Rydzy, Edda/Griefahn, Monika: Natürlich wachsen. Erkundungen über Mensch, Natur und Wachstum aus kulturpolitischem Anlass, Springer vs, Wiesbaden, 2014, 34,99 €
Das Buch entstand im Ergebnis einer im besten Sinne eigenartigen Promotion. So eigenartig, dass ich kurz deren Geschichte erzähle, bevor ich zu einigen inhaltlichen Aspekten komme.
Im Sommer 2007 hatte die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages für „Kultur in Deutschland“ ihre mehrjährige Arbeit beendet und ihren Schlussbericht vorgelegt. Es herrschten überwiegend Befriedigung und Freude. Schließlich war es gelungen, die Komplexität des Feldes Kultur zu erfassen, den damals aktuellen Höchststand von kulturwissenschaftlicher Forschung sowie kulturpolitischer Erfahrung abzubilden und nicht zuletzt: über einen langen Zeitraum hinweg große Aufmerksamkeit für kulturelle Belange zu erreichen. Zu recht stolz stellten die beteiligten sozialdemokratischen Parlamentarier und Kulturexperten den Schlussbericht in einer Veranstaltung mit mehr als zweihundert Teilnehmern im Willy-Brandt-Haus vor. Unter viel Beifall.
Bis sich ganz am Ende jemand mit ungefähr folgendem Statement meldete: Die Neue Kulturpolitik wolle Gesellschaftspolitik sein. Auf welche Weise könne sie denn nun zur Lösung der wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen beitragen? Aus den mehr als fünfhundert Empfehlungen der Enquete-Kommission gehe das jedenfalls nicht hervor. Auch er bekam viel Beifall – Edda Rydzy und Monika Griefahn stimmten ihm vehement zu. Also schlug ich ihnen vor, die Frage wissenschaftlich zu bearbeiten und – des Disziplinierungsdrucks wegen – daraus eine gemeinsame Dissertation zu machen. Unter den vielen, die ich davon betreute, war es so gut wie nie einfach, genau die inhaltliche Eingrenzung vorzunehmen, die dann eine stringente wissenschaftliche Bearbeitung des Themas erlaubt. Hier wurden die Autorinnen damit konfrontiert, dass geradezu im Gegenteil die Antwort auf ihre selbst gestellte Forschungsfrage eine meiner Erfahrung nach beispiellose Erweiterung des Blicks erforderte.
Nachdem Edda Rydzy und Monika Griefahn sich geeinigt hatten, sich am Exempel von Umweltfragen und Nachhaltigkeit mit den möglichen strategischen Lösungsbeiträgen von Kulturpolitik auseinander zu setzen, stellten sie bald fest: Dafür genügten die Wissensvorräte und Instrumente von Politologie und Kulturwissenschaft nicht. Monika Griefahns empirische Erhebung sowie die analytische Kritik von Nachhaltigkeit – als Begriff, Verständnis, soziale Bewegung und Gegenstand von politischer Strategie – führten zu dem Ergebnis: Bevor eine sinnvolle kulturpolitische Aussage getroffen werden konnte, musste der Frage auf den Grund gegangen werden, wie es sich eigentlich mit dem Wachstum verhält; konkret: mit dem stofflichen Wachstum – denn es ist ja der Umgang mit Stoffen, der unmittelbar den Zustand von Natur und Umwelt beeinflusst.
In ihren entsprechenden Untersuchungen beleuchtet Edda Rydzy diese Kernfrage aus den Blickwinkeln eines breiten Spektrums von Wissensdisziplinen: Evolutionstheorie, Mathematik, Logik, Biologie, Physik, Informationstheorie, Netzwerktheorie, Soziologie, Psychologie, Wirtschaftsgeschichte und Kulturwissenschaft. Sie kommt zu dem Schluss: „Leben ist Wachstum. Gesellschaftliches Leben ist exponentiell erweitertes und beschleunigtes Wachstum. Es handelt sich um einen eigendynamischen Prozess.“
Mit dieser Weise, der Frage nach dem Wesen von Wachstum radikal auf den Grund zu gehen, eröffnet sich ein überraschend neuer Blick auf Kunst und ästhetische Techniken. Deren besondere kreative Möglichkeiten werden ihres Mythos entkleidet und in Kontexte von Informationstheorie, Human- und Naturwissenschaften gestellt. Mit dem Ergebnis: ästhetischer Umgang mit Welt „ist der ultimative Kick der sozialen Evolution.“
Von diesen beiden Haupterkenntnissen aus werden erstens ein durchaus optimistischer, produktions- und technologiebejahender grundsätzlicher Lösungsansatz für die Mensch-Natur- Verhältnisse erörtert und zweitens fest umrissene, pragmatisch zu verfolgende strategische Potentiale von Kulturpolitik abgeleitet. Damit ist eine Prioritätensetzung gelungen, die der Enquete-Kommission für Kultur in Deutschland versagt blieb.
Auch für die Thematik der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ bilden Edda Rydzys und Monika Griefahns neue Erkenntnisse einen Ankerpunkt, der zu wesentlich konzentrierteren und zielführenderen Ergebnissen führen kann, als sie bislang vorliegen.
Bei „Natürlich wachsen“ handelt es sich um einen wichtigen Beitrag zu einer der dringendsten gesellschaftlichen Herausforderungen dieser Zeit. Dem Buch sind viele Leser zu wünschen, die sich seinem Anspruch stellen.