Wahlen werden vom Wähler entschieden und Wahlsieger nicht von Meinungsforschungsinstituten gekürt. Emmanuel Macron geht als haushoher Favorit in die Stichwahl, und tatsächlich ist kaum vorstellbar, dass er nicht auch als neuer französischer Staatspräsident aus ihr hervorgeht. Vor übermütiger Siegesgewissheit jedoch ist zu warnen, und selbst wenn dem Senkrechtstarter der Einzug in den Elyseépalast gelingt, sind die Verhältnisse in Frankreich besorgniserregend. Das politische System steckt in einer tiefen Krise.
Der Rechtsextremismus hat die Mitte der Gesellschaft erreicht, das völkische, rassistische, chauvinistische Gedankengut des Front National ist wieder hoffähig. Die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen hat als Zweitbeste die Stichwahl erreicht und liegt in den Umfragen bei 40 Prozent. Die Ächtung des braunen Geistes funktioniert nicht mehr, die Gemeinsamkeit der Demokraten bröckelt, der politische Anstand, mit dem die Grande Nation noch im Jahr 2002 den Vater und Vorgänger Jean-Marie Le Pen in die Schranken wies, hat an Selbstverständlichkeit eingebüßt.
So viel im Detail an dem unabhängigen Bewerber Macron auszusetzen sein mag: Ihm die Empfehlung zu verweigern, heißt Le Pen zu unterstützen. Nicht zu wählen oder sich zu enthalten, das kann nicht oft genug gesagt werden, bedeutet eben nicht, sich herauszuhalten, und Strategen vom Schlage eines Jean-Luc Mélenchon wissen das genau, nur wissen sie offenbar nicht um ihre Verantwortung.
Wahlen im Ausnahmezustand, ein Klima der Terrorangst, die Befürchtung eines wirtschaftlichen Abstiegs, soziale Verwerfungen, rassistische Ausgrenzung, nationalistische Hetze, Europafeindlichkeit, Geschichtsklitterung und billige Heilsversprechen sind eine Mixtur, die die Unberechenbarkeit steigert. Die politischen Kommentatoren haben zwar übereinstimmend Macron als Sieger des TV-Duells mit Le Pen gesehen. Doch spätestens seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten wissen wir, wieviel Wunschdenken da im Spiel ist, oder schlicht die Unfähigkeit, das Unfassbare für denkbar zu halten: das Ende der fünften Republik und – infolgedessen – das Ende der europäischen Einigung.
Zur Unberechenbarkeit trägt auch der Absturz der etablierten Parteien bei, die mit ihren Bewerbern gleich in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen abgeschlagen ausgeschieden sind. Die im Juni bevorstehenden Parlamentswahlen werden zur Zitterpartie vor einem politischen Beben, das die Republik erschüttern und das politische System grundlegend verändern kann.
Die Liste der offenen Fragen, die auch am Sonntag noch nicht beantwortet sein werden, ist lang. Wird Emmanuel Macron, eher neo- als sozialliberal, ein Sympathieträger, der auch kräftig von dem Verdruss an den Etablierten profitiert hat, nach erfolgreicher Wahl ein Erneuerer im Präsidentenamt sein? Wird die Bewegung „En Marche“ sich über die Kampagne hinaus zu einer politischen Kraft entwickeln? Wird Europa neue Impulse bekommen? Wird Deutschland bei den Reformvorhaben zur Vertiefung mitziehen, oder wird Macron entzaubert werden? Lässt ihn die Nationalversammlung auflaufen und die EU ihn im Regen stehen? Die erste Lektion wird lauten: Politik ist keine Ein-Mann-Schau. Die pauschale Verunglimpfung der demokratischen Parteien und Institutionen muss ein Ende haben, wenn aus Parolen handfeste Politik werden soll.