Deutschland steckt weder in einer Staatskrise, auch sind wir nicht, wie fast schreierisch verbreitet wird, in einer Stunde Null. Die Jamaika-Koalition ist gescheitert, noch ehe sie richtig begonnen hatte. Zugegeben das Lieblingsprojekt vieler Medien. FDP-Chef Lindner hat den Stecker gezogen. Das muss man akzeptieren. Besser nicht regieren als falsch regieren. Ein Verzicht auf Regierungsämter ausgerechnet von einem FDP-Chef. Hut ab! Aber warum dann fast die gesamte Medien-Meute die SPD an die Wand schreibt, verstehe, wer will. Die Sozialdemokraten seien schuld. So der erste Pfeil auf die Sozis. Und dann der nächste: Die SPD müsse jetzt Ihr Nein zur GroKo aufgeben und mitregieren. Dieselben Leute, die die SPD nicht gewählt haben, drängen sie jetzt in die Regierung.
Wir brauchen, so hört man fast unisono, eine stabile Regierung. Und wer alles ruft nach der SPD: Europa, die Welt, als wäre etwas aus den Fugen geraten. Ist es aber nicht. Wir haben eine geschäftsführende Regierung. Und warum soll Deutschland nicht von einer Minderheitsregierung geleitet werden? Wegen Europa, der Außenpolitik, der Sicherheitspolitik? Selten so gelacht. Gerade in diesen Fragen gibt es seit Jahrzehnten eine breite, verlässliche Mehrheit, mit Ausnahme der AfD und der Linken.
Die SPD muss, so konnte man es gestern dem Fernsehen entnehmen. Der Ex-Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks, Sigmund Gottlieb, sonst nicht verdächtig, ein Freund der Sozialdemokraten zu sein, verlangte bei „Hart, aber fair“ von der SPD-Führungsfrau Katarina Barley eine entsprechende Zusage. Wenn ich richtig gesehen habe, hat Gottlieb seine Forderung sogar mit einem kleinen Faustschlag auf den Tisch untermauert. Besser wurde seine Argumentation dadurch nicht. Der neben ihm sitzende langjährige Büroleiter der ARD in Brüssel, Rolf-Dieter Krause, widersprach Gottlieb und anderen am Tisch, die ebenfalls auf dem GroKo-Zug saßen, als führe kein anderer Zug ans Ziel. Ruhig und sachlich argumentierte Krause für eine Minderheitsregierung und wies daraufhin, dass die Außen- und Sicherheitspolitik gerade nicht das Risiko einer Minderheits-Kanzlerin darstellten. Dass Angela Merkel eine solche Minderheits-Regierung nicht will, dürfte ja wohl nicht ausschlaggebend sein. Oder?
SPD hat oft Verantwortung getragen
Dass eine SPD in ihrer langen 154jährigen Geschichte immer wieder Verantwortung übernommen hatte, das spielte auf dem Podium nur am Rande eine Rolle- wenn man Krause und Barley mal außen vorlässt. Dass SPD-Chef Martin Schulz noch am Wahlabend angesichts des Wahldesasters seiner Partei in aller Demut erklärt hatte, man werde in die Opposition gehen, um dort zu verhindern, dass eine rechtsradikale Partei, rassistisch und fremdenfeindlich, wie die AfD die führende Oppositionsrolle übernehmen werde, ja, aber die Lage habe sich verändert.Gemeint das Scheitern von Jamaika. Aber ist die SPD daran schuld? Ist das nicht eher Merkels Sache? FDP-Chef Lindner darf zur Rettung der FDP die Sondierungsgespräche verlassen, der SPD wird das nicht zugestanden. Hat man die Leistungen der SPD seit 1945 vergessen, ihre Rolle beim Wiederaufbau der Republik, bei der Einführung der parlamentarischen Demokratie nach der Nazi-Diktatur? Willy Brandts Kanzlerschaft, die Aussöhnung mit dem Osten? Mehr Demokratie wagen, lautete einer der Kernsätze in seiner ersten Rede als Bundeskanzler. Willy Brandt, der vor den Nazis ins Ausland floh, dann in Warschau auf die Knie fiel, um der Opfer durch die Nazi-Diktatur zu gedenken, um Verzeihung zu bitten? Brandt, der Friedensnobelpreisträger. Denkt denn niemand daran, dass eine erneute GroKo die Existenz dieser Partei gefährden könnte?
Der Historiker Heinrich August Winkler, Verfasser der vier Bände „Geschichte des Westens“, hat sich in einem Beitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ gegen eine Neuauflage der Großen Koalition ausgesprochen. „Nur keine vierte GroKo! warnt der angesehene Historiker schon in der Unterzeile des Beitrags. Winkler ist Jahrgang 1939, er ist geboren in Königsberg und ist heute emeritierter Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Winkler erinnert daran, dass es bis vor kurzem noch unstrittig war, dass große Koalitionen nicht zum Regelfall der politischen Mehrheitsbildung werden sollten. Große Koalitionen trügen die Gefahr in sich, die Ränder rechts und links zu stärken und die Volksparteien zu schwächen. Es sei also „vernünftig und verantwortungsbewusst, sich nur dann auf eine große Koalition einzulassen, wenn die Bundesrepublik tatsächlich anders nicht regiert werden könne.“
Als die APO gebildet wurde
Man darf hier an die erste große Koalition 1966-1969 erinnern und die unschönen Begleiterscheinungen. Die NPD zog in einige Landesparlamente ein, es kam zur außerparlamentarischen Opposition-kurz APO genannt. Es gab Studentenunruhen, Demonstrationen.
Käme es zu einer vierten Großen Koalition, so wäre es die vierte in der Geschichte der Republik und die dritte seit 2005, seit der Neuwahl, die der damalige Kanzler Gerhard Schröder nach der Wahlschlappe der SPD in NRW beantragte, oder soll man sagen, durchsetzte beim Bundespräsidenten Horst Köhler. Es wäre die zweite GroKo hintereinander, nach 2013, nachdem Schwarz-Gelb krachend gescheitert und die FDP auf dem Parlament geflogen war. Winkler argumentiert, es sei der große Vorzug der Demokratie, dass sie es dem Souverän, dem Volk, ermögliche, in gewissen Abständen die Regierung auszuwechseln. Die Minderheit von heute könne morgen zur Mehrheit werden. Wenn aber die beiden größten Parteien auf Dauer zusammen regierten, käme es nur noch auf die Frage an, wer von beiden den Kanzler-die Kanzlerin stellte.
Immer wieder Wechsel
Und so geschahen die Wechsel: 1969, als die SPD das erste Mal nach dem Krieg mit Hilfe der FDP-damals hieß der Parteichef Walter Scheel- den Bundeskanzler mit Willy Brandt stellte. Der nächste Wechsel erfolgte dann am 1. Oktober 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum. Helmut Schmidt wurde mit Hilfe der FDP-jetzt führte Hans-Dietrich Genscher die Liberalen- durch Helmut Kohl abgelöst. 1998 folgte der nächste Wechsel, Kohl verlor die Wahl gegen Gerhard Schröder, es war die erste rot-grüne Regierung auf Bundesebene. Und 2005 löste Angela Merkel Schröder ab, nachdem sie die Wahl hauchdünn gewonnen hatte. Merkel regierte mit der SPD.
Die parlamentarische Demokratie, so der Historiker weiter, lebe von der Parteienkonkurrenz. Diese aber sei „ernsthaft bedroht“, wenn sich CDU/CSU und SPD durch den ständigen Zwang zum Regierungskompromiss inhaltlich so annäherten, dass sie ihr eigenes Profil verlören. Gibt es nicht seit Jahren die Klagen in der Union, dass die Partei unter Merkel inhaltlich verschwommen geworden sei, sodass man sie kaum noch erkenne? Und wie ist das mit der Sozialdemokratisierung der CDU, ein Vorwurf aus der konservativen Ecke der Christdemokraten?
Berlin ist nicht Weimar
Eine CDU-CSU-Minderheitsregierung, die außenpolitisch eine breite Mehrheit hätte, müsste sich auf dem Feld der Innenpolitik immer wieder neue Mehrheiten suchen, von Fall zu Fall. Das wäre dann mal die SPD, oder die FDP oder/und auch die Grünen. Von Weimarer Verhältnissen muss man wirklich nicht reden, die Verhältnisse in den 20er Jahren sind mit denen von heute nicht zu vergleichen. Deutschland ist stabil. Es könnte sogar sein, dass sowohl die Union wie die SPD verlorengegangene Wählerinnen und Wähler zurückgewännen, wenn sie wieder ihr eigenes Profil schärften.
Es ist ja unbestritten, dass der Wahlausgang am 24. September eben nicht besagte: Weiter-So mit der großen Koalition. Sowohl Merkels CDU, als auch Seehofers CSU und Schulz´SPD haben damals viele Stimmen verloren. Martin Schulz hat nach der Wahl gesagt, es gehe für die SPD neben dem Gang in die Opposition auch darum, die Gründe des Niedergangs der Partei aufzuarbeiten. Das steht auch der Union bevor, die das schlechteste Wahlergebnis nach dem Krieg erzielte. Und die gut 38 Prozent der CSU sind sicherlich auch eher eine Warnung denn die Aufforderung, einfach so weiterzumachen wie bisher.
Mehr Parlament wagen
Der CDU-Abgeordnete Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, der früher mal zu den Hoffnungsträgern der CDU gehörte, ehe er als Spitzenkandidat seiner Partei die Wahl in NRW verlor und damit das Amt des Bundesumweltministers im Kabinett Merkel, hat sich für eine Minderheitsregierung ausgesprochen. Etwa so in dem Sinne: Mehr Parlament wagen, was fast nach Willy Brand klingt. Dem Bundestag, den Fraktionen und den Ausschüssen käme mehr Bedeutung zu, meint auch der Historiker Winkler. Erst wenn der Versuch einer Minderheitsregierung-übrigens in Skandinavien fast die Regel- scheiterte, wären Neuwahlen unumgänglich, also erst viel später und nicht schon im Frühjahr 2018. Winkler setzt dabei auf „Lernprozesse von Protestwählern“, auf deren „Einsicht, dass es bei der Stimmabgabe nicht darum gehe, sein Unbehagen zu äußern, sondern darüber zu entscheiden, wer das Land künftig regieren soll.“
Riskant ist das Thema GroKo auch deshalb, weil die SPD beschlossen hat, in jedem Fall die Mitglieder der Partei darüber abstimmen zu lassen. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsident Malu Dreyer (SPD), ist sich sicher, dass ein GroKo-Antrag in der Partei keine Mehrheit finde.
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