Politische Spannungen als Resultat sozioökonomischer Spaltungstendenzen
Die sozioökonomischen Spaltungstendenzen der Bundesrepublik entluden sich während der pandemischen Krisensituation in heftigen politischen Spannungen. Aber nicht bloß der Arm-reich-Gegensatz wurde im pandemischen Krisenmodus hautnah erfahrbar, sondern auch der Oben-unten-Gegensatz trat für Bürger/innen deutlicher zutage, die weder reich noch politisch einflussreich waren. Menschen ohne jede Macht wurden durch antisemitische Verschwörungsmythen entlastet, die ihnen vermittelten, dass nicht sie, sondern andere, nämlich die Machenschaften dunkler Kräfte aus Hochfinanz oder Judentum, schuld an ihrer Unfähigkeit wären, Einfluss auf die Geschehnisse zu nehmen. Verschwörungsgläubigen geht es nicht um die Reduktion der Komplexität von sozioökonomischen Zusammenhängen, wie man ihnen oft unterstellt, denn antisemitische Narrative vereinfachen diese gar nicht, sondern verdunkeln sie nur.
Obwohl dem Virus durch ein geschlossenes und energischeres Vorgehen der ganzen Bevölkerung eventuell wirksamer zu begegnen gewesen wäre, bildeten sich auf der politischen Ebene im Verlauf der Pandemie sehr schnell zwei einander heftig befehdende Lager heraus: Die der Bundesregierung von CDU, CSU und SPD nahestehenden Kräfte betonten in erster Linie das Grundrecht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Gesundheit, empfanden die getroffenen Maßnahmen entweder als zwingend erforderlich oder sogar als zu lasch, um der Bedrohung durch das Virus baldmöglichst Herr zu werden, und befürworteten daher breiter angelegte Impfkampagnen sowie eine für im Gesundheits- und Pflegebereich tätige Menschen geltende, später auch eine allgemeine Impfpflicht. Das andere Lager rekrutierte sich aus von den etablierten Parteien schon länger Frustrierten, die früher teilweise dort selbst Politik gemacht hatten, sowie aus rechtsextremen und wenigen linksradikalen Fundamentaloppositionellen. Man negierte oder relativierte zumindest die Infektionsgefahr und kritisierte das Pandemiemanagement der Regierung als totalitär oder reine Willkür, darauf ausgerichtet, dauerhaft eine allgegenwärtige Überwachungs- und Kontrollinfrastruktur zu etablieren.
Motive von Pandemieverharmlosern und Verschwörungstheoretikern
Schwere ökonomische Krisen und gesellschaftliche Umbrüche führen bei Gesellschaftskritiker(inne)n häufig zu politischen Verirrungen oder geistigen Verwirrungen, die meistenteils in Sektierertum münden. Die sich als epochale Freiheitsbewegung verstehenden „Querdenker/innen“ beschränkten ihre Agenda beinahe durchgängig auf Grundrechtseinschränkungen und damit angeblich verbundene Gefahren für die Demokratie, unternahmen hingegen nichts zur Eindämmung der sozioökonomischen Ungleichheit, was ihren Protest nicht eben glaubwürdiger erscheinen ließ. Man gewann als kritischer Beobachter bisweilen sogar den Eindruck, als wäre ihnen die Bekämpfung der verhassten Bundesregierung wichtiger als die materielle Besserstellung sozioökonomisch Benachteiligter und von der Pandemie besonders hart Getroffener.
Es gab eine kleine, aber sehr lautstarke Minderheit der Bevölkerung, die SARS-CoV-2 für relativ harmlos hielt, Covid-19 mit einer gewöhnlichen Grippe gleichsetzte, die Infektionsschutzregeln nicht oder nur zögerlich befolgte, eine Schutzimpfung als überflüssig oder extrem gefährlich betrachtete und eher zu Verschwörungsmythen neigte. In der Öffentlichkeit avancierten der Vegan-Koch Attila Hildmann, der als Mitbegründer der „Söhne Mannheims“ bekannt gewordene Sänger Xavier Naidoo, der Rapper Sido und der Schlagersänger Michael Wendler zu führenden Repräsentant(inn)en des Coronaprotests. Als prominente Aushängeschilder der Bewegung dienten auch der Filmschauspieler Til Schweiger und die Popikone Nena (Gabriele Susanne Kerner). Für medialen Flankenschutz sorgten die schon vorher einschlägig bekannten Journalisten Ken Jebsen (KenFM, Apolut.net), Jürgen Elsässer (Compact) und Boris Reitschuster (Reitschuster.de).
Zu den fachlich qualifizierteren, aber politisch nicht minder verbohrten Repräsentant(inn)en dieser Richtung gehören die Biochemikerin Karina Reiss und ihr Ehemann Sucharit Bhakdi. Letzterer hat jahrzehntelang das Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene der Johannes Gutenberg-Universität Mainz geleitet, vertritt antisemitische Positionen und kandidierte ebenso wie seine Frau am 26. September 2021 für die Basisdemokratische Partei Deutschland zum Bundestag. Reiss und Bhakdi betrachteten die Covid-19-Pandemie – in Anführungszeichen gesetzt – als „Fake“ und führten den allgemeinen Glauben daran auf Manipulation zurück.
Antisemitismus und Verschwörungstheorien
Teilweise wurden Prominente, Juden oder Freimaurer beschuldigt, durch Impfung der ganzen Menschheit die Weltherrschaft anzustreben. Besonders weit gingen die Wahnvorstellungen einer aus den USA stammenden Sekte namens „QAnon“, deren Sympathisant(inn)en einer transnationalen Elite bzw. pädophilen Multimilliardären unterstellten, mit Hilfe des „tiefen Staates“ (deep state) in Kellern gefangengehaltene Kinder zu ermorden und deren Blut als Verjüngungsmittel zu nutzen. Unübersehbar ist an dieser Stelle der Rekurs auf eine mittelalterliche Ritualmordlegende, deren Stoßrichtung gegen Juden sogar noch älter ist als der Antisemitismus.
Während der Pandemie gewann QAnon auch hierzulande Anhänger/innen, die sich regelmäßig an den Aktionen gegen die Infektionsschutzmaßnahmen beteiligten, oftmals gemeinsam mit politisch Gleichgesinnten wie den sog. Reichsbürgern. Allerdings besaß der Protest gegen die staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen ein relativ stabiles, sich nicht bloß aus rechten Randgruppen rekrutierendes Mobilisierungspotenzial.
Verschwörungsideologien, die im Gegensatz zu Theorien jeglicher Art gar nichts erklären, sondern die ökonomische, soziale und politische Realität eher vernebeln, weil sie interessengeleitet, subjektiv gefärbt und auch kein originäres Produkt der Covid-19-Pandemie sind, hatten nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001, während der Krimkrise 2004, während der globalen Banken- und Finanzkrise 2007/08 sowie nach der „Flüchtlingskrise“ 2015/16 ebenfalls Hochkonjunktur.
Aufgrund der erheblichen Verunsicherung großer Teile der Bevölkerung während der pandemischen Notsituation erlebten Verschwörungsnarrative einen neuerlichen Aufschwung. Bis in weite Kreise des gutsituierten und akademisch gebildeten Bürgertums hinein reichte der Einfluss jener Konstrukte, die alle Geschehnisse und Entscheidungen mit einem geheimen Plan übermächtiger Bevölkerungskreise zu erklären suchen. Die verbreitete Ablehnung von Schutzimpfungen macht Menschen für Verschwörungsmythen besonders empfänglich. Damit lässt sich einerseits halbwegs plausibel erklären, warum die Bevölkerung überhaupt durch entsprechende Gesetze „unter Impfdruck gesetzt“ wird, und andererseits die eigene Angst vor Impfschäden in legitimen Widerstand gegen ein Komplott oder eine autoritäre Staatsmacht umdeuten.
Querdenker, „Wutbürger“ oder Wirrköpfe?
Bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung stieß die Verpflichtung, in geschlossenen Räumen, Bussen und Bahnen sowie auf Wochenmärkten und belebten Einkaufsstraßen einen Mund-Nase-Schutz zu tragen, auf größeren Widerwillen. Kritiker/innen der staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen verglichen sie mit der Verneigung vor dem „Gesslerhut“ in der Sage und Friedrich Schillers Drama „Wilhelm Tell“ als symbolträchtiger, aber eigentlich sinnloser Geste der Untertänigkeit. Eine in der Pandemie aus Gründen des Infektionsschutzes empfohlene und zweifellos unangenehm zu tragende Atemschutzmaske hatte damit allerdings ebenso wenig gemein wie mit einem Maulkorb (für Hunde), der auch oft zum Vergleich herangezogen wurde.
Der geläufige Begriff „Coronaleugner“ führt in die Irre, weil kein halbwegs seriöser Kritiker der Infektionsschutzmaßnahmen und/oder der Impfkampagnen die Existenz von SARS-CoV-2, sondern ihre Mehrheit nur eine pandemische Notlage der Bundesrepublik negierte. „Coronarebellen“ trifft ebenso wenig zu, denn es wurde ja nicht gegen das Virus oder die Pandemie aufbegehrt, sondern höchstens gegen den Staat und seine Repräsentant(inn)en. Und die abschätzige Bezeichnung der Aktivist(inn)en als „Covidioten“ war eine persönliche Beleidigung, mit der eine sachliche Auseinandersetzung zwischen den konträren Positionen verhindert wurde.
Dass die Pandemieleugner-Szene kein Haufen wildgewordener „Wutbürger“ war, zeigten die unablässigen Versuche ihrer Wortführer, durch Gründung einer schlagkräftigen Parteiorganisation gezielt Einfluss auf politische Willensbildungs- und parlamentarische Entscheidungsprozesse zu nehmen. Schon kurz nach Beginn der Proteste gegen die staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen entstand die „Partei Widerstand2020 Deutschland“. Kaum war sie nach einem Vierteljahr abgewickelt, wurde „dieBasis – Basisdemokratische Partei Deutschland“ ins Leben gerufen. Im September 2021 trat diese zur Bundestagswahl an, ohne übermäßig erfolgreich zu sein, schnitt sie mit 1,6 Prozent der Erst- und 1,4 Prozent der Zweitstimmen doch schlechter als beispielsweise die Tierschutzpartei ab. Zwar schwang sich die AfD im Bundestag zur Vertreterin des „Volkszorns“ auf, fühlte sich als „parlamentarischer Arm“ der Protestbewegung und lehnte staatliche Infektionsschutzmaßnahmen wie den Lockdown grundsätzlich ab, ihre Erfolge bei Wahlen gingen aber während der Pandemie deutlich zurück.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. Heute (am 18. Mai 2022) erscheint sein Buch „Die polarisierende Pandemie. Deutschland nach Corona“ bei Beltz Juventa.