Sie wähnten sich schon im Vorzimmer des Kanzleramtes, um am Abend nach der Bundestagswahl die Räume der dann Ex-Kanzlerin Angela Merkel zu beziehen. Sie waren die Lieblinge großer und wichtiger Medien in Hamburg, München und Berlin, die sich abgewandt hatten vor allem von der SPD. Als Leser konnte man den Eindruck gewinnen, als wollten so einige Medien sich als Kanzlerinnen-Macher aufspielen. Doch aus dem Hochgesang auf Annalena Baerbock ist zwar noch nicht der Abgesang, aber die Töne sind kritischer geworden. Die Union ist in den Umfragen wieder die führende Macht in Deutschland, auch weil ihr Kandidat Armin Laschet eine ziemlich gute Presse hat, die ihn und sein teils nichtssagendes Programm nicht hart rannimmt, die Grünen rangieren auf Platz zwei, knapp vor der SPD. Sie müssen sich verteidigen, rechtfertigen, ihre Pannen erklären, ihre Fehler erläutern. Der Platz an der Sonne, das war einmal. Schwarz-Grün, kann sein, Schwarz-Gelb, das wollen andere am liebsten, aber sie werden einen weiteren Partner brauchen. Es sei denn, Wolfgang Schäubles Gedanke, es könne auch eine Minderheitsregierung sein, fände Gefallen im Lande.
Sie haben es sich selber zuzuschreiben, wenn ihnen der Wind oder besser der Sturm ins Gesicht weht. Sie müssen sich vorhalten lassen, dass sie sehr naiv an die Sache herangegangen sind, gerade so, als sei der Weg ins Kanzleramt, ins wichtigste politische Amt, das die Republik zu vergeben hat, ein Spaziergang. Dabei geht es nicht darum, dass jemand unbedingt ein akademisches Examen bestanden, den Master der Uni Göttingen, München oder Hamburg erworben haben muss oder auf ehrliche Weise den Doktorgrad der Humboldt-Universität zu Berlin verliehen bekommen hat. Das ist nicht der Punkt. Die Grünen um Annalena Baerbock haben ihre Hausaufgaben nicht erledigt, als sie sich auf die Kanzlerkandidatin verständigten und Robert Habeck zurückzog. Die Angaben zur Person, zum Studium, zu Mitgliedschaften in bestimmten Vereinen oder Körperschaften hätten zuvor überprüft werden müssen auf ihren Wahrheitsgehalt. Jede Angabe zur Person von Annalena Baerbock hätten so abgefasst sein müssen, dass sie einer Überprüfung durch höchste Instanzen standgehalten hätten. Oder hat da jemand bei den Grünen angenommen, das interessiere ohnehin niemanden oder hat da jemand geglaubt, darauf schaue niemand. Weil Frau Baerbock so beliebt war, präsent, fröhlich, gut aussehend, eine junge Mutter von zwei Kindern auf dem Weg ins Kanzleramt? Und hat da etwa jemand angenommen, dieser Frau Baerbock nähme man das alles ungeprüft ab?
Hat niemand den Satz von Joschka Fischer ernst genommen: Das Kanzleramt sei die Todeszone. Hier geht es nicht um Schnüffelei. Der Wähler und die Wählerin haben ein Recht darauf, zu erfahren, wer Annalena Baerbock ist. Was sie gemacht hat in all den Jahren, gelernt, studiert, gearbeitet hat. Und weil diese Angaben zur Person von Frau Baerbock in ihrer Gänze nicht stimmten, kamen die Zweifel. Deshalb ging Vertrauen verloren. Nicht, weil Frau Baerbock eine Frau ist. Einige Journalisten haben ob dieser Fehler den Grünen und ihrer Spitzenkandidatin fehlender Professionalität vorgeworfen. Der Vorwurf stimmt. Denn die Grünen hätten wissen, mindestens ahnen können, dass man spätestens in dem Moment genauer auf eine Kandidatin schaut, wenn sie entschlossen und nominiert ist, das wichtigste politische Amt zu erobern. Jammern hilft nicht!
Ein überflüssiges Buch
Das mit dem Buch nehme ich nicht ernst. Bücher in Wahlkampfzeiten sind eigentlich ihren Namen oft nicht wert. Sie sind oft zusammengeschustert. Es wäre besser gewesen, Annalena Baerbock hätte auf das Buch verzichtet. Mehr scheinen zu wollen als zu sein, das kann nur schiefgehen. Frau Baerbock muss mit dem Vorwurf leben, sie habe ihren Lebenslauf aufhübschen wollen, Eindruck schinden. Sie ist eine Politikerin, keine Schriftstellerin. Sie braucht doch ein solches Buch nicht. Ein Leser des Bonner Generalanzeigers, der ganz offensichtlich ihr Buch „Jetzt.“ gelesen hat, kritisierte, dass die Grünen Spitzenfrau dort einen sachlichen Fehler gemacht habe. Im Zusammenhang mit der Bedeutung des Reichstagsgebäudes habe sie davon gesprochen, dass dort u.a. das Ermächtigungsgesetz von Adolf Hitler (gegen die Stimmen der SPD, der Autor )verabschiedet worden sei. Er wies daraufhin, das am 17. Februar 1933 der Reichstagsbrand war und am 24. März das Ermächtigungsgesetz beschlossen wurde. Seit dem Brandanschlag fand im Reichstag nichts mehr statt. Der Leser hat Recht. Nur eine Kleinigkeit, gewiss, aber nicht unwichtig. Die Sitzung zum Ermächtigungsgesetz fand nämlich in der Kroll-Oper statt, dort hielt der SPD-Chef Otto Wels seine berühmt gewordene Rede mit dem Kernsatz an die Nazis: „Das Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Kurzes Eingeständnis von mir: Ich habe das Buch nicht gelesen.
Und natürlich ist es nicht hilfreich, wenn in einer solchen Lage der politische Gegner in Form von Horst Seehofer oder Sigmar Gabriel Mitleid mit den Grünen äußert oder heuchelt. Aus Mitleid wird niemand gewählt werden. Das wissen die alten Politik-Hasen von CSU und SPD sehr wohl. Die Grünen sind in die Defensive geraten, daraus den Weg in den richtigen Wahlkampf zu finden, ist nicht leicht. Weil sie Vertrauen eingebüßt haben. Es wird nicht mehr über Klimaschutz, der Grünen liebstes Kind, geredet, sondern über Ungenauigkeiten beim Lebenslauf, über ein Buch, das eigentlich unwíchtig ist, über Geld, das sie bekommen hat über die Heinrich-Böll-Stiftung für ein Stipendiat und ähnliches.
Dass sie Frau Baerbock gegen Robert Habeck tauschen, halte ich wirklich für absurd. Es kann sogar sein, dass die Spitzengremien der Grünen den Gedanken überhaupt nicht geäußert haben. Aber das Thema ist auf dem Markt, die Grünen müssen sich dazu äußern und aufpassen, dass sie ihre politischen Themen dabei nicht aus den Augen verlieren.
Wer war der Auftraggeber?
Eine Frage würde ich, wäre ich Grüner, versuchen zu klären: Wer hat Aufträge verteilt an wen, um Licht in den Lebenslauf der Kandidatin zu bringen? Aufträge, die dazu angetan waren, die Grünen-Spitzenfrau zu schwächen. War der oder waren die Auftraggeber aus dem Umfeld von politischen Parteien? In den Umfragen hat sich seit der Diskussion über Baerbocks Lebenslauf und die Weihnachtszahlung der Partei das Bild dramatisch verändert: die Union liegt wieder bei 30 vh, die Grünen an der Grenze zu 20 vh-oder darunter-, die SPD stagniert zwischen 15 und 17 vh. Gemessen daran sind die Werte für den Spitzenkandidaten der CDU, Armin Laschet, ziemlich schwach, während der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, obwohl er keine gute Presse hat, gepunktet hat. Annalena Baerbock dagegen schwächelt. Die Grünen sind verunsichert und ihre Anhänger sind es auch.
Die Grünen-Vorsitzende in Bayern, Katharina Schulze, wird in der SZ so zitiert: „Das Lamentieren, wie unfair alles ist, hilft nicht.“ Da hat sie Recht. Und weil wir ja gerade alle Fußballer sind wegen der Euro-Meisterschaft, passt hier vielleicht ein Satz, den die Kicker immer gern wählen, wenn sie verloren haben: „Mund abputzen, weitermachen.“ Aber ob sich die Hoffnung von Annalena Baerbock erfüllt, sie habe die Zukunftsfragen offen, breit, hart in der Sache, aber fair diskutieren wollen, erscheint mir fraglich. Man muss nicht in die Schützengräben zurück, aber die Samthandschule sollten sie lieber gar nicht anziehen.
„Aber ob sich die Hoffnung von Annalena Baerbock erfüllt, sie habe die Zukunftsfragen offen, breit, hart in der Sache, aber fair diskutieren wollen, erscheint mir fraglich.“
Hmm.
Ob Herr Pieper diesen Satz nicht lieber noch einmal überdenken möchte?
Denn für „fraglich“ zu erklären, „ob sich die Hoffnung erfüllt“, sie habe diese Themen „fair diskutieren WOLLEN“, stellt ihre Intentionen in Frage – statt der Möglichkeit, dies zu tun.