Im Haus der Bundespressekonferenz in Sichtweite von Reichstag und Kanzleramt hat eine Wanderausstellung Station gemacht, die schon in Den Haag, Genf und Accra gezeigt wurde. Zu sehen sind Künstlerportraits von „Wahrheitskämpfern“, ermordeten, inhaftierten oder verfolgten Journalisten unterschiedlicher Nationalität. Wahrheitskämpfer? Das wäre, als pauschale Gattungsbezeichnung aller Beschäftigten der Irgendwas-mit-Medien-Branche, sicher etwas übertrieben. Aber für die gezeichneten Opfer von Unterdrückung und Meinungsdiktatur in den vielfältigen Kriegs- und Krisenregionen der jüngeren Geschichte ist das allemal eine verdiente Zuschreibung. „Es ist die Wahrheit, die angegriffen wird“, hat Außenministerin Annalena Baerbock im Zeichen des russischen Überfalls auf die Ukraine betont. Doch nicht nur, wenn militärische Waffen im Einsatz sind, gerät die Wahrheit politisch unter Druck.
Vor Jahren verteidigte der Parteienforscher Franz Walter die Politik in einem Aufsatz („Lob der Lüge“) einmal vehement gegen den Vorwurf, das „gebrochene Wort“ gelte nicht nur im Wahlkampf mehr als Ehrlichkeit. „Weil im Zentrum der Politik die Machtfrage steht“, so argumentiert der Göttinger Professor,“kann es Wichtigeres geben als die Wahrheit.“ Im Ringen um Posten und Positionen müssten Politiker „kaltschnäuzig, unsentimental, knochenhart, listig sein“, daher gehörten „Irreführung, Maskerade und Raffinesse“ zum Handwerkszeug des erfolgreichen Volksvertreters. Walter berief sich auf eine prominente Kronzeugin, die Philosophin Hannah Arendt, Säulenheilige des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, von der dieser Satz stammt:“Niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet.“
Über diese Frage streiten Generationen von Philosophen und anderen Geistesgrößen seit Aristoteles. Der britische Historiker Timothy Garton Ash berichtet von einem Disput mit Tschechiens Dichter-Präsidenten Vaclav Havel, der sich nicht damit abfinden mochte, dass sein langjähriger Freund aus Oxford nüchtern feststellte:“Der Intellektuelle sollte immer versuchen, in der Wahrheit zu leben, während der Politiker mit der Halbwahrheit leben muss.“ Havel beharrte darauf, auch als politischer Amtsträger der Wahrheit verpflichtet zu sein, ganz ähnlich hat es Julian Nida-Rümelin, Ex-Kulturtstaatsminister in Gerhard Schröders Kanzleramt, in seinem Buch „Demokratie und Wahrheit“ beschrieben. In der Politik, konstatiert der Münchner Philosophie-Professor, könne auf Wahrheitsansprüche nicht verzichtet werden, nur um den zivilen Frieden zu sichern. Freilich dürfe „Wahrheit nur in homöopathischen Dosen verabreicht werden“, weil Wähler unbequeme Wahrheiten nicht gern hörten.
Wie aber sieht die politische Praxis in Deutschland wirklich aus? Schon Konrad Adenauer (CDU), der weise Alte aus Rhöndorf, hielt es ganz offen mit der Relativität von Wahrheit in der Politik:“Es gibt die Wahrheit, die reine Wahrheit und die lautere Wahrheit.“ Das ließen die Leute beim Gründungskanzler der Bundesrepublik noch als rheinische Schlitzohrigkeit durchgehen, doch späteren Kabinettsmitgliedern wurde zum Verhängnis, wenn sie beim Schummeln ertappt wurden. 1976 verlor Sozialminister Walter Arendt (SPD) sein Amt wegen einer „Rentenlüge“: Der Genosse hatte im Wahlkampf eine deutliche Erhöhung der Alterseinkommen versprochen, die von der sozial-liberalen Koalition hernach nicht eingehalten wurde. Inzwischen ist die Liste der überführten Sünder, die sich im Grenzbereich zwischen Wahrheit und Lüge verheddert haben, lang: Uwe Barschel, Björn Engholm, Jürgen W. Möllemann, Andrea Ypsilanti, Karl-Theodor zu Guttenberg, Anne Spiegel.
Über mehr oder minder offenkundige Unwahrheiten im Zusammenhang mit dem CDU-Spendenskandal stolperte gleich eine Schar illustrer Politiker der Union: Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Manfred Kanther, Roland Koch, Max Strauß. Kohls Nachfolger Gerhard Schröder (SPD) musste sich vor einem allgemein als „Lügenausschuss“ bekannten Gremium des Bundestages dafür rechtfertigen, dass er vor der Wahl 2002 ein angeblich bewusst falsches Bild von der Finanzlage der deutschen Sozialkassen gezeichnet hatte. Angela Merkel (CDU) wurde ebenfalls vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss mit der oppositionellen Anklage konfrontiert, sie habe 2013 in der „NSA-Affäre“ nicht nur „die Wahrheit manipuliert“, sondern „bewusst öffentlich Lügen verbreitet“. Und neuerdings schwebt über dem amtierenden Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) das Damoklesschwert einer nachweisbaren Falschaussage in der Causa „Cum-ex“. Der Finanzexperte Fabio di Masio, ehedem Fraktionsvize der Linken im Bundestag, ist überzeugt:“Scholz lügt.“
Diese „Chronique scandaleuse“ ist beeindruckend, sollte aber nicht zu jenem Generalverdacht gegenüber der Politik verleiten, der nicht erst seit den Demonstrationen von Wutbürgern, Querdenkern und Corona-Leugnern im Umlauf ist. Julia Nida-Rümelin weiß es besser:“Es wird in der Politik nicht mehr gelogen als in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.“ Das mag kein Trost sein, ist aber ein Hinweis auf die menschliche Natur der Politik und ihrer Akteure. Es kommt eben darauf an, dass es Instanzen der sozialen Kontrolle gibt, die Wahrheit und Lüge voneinander unterscheiden können, Trickser und Betrüger überführen. Und an dieser Stelle wird es leider immer komplizierter, weil nicht nur Politiker heutzutage über (noch) mehr Instrumente verfügen, ihr Publikum zu täuschen als bisher. Nicht umsonst hat die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, jüngst ihre Sorge darüber geäußert, dass sich Künstliche Intelligenz, etwa der Text-, Sprach- und Stimmengenerator ChatGBT, zur „Lügen- und Fake-News-Maschine“ entwickeln könnte.
Das aber ist nur die neueste Entwicklung einer Kommunikationstechnologie, die den Gauklern und Schwindlern gerade auch in der politischen Auseinandersetzung in die Hände spielt. Schon in der Vergangenheit waren sich kritische Geister im Journalismus klar darüber, dass sie immer in der Gefahr schwebten, dem „schönen Schein der Wahrheit“ (ZDF-Moderator Wolf von Lojewski) zu erliegen. Medienforscher wie Hans Mathias Kepplinger lieferten zahlreiche Belege dafür, dass besonders die mediale „Kunst der Skandalisierung“ mit einer „Illusion der Wahrheit“ operiere, die eine oft erschreckende Durchschlagskraft entfalte. Doch hat die „Auflösung von Gewissheiten“ gerade auch in demokratischen Gesellschaften ein Ausmaß erreicht, das die französische Philosophin Myriam Revault d’Allonnes („Brüchige Wahrheit“) zu der Erkenntnis führt:“Die öffentliche Meinung ist weniger von der Realität der Fakten als von subjektiven Einschätzungen und Emotionen geprägt.“
Zu besichtigen waren die Auswüchse des „postfaktischen Zeitalters“ auf krasse Weise im Schatten des Brexit-Referendums, in den von Donald Trump geführten US-Wahlkämpfen und den aufgewühlten Pandemie-Debatten rund um den Globus. Aus dem „Verwischen der Grenzen zwischen Wahr und Falsch, Redlichkeit und Unredlichkeit, Fiktion und Nichtfiktion“ resultiere eine „auf Misstrauen beruhende Gesellschaftsordnung“ schreibt Myriam Revault d’Allonnes: „Postwahrheit (post-truth) stellt das Wesentliche der Wahrheit in Frage.“ Und damit höhlt dieses Phänomen die Substanz offener und pluraler Demokratien aus, bahnt Radikalität und Populismus den Weg in die Mitte der Gesellschaften, „verstärkt durch die Funktionsweise der sozialen Netzwerke und den Misskredit, in den die offiziellen Kanäle heute geraten sind“.
Diesen Zusammenhang betonen auch Romy Jaster und David Lanius in ihrer Untersuchung mit dem vielsagenden Titel „Die Wahrheit schafft sich ab“. Lügen in Form von „Fake News“, „Deepfakes“ oder „alternativen Fakten“ machten sich „die Funktionslogik sozialer Netzwerke“ zunutze: Inhalte werden meist ungeprüft geteilt, das sichert die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ab. Die digital verbreiteten „Wahrheiten“ passen zu dem, was man ohnehin schon glaubt. Und die Politik (von Donald Trump, Wladimir Putin und anderen Autokraten dieser Erde) spielt hemmungslos auf dieser Klaviatur von Machtspielen, Desinformation und (Kriegs-)Propaganda. Ihr Ziel ist die „Delegitimation demokratischer Prozesse“, wie der Berliner Politikwissenschaftler Michael Zürn urteilt, „die Entbindung vom Wahrheitsbezug“ des politischen Wettbewerbs.
Im Zeitalter der Hyperindividualisierung und des egozentrischen Hedonismus nimmt sich eben jeder das Recht auf eine eigene Wahrheit – „my point of view“. Dabei hat Wahrheit etwas Verbindliches für die Kommunikation und etwas Verbindendes für soziale Beziehungen. Die Verständigung über und auf Tatsachen oder Fakten ist ein Archetyp menschlicher Kommunikation, auf den wir nicht verzichten können, weder im geschützten Raum der Privatsphäre noch im öffentlichen oder politischen Diskurs. Erst recht gilt für alle Konzepte der Demokratie mit ihrem Pluralismus von Positionen und Meinungen ein grundsätzlicher Wahrheitsanspruch. Wer diesen aufgibt oder relativiert, legt die Axt an die Demokratie.