Prantl). Die SPD sei „wild entschlossen, diesen Kampf zu führen“, sagte mir Norbert Römer, lange Jahre Fraktionschef der SPD im Düsseldorfer Landtag und immer noch auch engagierter Gewerkschafter. „Aus unserer Geschichte wissen wir, dass es gegenüber Nazis kein Pardon geben darf, weil die Demokratie sonst verloren ist. Die AfD führt die Verfassungsfeinde an“, zitiert Römer den Aufruf des Blog-der-Republik gegen Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und gegen die AfD. „Sie ist ihr politischer Arm. Deshalb muss sie mit allen Mitteln bekämpft werden, die unsere Verfassung bietet. Die SPD mit ihrer historischen Verantwortung ist in diesem Kampf besonders gefragt und vor allem auch glaubwürdig. Und aus dieser Erfahrung heraus sagen wir auch den Wählerinnen und Wählern der AfD klipp und klar: Für euer Verhalten gibt es kein Verständnis, denn wer Nazis wählt, wird selbst zum Nazi.“