Trotz gelegentlicher „Abweichler“, mit einem Fremdwort gern Dissidenten genannt, gilt in
deutschen Kommentarspalten die uneingeschränkte Solidarität mit der überfallenen Ukraine als
alternativlos. Sie wird gerne mit den Aussagen garniert, dass andernfalls die Ukraine aufhöre zu
existieren; dass Putin – ebenso wie es über „die Kommunisten“ in Südostasien in den 7o er Jahren
behauptet wurde – sobald er das eine Land erobert hat, viele andere noch erobern werde; dass mehr
Waffen Menschenleben retten würden und dass nur das ukrainische Kriegsziel der
Wiederherstellung des Status quo von vor 2014 denkbares Ergebnis von den Krieg beendenden
Verhandlungen sein könne. Ein Frieden mit verletztem ukrainischen Territorium sei kein Frieden
sondern ein Sieg Putins.
Die solidarische Haltung, die damit ausgedrückt wird, beruht zum einen auf emotionaler Empörung
über Putin, die alle, die ich kenne, mit mir teilen. Sie kann sich außerdem auf das Völkerrecht
berufen und auf die Helsinki Schlussakte, die 1990 in Paris bekräftigt wurde. Die argumentative
„Garnitur“ ist teilweise erkennbar dummes Zeug und teilweise Spekulation. Weder die Empörung
noch die Spekulation sind geeignete friedenspolitische Instrumente – von offensichtlichen
Unwahrheiten ganz zu schweigen.
Am letzten Februarwochenende und anlässlich des ersten Jahrestages des russischen Angriffs auf
die Ukraine haben wir verschiedene Demonstrationen gesehen; unzählige kleinere in vielen Städten,
die mutmaßlich zumeist die Solidarität mit der geschundenen Ukraine bekräftigten und zum
geringeren Teil vor unbegrenzten Waffenlieferungen warnen wollten. Aber genau kann ich das heute
nicht wissen. In Berlin, der Hauptstadt, gab es eine kleinere Demo von Waffenlieferungsbefürwortern fast aller im Bundestag vertretenen Parteien unter „grüner“ Führung und eine offensichtlich sehr viel größere – laut Polizeiangaben waren es 13.000 Teilnehmende – von Waffenlieferungskritikern unter Schwarzer-Wagenknecht-Führung. Nicht zu vergessen ist die sympathische Aktion der Berliner Linkspartei vor der russischen Botschaft.
Diese Aktionen zeigen vor allem, dass es in der Gesellschaft ganz offenbar andere Gedanken,
Bedenken und Haltungen in großer Zahl gibt als die Mehrheitsmeinung in den Mainstream-Medien.
Deshalb müsste nun etwas eintreten, das früher einmal journalistisches Selbstverständnis gewesen
ist: die Berichterstattung über alle Meinungen und Überlegungen statt nur über die eigenen. Wir
wollen doch nicht wie die sprichwörtlichen Lemminge irgendeiner scheinbar anonymen „Entwicklung“ in Abgründe folgen, sondern wollen wissen, was wir tun – oder nicht?
Fangen wir also die Debatte an mit dem Amtseid des Bundeskanzlers, der folglich Schaden vom
deutschen Volk abwenden muss. Eine andere Regel findet sich im Strafrecht, das unterlassene
Hilfeleistung dann straffrei lässt, wenn sich die potentiellen Helfer dabei selbst in Gefahr gebracht
hätten. Beides kommt in den Kommentarspalten nicht vor. Es wird von dem Verdikt des
angeblichen Egoismus, dass man nur an sich selber und nicht an die Ukrainerinnen und Ukrainer
denke, verdrängt. Es gibt also allerlei Regeln, bei „regelbasierter“ Politik kann es nicht allein um
das Verbot des Angriffskrieges und die Unverletzlichkeit der territorialen Integrität gehen, die
geahndet werden sollen. Diejenigen, die auch daran denken, nicht selbst Opfer der Eskalation dieses
Krieges werden zu wollen, sind deswegen noch lange keine gewissenlosen Egoisten und es ist eine
freche Behauptung, ihnen Gleichgültigkeit gegenüber den jetzigen Kriegsopfern zu unterstellen.
Man kann sehr wohl für die Ukraine spenden und gleichzeitig für eine regionale Eingrenzung des
Krieges sein, wenn er sich schon nicht beenden lässt.
Drehen wir die Szenarien doch einfach einmal um. Solange Angreifer wie Verteidiger über
genügend Waffen und Kämpferinnen verfügen, dauert der Krieg an. Je länger der Krieg aber dauert, desto mehr Menschen werden dabei sterben. Ganz klar ist, dass Waffenlieferungen nicht Leben schützen, sondern mehr Leben gefährden als es ohnehin schon der Fall ist. Wohlgemerkt kann man trotzdem Gründe für Waffenlieferungen haben. Man sollte sie aber nicht mit offensichtlich widersinnigen Sprüchen garnieren wie dem, dass Waffen Leben retten. Natürlich würde auch die Ukraine nicht aufhören zu existieren, wenn Putin siegte. Sie würde lediglich als souveräner Staat von der politischen Landkarte verschwinden. Das ist schlimm genug, völkerrechtswidrig und nicht wünschenswert. Es ist aber durchaus einer Abwägung zugänglich, wie viel territoriale Integrität wie viele Menschenleben kosten darf. Dass die Ukraine einschließlich der Krim wiederhergestellt werde, ist ein sympathisches Ziel. Es ist schon allein deswegen sympathisch, weil dann Putin auf ganzer Linie gescheitert wäre. Will man aber den Krieg ab- oder wenigstens unterbrechen und Verhandlungen über Frieden beginnen, kann man nicht das selber gewünschte Maximalziel – so berechtigt es auch sei – zur Voraussetzung für Verhandlungen machen. Es kann doch allenfalls am Ende von kriegverkürzenden Verhandlungen stehen. Anders gesagt: wer diese Verhandlungsvoraussetzung definiert, will keine Verhandlungen. Ich bin auch nicht überzeugt, ob Frieden in einer um x Quadratkilometer kleineren Ukraine kein Frieden ist. Geländegewinne des Angreifers wären zweifellos ungerecht aber es ist der Erwägung zugänglich, wie viel Gerechtigkeit wie viele Menschenleben wert sein soll. An dieser Stelle darf man sich gerne durch die Chroniken wühlen und prüfen, ob Egon Bahrs Beobachtung zutrifft, dass der Frieden nützlicher für die Gerechtigkeit sei, als die Gerechtigkeit für den Frieden. Alle diese Überlegungen sind keineswegs „gewissenlos“, wie ein emeritierter Politikprofessor bezüglich des Schwarzer-Wagenknecht-Aufrufs gesagt haben soll. Die bellizistischen Kommentatorinnen in unseren Medien ersparen uns beim Aufzählen aller Schrecknisse, die eintreten werden, wenn „der Westen“ oder doch wenigstens die Deutschen keine Waffen mehr liefern würden, auch die damals den Vietnamkrieg befeuernde Dominotheorie nicht.
Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht daran, dass die Behauptung, nach einem Sieg der
Kommunisten in Vietnam, würden die Sieger nach und nach noch mehr asiatische Länder erobern,
zu einem der wichtigsten öffentlichen Kriegsgründe der USA gehörten. Dessen ungeachtet haben
die USA den Krieg verloren, und die Ausweitung des Kommunismus hat in der Region danach bis
heute nicht stattgefunden. Das heißt zwar leider nicht, dass es damit zukünftig auf Russland
bezogen ausgeschlossen wäre, aber zumindest gibt es doch genügend eindeutige Gründe zu einem
Verteidigungskrieg, da müssen nicht spekulative Bedrohungsszenarien hinzu erfunden werden.
Zuletzt: ein Problem der Waffenlieferungen ist, dass alles, was zum Nachteil der Ukraine eintreten
kann ohne weitere Waffenlieferungen auch mit Waffenlieferungen eintreten kann – halt nur später.
Ein anderes Problem ist, wann und ob „wir“ die Waffenlieferungen beenden. Erst, wenn die Ukraine
ihre Kriegsziele erreicht hat? Sind das wirkliche „unsere“ Kriegsziele? Wollen wir dafür tatsächlich
eine womöglich stetige Eskalation riskieren? Wird auf diese Weise die Ukraine plötzlich zur
Führungsmacht des Westens? Sie definiert die Ziele, und wir liefern ohne eigene politische
Abwägung? Oder liefern wir nicht mehr, wenn wir nichts mehr haben oder jedenfalls zu spät, weil
das bauen von „schweren“ Waffensystemen keine Sache von wenigen Tagen ist? Und tritt dann
alles ein, was an Schrecknissen für die Ukraine geweissagt wird? Oder gibt Putin dann die Krim
zurück? Ohne Ironie anders gefragt: hätte Putin dieselbe Größe wie die USA in Vietnam und
Afghanistan? Da haben sie unter zahllosen ja auch eigenen Opfern verloren, sich geschüttelt und
gesagt, ok, war ein Versuch, hat nicht geklappt. Wir gehen nach Hause.
Zuallerletzt: kann sein, dass die chinesischen 12 Punkte reine Nebelkerzen sind; sie sind tatsächlich
auch vage. Warum wird aber keine Probe darauf gemacht? Die öffentliche Vagheit ist als Impuls für
Verhandlungen unvermeidlich. So vage aber ist die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Absage
an Atomwaffen, die zu den chinesischen 12 Punkten gehören, nun auch wieder nicht, um sie einfach
am Rande des Schlachtfeldes liegen zu lassen.
Ich bin froh, in dieser Lage kein handelnder Politiker zu sein. Nur: es muss möglich sein, solche
Abwägungen anzustellen wie hier geschehen; sie sind weder unmoralisch noch gewissenlos. Sie
müssen diskutiert werden und auch medial Gehör finden ohne gleich mit den üblichen
Formulierungen, so würde die Sache Putins betrieben, diffamiert und totgeschwiegen zu werden.
Gerade von unseren „Leit“-Medien darf erwartet werden, dass sie Dinge zu Ende denken, statt bloß
„Wir sind im Krieg mit Russland“ (Baerbock) zu fühlen. Nein! Sind wir nicht! Wollen wir auch
nicht sein!
Ich habe gerade Ihren Artikel gelesen und stimme Ihnen von Herzen zu.