1. Die Ausgangssituation
Wir erinnern uns: Im Gefolge der Finanzkrise 2007/08 trat 2009 eine PKW-Absatzkrise ein. Die Top-Politiker in Brüssel beschlossen daraufhin, vertraulich und informell, die Branche heimlich zu entlasten. Mittel war, den bereits auf der Agenda stehenden nächsten Schritt, der die Regulierung zur Begrenzung der Fahrzeug-Emissionen in Europa in EGV 715/2007 (einheitlich) administrativ durchsetzbar machen sollte, für gut fünf Jahre auszusetzten. Zwischen „unzulässigen“ und „zulässigen“ Verfahrensweisen der Einschränkung der vollen Leistungsfähigkeit der Abgasreinigung qua Laufenlassen der (unbedingt erforderlichen) Abschalteinrichtung klar unterscheiden zu können, ist aber die Bedingung für eine rechtsstaatlich korrekte europaweite Durchsetzung der Vorgaben, die explizit für den „normalen Fahrzeugbetrieb“ gelten. Der heimliche Entscheid der Brüsseler Spitzen im Jahre 2010 führte zu Folgendem:
- Die Entscheidung über die Zulässigkeit von Abschalteinrichtungen, durch die „die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems verringert wird“, war damit den je nationalen Typ-Zulassungsbehörden überantwortet worden – die aber waren in transnationalen Wettbewerb gebracht worden und verzichteten deswegen (verständlicherweise) darauf, die ausstehenden Legaldefinitionen je national individuell – und europaweit als Flickenteppich – zu treffen. Sie warteten – nachvollziehbarerweise – auf Brüssel. So tat es auch das Kraftfahrtbundesamt in Flensburg. Die Regulierung der Abgasbegrenzung im Mehrebenensystem EU war damit zum Schummeln freigegeben worden – es war quasi eine Einladung dazu.
- Hersteller angemessener Formen der Emissionsbegrenzung sind die Automobilzuliefer-Unternehmen – denen ist das entsprechende Geschäftsvolumen genommen worden. Ob die Entscheidung der Brüsseler Spitzen im Jahre 2010 konjunkturell gesehen wirklich einen positiven Effekt hatte, wie intendiert, ist deswegen eine offene Frage.
- Die Emissionsbudget-Begrenzungsziele der EU unter der Genfer Luftreinhalte-Konvention (CLRTAP, speziell Göteborg-Protokoll) bzw. unter der EU-weiten NECD wurden damit ‚gerissen’, insbesondere von Staaten in europäischer Mittellage, vor allem von Deutschland. Rechtlich relevant wäre das geworden, wenn nicht auf Initiative Deutschlands noch auf die Schnelle, in 2009 (CLRTAP) bzw. 2016 (NECD), Schlupflöcher in Form von Optionen für Ausnahmeregelungen angebracht worden wären. Die Ziele des langfristig und konsensual angelegten „Auto-Öl-Programme“ der EU wurden in den Wind geschlagen. Die immissionsseitigen Zielverfehlungen, mittels denen die unwillige Politik in Deutschland mehrere Jahre lang wie am Nasenring durch die Arena gezerrt wurde, wurden so provoziert.
Die rechtsstaatlich „trickreiche“ Vorgehensweise der Brüsseler Top-Ebene hat, wie bei heimlichen Vorgehensweisen i.d.R. unvermeidlich, eine Schleifspur von Kollateralschäden nach sich gezogen, die in diesem Falle asymmetrischen Ausmaßes war.
2. Warum nur VW rechtskräftig ‚geschnappt‘ wurde
VW (mit AUDI) war der einzige Dumme, dessen Schummelei umgehend rechtskräftig festgestellt wurde. Bei den Unternehmen, die zum Schummeln die Ausrede des Thermo-Fensters genutzt hatten, hat es von Sommer 2015 bis Sommer 2022 gedauert, bis das Selbstverständliche im Rechtsmittelstaat verbindlich festgestellt wurde: Auch die beliebte Abgassystemprogrammierung nach dem Thermofenster-Prinzip ist unrecht.
Bei VW lief es anders. VW hatte im Zeitraum von Mitte 2007 bis 2015 „insgesamt 10,7 Mio. Fahrzeuge mit dem Dieselmotor der Typen EA 288 (Gen3) in den USA und Kanada sowie EA 189 weltweit.“ in Verkehr gebracht.
Bei den erwähnten Motorentypen EA 189 und EA 288 (Gen3) handelt es sich um die von VW erstmals entwickelten Dieselmotoren mit Common Rail-Einspritzsystem. Das Ergebnis des Entwicklungs-Auftrags mit der Nummer 189 bildete den Basis-Motor für die „Clean Diesel“-Offensive von VW in den USA mit Startjahr 2008 und wurde von VW in 2007 vorgestellt. Offenbar gelang die Entwicklung nicht so, dass man ohne eine komplementäre Einführung einer landesweiten AdBlue-Tank-Logistik ausgekommen wäre. Die Notlösung war, dass „unter speziellen Bedingungen in einen Betriebsmodus geschaltet <wurde>, der in die Abgasrückführung eingreift und besonders wenig AdBlue verbraucht, diese Funktion hat VW mit dem Namen „Akustikfunktion“ getarnt.“ (S. 31)
Deren Nicht-Konformität mit den gesetzlichen Vorgaben in den USA wurde am 18. September 2015 in den USA bekanntgegeben und bildete den Startschuss für die bis dahin ausstehende Klärung auch in Europa.
Auf den Plan zu treten hatte das Kraftfahrtbundesamt (KBA). Das war zuständig, weil VW es für die Zulassung ursprünglich einmal gewählt hatte. Der Bescheid des Kraftfahrtbundesamtes an VW erging umgehend, bereits am 15. Oktober 2015, zu einer „Systemzulassung“, der Motorvariante EA 189 EU5. So schnell möglich war das, weil das KBA lediglich das von VW in den USA an Fakten Zugegebene mit der Rechtslage in Europa abzugleichen hatte. Nach einer Anhörung streckte VW umgehend die Waffen und akzeptierte den Bescheid, also die Feststellung der rechtswidrigen Verwendung von Mitteln, die auch in der EU unzulässig sind.
3. Das Ordnungswidrigkeitenverfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig
Daraufhin galt es, das rechtlich festgestellte „Schummeln“ zu ahnden. Seitdem laufen Strafverfahren gegen verantwortliche Personen. Diese Verfahren erhalten eine hohe mediale Aufmerksamkeit. Daneben wurde aber auch das Unternehmen VW geahndet. Unter dem Titel „Ordnungswidrigkeitenverfahren“ kommt es unscheinbar daher, am 13. Juni 2018 wurde ein solches Verfahren gegen das Unternehmen VW-AG zum Abschluss gebracht. Und nun kommt es auf die Begrifflichkeiten an.
In Deutschland gibt es kein Unternehmensstrafrecht. Unternehmen gelten zwar als „Personen“, dem Strafgesetzbuch aber unterliegen sie nicht. Das Ordnungswidrigkeitenrecht bietet ein Substitut für das in Deutschland nicht-existente Unternehmensstrafrecht. Im Detail ist es so geregelt:
„In der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht § 30 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) … die Festsetzung einer Geldbuße gegen juristische Personen und Personenvereinigungen (sogenannte „Verbandsgeldbuße“), wenn deren Repräsentant oder Leitungsperson eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen hat, durch die Pflichten, welche die juristische Person oder die Personenvereinigung treffen, verletzt worden sind oder die zu einer Bereicherung dieses Verbandes geführt haben.“
Schlüsselbegriff ist „Geldbuße“. Die besteht aus zwei Teilen, einem zur Ahndung sowie einem zur Abschöpfung.
Zur Ahndung sind im höchstmöglichen (!) Fall 5 Mio. Euro zu zahlen – so sagt es § 30 Absatz 2 OWiG. Diese höchste Möglichkeit wurde bei der Sanktionierung von VW ausgeschöpft. Der Rest, 995 Mio. €, dient der Vorteilsabschöpfung.
Zur Abschöpfung ist der Text des Gesetzes eindeutig: Laut § 17 (4) OWiG soll die „Geldbuße … den wirtschaftlichen Vorteil, den der Täter aus der Ordnungswidrigkeit gezogen hat, übersteigen“. Betonung auf bestimmter Artikel. Somit sind „mindestens die“ Aufwendungen abzuschöpfen, die Unternehmen dank ihrer durch Aufsichtspflichtverletzungen ermöglichten Diesel-Manipulationen erspart geblieben sind.
Ist es aber wirklich eine „Buße“, wenn ein Täter nicht behalten darf, was er widerrechtlich erlangt hat? Eine unverstellte Sprache würde sagen: Neín. „Strafe“ oder „Buße“ ist nur derjenige Teil, der zur „Ahndung“ der begangenen Ordnungswidrigkeit auferlegt wurde. Das Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen VW war also nur zu einem klitzekleinen Teil eine „Sanktionierung“, es war nur nebenläufig ein Verfahren, in dem es um „Strafe“ gegangen ist. Nach dem Wesentlichkeitsprinzip würde man sagen: Es war keine Sanktion.
Begünstigter des abzuführenden Bußgeldes ist im Übrigen das Sitzland der zuständigen Staatsanwaltschaft, welches im Falle VW zugleich Sitz der Unternehmenszentrale ist. Für das Land Niedersachsen ging es um eine Zusatzeinnahme von knapp einer Mrd. €.
4. Der EuGH zum Verbot der Doppel-Bestrafung
Ende März 2023 ist ein Vorgang publik geworden, nach dem das viele Geld für Niedersachsen auf des Messers Schneide stand. Anlass war ein Verfahren vor dem EuGH. Gegenstand war ein Klärungsersuchen aus Italien. Nach dem Auffliegen von VW‘s Schummelei und deren rechtskräftiger Feststellung hatten auch andere Mitgliedstaaten der EU, in die die unzulässigen Fahrzeuge abgesetzt worden waren, Verfahren gegen VW eröffnet, Verfahren, die klar sanktionierenden bzw. strafrechtlichen Charakter haben. Im Falle Italiens ging es um den Vorwurf der Verbrauchertäuschung. Es ging um eine Sanktion in Höhe von 5 Mio. €.
Das Besondere an diesem Ersuchen ist das Prinzip, welches unter Juristen mit ihren Wurzeln im Römischen Recht als „ne bis in idem“-Maßgabe gehandelt wird. Soll sagen: Niemand darf wegen derselben (idem) Tat zweimal (bis) bestraft werden. Dieses Prinzip hat Eingang gefunden in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Art. 50). Einschränkungen dieses Grundrechts sind möglich, Kriterien dafür sind in Art. 52 festgehalten.
Auf dieses Grundrecht hatte sich die „Person“ VW, die in Deutschland keine straffähige Person ist, in Italien berufen, das zuständige Gericht hatte deswegen den EuGH angerufen. Dessen Generalanwalt hat am 30. März 2023 seinen sog. „Schlussantrag“ vorgelegt. Das Ergebnis: VW hat das Recht, sich darauf zu berufen.
Voraussetzung für dieses Ergebnis ist, dass der OWiG-Bescheid vom Generalanwalt in allen Teilen unbesehen als „Sanktion“ gewertet wird. Somit ist methodisch klar: Wenn man argumentativ zu einem anderen Ergebnis kommen wollte, so bohrt man den Begriff „Sanktion“ auf.
In der finanziellen Substanz ist das Urteil unbedeutend. Ergebnis ist, dass VW 5 Mio. € Strafe in Italien nicht zahlen muss. Dieser spitzfindige Erfolg der VW-Anwälte in Italien wäre der Erwähnung kaum wert.
Spannend ist vielmehr dem Gutachten zu entnehmen, wie die Staatsanwaltschaft Braunschweig kalkulieren und antichambrieren musste, damit sie als erste in Europa mit ihrem Verfahren über die Ziellinie gehen konnte. Wäre das nicht gelungen, wäre ein anderer Staat mit peanuts-Beträgen vorangegangen, dann wäre VW, der angeblichen Geltung des „ne bis in idem“-Prinzips wegen, die Gewinnabschöpfung nach dem OWiG in Deutschland erspart geblieben. Oder anders gesagt: Wenn andere Staaten auf die Idee gekommen wären, die Vorteilsabschöpfung in die eigenen Kassen zu leiten statt Deutschland die Milliarde zu überlassen, dann hätten sie schneller sein müssen als die Braunschweiger Staatsanwaltschaft. „Schneller sein“ heißt aber, zu einem Abschluss des Verfahrens zu kommen. Schnell ist das nur möglich mit Zustimmung des Täter-Unternehmens. VW hatte es somit in der Hand, in welchem Rechtsraum es sich kollaborativ zeigte. Es hat Niedersachsen gewählt, hat umgehend den Bescheid der Braunschweiger Staatsanwaltschaft vom 13. Juni 2018 akzeptiert. Damit blieb das viele Geld in Deutschland. Ausdruck patriotischen Verhaltens des Weltkonzerns?
5. Die Verhandlungen in Eurojust
In mehreren Mitgliedstaaten der EU, neben Italien in Belgien, Schweden und Spanien, waren Verfahren gegen VW begonnen worden. Das Gutachten der Generalanwalts offenbart, dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig im Rahmen von Eurojust versucht hatte, eine Kumulierung von Strafverfahren gegen VW zu verhindern. Entscheidend war eine Koordinierungssitzung am 10. März 2016 am Sitz von Eurojust in Den Haag – also bevor die Braunschweiger Staatsanwaltschaft am 14. April 2016 ihr Verfahren formell aufnahm. Bei diesem Treffen erklärten sich lediglich die belgischen, schwedischen und spanischen Behörden bereit, zugunsten der Staatsanwaltschaft Braunschweig auf eine Strafverfolgung zu verzichten, nicht aber die italienischen Behörden.
Die Verbraucherschutzbehörde in Italien (AGCM) hatte mit Entscheidung vom 4. August 2016 eine Sanktion gegen die VW AG in Deutschland und gegen die VW-Tochter in Italien verhängt. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hatte die Ermittlungen in dem Sanktionsverfahren gegen die VWAG am 14. April 2016 aufgenommen. VW hätte somit auch anders entscheiden können.
6. Klärung der Gewinnabschöpfung bei multinationalen Schummeleien steht aus
Der Generalanwalt stellt in seinem Gutachten selbst fest, dass es sehr schwierig sei, die Rechtsprechung des EuGH hinsichtlich des „ne bis in idem“-Prinzips sachgemäß auf Fälle wie den vorliegenden anzuwenden. Recht hat er. Es geht schließlich hauptsächlich um sehr viel Geld, nur nebenläufig geht es um „Bestrafung“ (allein dafür gilt das „ne bis in idem“-Prinzip). Und es geht um legitimerweise um Ansprüche der betroffenen Staaten, die von dem vielen Abschöpfungs-Geld a) ihren Teil abbekommen wollen und b) auch Einfluss darauf haben wollen, dass dieser Vorteil angemessen bestimmt wird. Der illegale Vorteil ist eben auch anteilig bei ihnen entstanden, zu Lasten ihrer Staatsbürger.
Die Klärung solch massiver wirtschaftlicher Konflikte Richterrecht zu überlassen, führt notwendig in die Irre. Richterrecht zeichnet sich dadurch aus, dass wesentliche wirtschaftliche Sachverhalte, wo das Wesentliche durch Geldummen bestimmt wird, nicht explizit angesprochen werden. Man fragt sich z.B. schon, was den Behörden Belgiens, Schwedens und Spaniens von Deutschland eigentlich geboten worden ist, dass sie auf ihre gesetzlich vorgegebenen Verfolgungs-Ansprüche und die daraus folgenden Geldflüsse verzichten dürften und verzichtet haben. War das rechtsstaatlich? Was sind die Tauschgüter, über die in Eurojust-Verhandlungen verfügt werden kann, wenn es explizit nicht um einen Ausgleich in Geld gehen kann?
Andere Staaten werden auch wahrnehmen: Das OWiG in Deutschland verlangt, eindeutig, „mindestens die“ Abschöpfung des erlangten Vorteils – die Staatsanwaltschaften aber haben sich in den Fällen VW und AUDI anscheinend nicht an diese Maßgabe gehalten. Da die Bescheide im Konsens mit den geahndeten Unternehmen ergehen, kommt es auch nicht zu einer gerichtlichen Klärung – einem vertraulichen und missbrauchsanfälligen Deal sind Tor und Tür geöffnet.
Die Abgrenzung von Gewinnabschöpfungsansprüchen verschiedener Jurisdiktionen ist ungeregelt – das ist ein Problem, wenn ein tendenziell globaler Anspruch erhoben wird. Die vorlaufende Durchsetzung der Schadensausgleichsansprüche und Pönalen in den USA wurde von den Staatsanwaltschaften in Deutschland als abschöpfungsmindernd akzeptiert. In den USA wurden 0,58 Mio. Fahrzeuge gebüßt – mit 20 Mrd. Euro; d.i. ca. 40.000 €/PKW. Für den Rest, etwa 12 Mio. Fahrzeuge (VW, Audi und Porsche zusammen), haben die Staatsanwaltschaften in Niedersachsen und Bayern 1,8 Mrd. € Bußgeld verhängt, d.i. ca. 150 €/PKW.
Das ist extrem asymmetrisch. Das kann die europäischen Partnerstaaten skeptisch machen – die USA erhalten ihren Anteil, sie aber können keine Ansprüche an die Gewinnabschöpfung stellen. Das kann nicht der Sinn des „ne bis in idem“-Prinzips sein. Es verführt überdies zum Wettlauf nach dem Motto: Der Erste erhält alles. Ein Indiz des Verqueren: Gemäß den Regeln der rechtlichen Zusammenarbeit in Europa erbaten die französischen Staatsanwälte Akten aus Braunschweig – so haben sie in einem offenen Beschwerde-Brief mitgeteilt.[8] Die Antwort aus Braunschweig war: Wir geben nichts ab, um unsere eigenen Ermittlungen nicht zu gefährden.
Wirklich? Oder sind andere Motiv vorherrschend? Z.B. das, Erster zu sein. Oder das, das ‚heimische’ Unternehmen gegen unkoordiniert akkummulierte Bußgeldforderungen von Drittstaaten zu schützen?