Hätte das Doppel-Attentat von Barcelona verhindert werden können? War es vorhersehbar? Warum ist Spanien, das seit über einem Jahrzehnt von IS- Anschlägen verschont blieb, erneut in das Fadenkreuz islamischer Terroristen geraten? Diese Fragen beschäftigen ein Land, das drei Jahrzehnte vom Terrorismus der ETA erschüttert wurde und jetzt erlebt, wie die Krieger des „ Islamischen Staates“ bei ihrem Kreuzzug gegen die westliche Welt die iberische Halbinsel für sich entdecken und Teile der muslimischen Historie für ihren mörderischen Kampf reklamieren.
Die „ Mezquita“ von Cordoba mit ihren wertvollen Malereien , Säulengängen und Fresken ist zu Recht zum Weltkulturerbe geadelt worden. Hier lebten einst Christen, Juden und Moslems friedlich zusammen. Die „Araber“ oder „Mauren“, wie man sie in unparteilicher Ungenauigkeit häufig nennt, drangen 711 in Spanien ein und eroberten fast die gesamte Halbinsel mit Ausnahme einiger Hochtäler in Kantabrien und den Pyrenäen. Vom Jahr 711 bis zum Fall Granadas im Jahre 1492 war Spaniens politische und geistliche Welt islamisch. Die katholische Christenheit lag im tiefsten Dunkel, sodass ein friedlicher Islam von Bagdad bis Cordoba im Lichte von Wissenschaft, Gelehrsamkeit, Kunst, und Bildung glänzen durfte. Es sei eine äußerst segensreiche Epoche für Spanien gewesen, schreibt der Historiker Salvador de Madariaga über diese versunkene und tief verschüttete Zeit. Das islamische Spanien, also „ al-Andalus“ , habe der kulturell-geistigen Welt unbestritten seine klügsten Philosophen, Astronomen, Mathematiker, Mystiker und Dichter geschenkt – bis zu jenem verhängnisvollen Jahr 1449, als die „ Reconquista“ die „ Reinheit des Blutes“ als neue Staatsform propagierte und Juden gezwungen wurden, zum Christentum zu konvertieren.
Mit abstruser historischer Begründung
Wie ein schwerer Schlagschatten legt sich dieser Teil einer fast vergessenen Geschichte heute über ein Land, das von den Propagandisten des „ Islamischen Staates“ mit abstruser historischer Begründung zum neuen Feind erklärt worden ist – als müsse ein verquaster Geschichtsrevisionismus helfen, zweifelnde IS-Krieger nach Niederlagen in Syrien und im Irak neu zu motivieren und bei der Stange zu halten. Weil IS- Propagandisten in letzten Kommuniques immer wieder behaupteten, dass ihnen das Land Spanien nach über siebenhundert Jahren aus historischen Gründen immer noch zustehe und es lediglich besonderer Anstrengungen bedürfe, sich das einst Geraubte von den damaligen Eindringlingen zurück zu holen, setzte man sogar Fakten: Bis 2020, so lautete ein Video der Dschihadisten aus dem vergangenen Jahr 2016 , solle sogar ganz Spanien samt Portugal zurückerobert und wieder unter die Herrschaft des „ IS“ gestellt werden .
Nach einer Studie des spanischen Terrorismus-Experten Reinares, die gegenwärtig von spanischen Medien kommentiert wird, scheint diese Rückeroberung nach den Ereignissen von Barcelona jetzt im vollen Gange. Danach geht die aktuelle Terrorgefahr besonders von jungen, desillusionierten Männern aus dem Maghreb aus, die seit Jahren über die Meerenge von Gibraltar und die Exklaven Ceuta und Melilla illegal auf das spanische Festland einreisen und sich vornehmlich in Katalonien festgesetzt haben. In dieser prosperierenden Wirtschaftsregion stellten Migranten aus Marokko und Tunesien bereits ein Drittel aller Terrorverdächtigen, die seit 2013 in Spanien festgenommen, in Untersuchungshaft gesteckt und abgeurteilt worden sind. Einer von den zwölf Terroristen, die das Doppel-Attentat von Barcelona ausgeführt haben, hatte längere Zeit in der Nordafrika-Exklave Melilla gelebt.
Unter dem Einfluss eines Imans
Die meisten der über ein Dutzend jungen Männer, die den Anschlag von Barcelona planten und durchführten, kamen aus Vororten der katalanischen Hauptstadt. Anfangs sei ihrer näheren Umgebung an ihrem täglichen Verhalten nichts aufgefallen. Doch dann seien sie ihren Freunden fremder geworden, nachdem sie angeblich unter den Einfluss eines Imans gerieten, der in der Moschee eines kleinen Vororts von Barcelona gepredigt hatte. Die Rolle dieses Predigers bleibt nebulös. Es wird vermutet, dass dieser Iman sogar der Kopf der Terrorzelle gewesen sein könnte. Die Frage drängt sich auf, ob dieser obskure Prediger seine Schützlinge zum Kampf gegen die „ spanischen Kreuzritter“ aufgerufen und die jungen Männer zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren sogar zu ihrer blutigen Tat angestiftet hat.
Wie die Zeitung EL Pais berichtet, war der Iman mit dem Namen Abdelbaki Es Satty den Sicherheitskreisen kein Unbekannter: Er hatte sogar kurzzeitig im Gefängnis gesessen, weil er Ärger mit den spanischen Ausländerbehörden hatte. Die aktuellen Anschläge weisen auf zwei Merkmale hin: Nach dem Attentat von Barcelona ist spanischen Sicherheitsexperten klar, dass der IS für seinen Terror nicht nur auf Einzelgänger angewiesen ist, die aus Überzeugung und auf eigene Faust handeln. Weil an den Attentaten in Barcelona und Cambrils mindestens ein Dutzend Personen beteiligt waren, werden hinter den getöteten und inzwischen verhafteten Tätern weit verzweigte Netzwerke vermutet. Wenn es das Ziel war, die offenbar angeschlagene Moral junger IS-Kämpfer und Sympathisanten mit einem fragwürdigen Rückgriff auf Teile einer islamisch-spanischen Frühgeschichte zu stärken, dann scheint dies nach Barcelona gelungen .Unter den vierzehn Toten und über hundert Verletzten befanden sich Opfer aus über fünfunddreißig Ländern, was für eine überaus starke Publizität in aller Welt sorgte. Zu Recht befürchten spanische Sicherheitskreise deshalb, dass sich ein solcher Anschlag in anderen Touristikzentren wiederholen könne. Im Touristenzentrum Mallorca, dem Sommersitz der königlichen Familie, wurden seit dem Wochenende besondere Sicherheitsvorkehrungen getroffen.
Gefährlicher als Al Quaida und ETA
Wo von der IS-Propagandamaschine suggeriert wird, dass alle in Spanien lebenden Muslime eigentlich die Opfer eines fremden Eroberungszuges seien, gegen den man im Namen Allahs gewaltsam aufbegehren müsse, deutet sich eine gefährliche Entwicklung für die Zukunft an. Nach Ansicht des renommierten Politikwissenschaftlers Torres Sobriano, macht die historisch-strategische Tiefe solcher Begründungen den IS noch gefährlicher, als es Al Quaida oder die baskische ETA jemals waren. Sobald den IS-Kriegern erfolgreich eingetrichtert werden könne, dass Barcelona, Cordoba, Ceuta und Melilla historisch-politisch eigentlich den Muslimen gehöre und nur mit Brutalität und Gewalt zurückerobert werden müsse, gebe es für jeden einzelnen der islamischen Gotteskrieger viele Gründe, um ihren privaten, ganz persönlichen Hass zu konstruieren. Man könne mit dieser Legitimation die Gesellschaft ganz Spaniens für die eigene, meist verkrachte Existenz verantwortlich machen und sich beliebig neue Argumente liefern lassen, um den Kampf um das Erbe der muslimischen Großväter und Urgroßväter zu begründen.
Der triumphierende Duktus der IS-Propaganda ist kaum zu überhören. „ Wir haben bereits an verschiedenen Orten der Welt demonstriert, dass es für den Dschihad keine Grenzen gibt“, heißt es in einer IS-Erklärung vom 6.August 2017, an die die liberal-konservative Zeitung „La Razon“ jetzt erinnerte. „Die Bereitschaft, unter den Regeln der Scharia zu leben, ist nicht auf bestimmte Länder und Regionen beschränkt. Die Fahne des islamischen Staates weht nach dem Willen Allahs überall.“ War es nur Zufall, dass kaum eine Woche nach dieser Ankündigung das Doppelattentat von Barcelona geschah, dem schon einen Tag später ein Messerattentat in Finnland mit zwei Todesopfern und zahlreichen Verletzten sowie ein Anschlag im fernen Sibirien folgen sollten? Wollte der IS, der sich inzwischen zu diesen Vorfällen bekannte, auch auf diese Weise seine ungebrochene weltumspannende Präsenz demonstrieren?
König Felipe: Wir stehen zusammen
Noch ist Katalonien zwar eine der Regionen Spaniens, wo sich nicht nur die meisten Muslime, sondern auch die meisten Touristen befinden. Aber die jüngsten Reaktionen auf das Attentat beweisen, dass sich ein vom Terror leidgeprüftes Spanien auch in Trauer und Trotz zusammen finden kann. Dazu haben die Reaktionen auf den Anschlag in Barcelona eindrückliche Beweise geliefert. „Unidos contra el terrorismo“, heißt fast überall die Losung dieser Tage. Die Bilder von König Felipe VI. ,der zusammen mit Ministerpräsidenten Rajoy und katalanischen Regionalpolitikern in einer riesigen Menge von Trauernden am vergangenen Freitag der Opfer gedachte, die ergreifende Trauerfeier am Sonntagvormittag in der Kathedrale „Sagrada familia“ – diese Reaktionen scheinen einen Augenblick lang den kleinlich und giftig geführten Streit über Zentralismus und Separatismus vergessen zu lassen, den Spanien seit einigen Jahren erlebt und der im Herbst zu einer umstrittenen Volksbefragung in Katalonien führen soll. „Ganz Spanien ist Barcelona“, rief der König am vergangenen Freitag. „Wir sind vereint im Schmerz. Aber wir stehen zusammen, um diese Barbarei zu beenden“.