Nimmt man diesen jämmerlichen Fluchtversuch der 96-jährigen Irmgard F. als Geschichte für sich, dann hat er etwas fast Rührendes. Die alte Frau wollte sich ihrem Prozess vor dem Landgericht Itzehoe entziehen und türmte ein paar Stunden vor Verhandlungsbeginn aus einem Pflegeheim in Quickborn bei Hamburg mit Taxi und U-Bahn. Natürlich ist sie nicht weit gekommen, wurde nach ein paar Stunden wieder eingefangen.
Als 18- oder 19-jähriges Fräulein – so sagte man damals noch – war Irmgard F. Sekretärin im Konzentrationslager Stutthof. Jetzt ist die frühere Schreibkraft angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in 11.000 Fällen.
Mit dem, was ich jetzt schreibe, nehme ich Missverständnisse und Fehldeutungen in Kauf, aber ich gebe offen zu: Ich bin zutiefst irritiert.
Kurzer Einschub: Ich hatte das Glück, genau dann geboren worden zu sein, als Nazi-Deutschland kapitulierte und der Zweite Weltkrieg zu Ende war. Als Kind der aufstrebenden Bundesrepublik war ich nie gefordert, existenzbedrohende oder gar lebensgefährliche Zivilcourage zu zeigen. Und gerade deshalb habe ich Fragen an dieses Gerichtsverfahren gegen die 96-jährige Irmgard F..
Braucht es so einen Prozess, um die wahrhaft unfassbaren Verbrechen der Nazis im Dritten Reich aufzuarbeiten ? Es sei wichtig, formuliert ein Anwalt von KZ-Opfern, „dass rechtlich geklärt wird, ob sich KZ-Mitarbeiter auf einer unteren Hierarchieebene strafbar gemacht haben“. Dann, bitte sehr, muss man den Kreis doch viel weiter ziehen: Die Mitschuld der Millionen, die Adolf Hitler an die Macht gebracht haben, die Mitschuld derer, die in der Reichspogrom-Nacht Zeugen wurden, wie die Nazis mit Juden umgingen, die Mitschuld der ungezählten Bürger, die zusahen, als Juden in ihrer Nachbarschaft abgeholt wurden. Und niemand kann mir erzählen, keiner von ihnen habe gewusst, wohin diese Menschen deportiert würden. Aber jetzt soll es allein um die 96-jährige Irmgard F. gehen. Und das verstehe ich eben nicht.
Und ich frage mich auch, ob die Bundesrepublik überhaupt die moralische Legitimation hat, über die ehemalige KZ-Sekretärin zu Gericht zu sitzen. Die Bundesrepublik Deutschland, die nach dem Krieg höchst erfolgreich aufgebaut worden war in einer Kontinuität der Verwaltungseliten des Dritten Reiches. Das berühmteste Beispiel Hans Josef Maria Globke. Er war die „graue Eminenz“ und der engste Vertraute des ersten Kanzlers der Bundesrepublik, des legendären Konrad Adenauer. Globke war in Nazi-Deutschland als Verwaltungsjurist im Reichsinnenministerium Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze. Sein Einsatz für die nationalsozialistische Diktatur war zumindest teilweise bekannt, denn er wurde deshalb auch aus dem Ausland immer wieder scharf angegriffen. Aber von der CDU-Bundesregierung und dem Bundesnachrichtendienst wurde der hohe und wirkmächtige Nazi stets geschützt.
Dann auch Hans Karl Filbinger, im Dritten Reich NSDAP-Mitglied, der als Marinerichter in den letzten Kriegsjahren mindestens vier Todesurteile beantragt oder gefällt hatte. Dieser Hans Karl Filbinger hatte es im Nachkriegsdeutschland zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, CDU-Landes- und stellvertretenden Bundesvorsitzenden gebracht.
Irgendwann musste er zurücktreten, aber der Prozess wurde ihm genauso wie Hans Globke nie gemacht. Globke und Filbinger zwei Beispiele, denen hunderte oder gar tausende zugefügt werden könnten.
Gewiss, Irmgard F. hat sich durch ihre Tätigkeit in der Mordmaschinerie der Nazis schuldig gemacht. Das steht für mich außer Zweifel. Genauso wie wir um die schwere Schuld vieler aus jener Zeit wissen, die straffrei davon gekommen sind.
Dass aber jetzt eine einzelne 96-jährige gebrechliche Frau, so uneinsichtig sie sein mag, vor den Kadi gezerrt wird …. Wie gesagt: Ich bin irritiert.
Bildquelle: Andrzej Otrębski, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons