Vieles erinnert derzeit fatal an die Epoche des Kalten Krieges, das dunkelste Kapitel der Nachkriegszeit. So feiert die Abschreckungslogik fröhliche Urständ, mit der uns Kindern damals schon Angst gemacht wurde. Bei jeder passenden (und jeder unpassenden) Gelegenheit erhob meine Oma warnend ihre Stimme: „Wenn wir nicht aufrüsten, steht der Russe bald am Rhein.“ Heute wissen die westlichen Militärexperten sogar, wann es soweit sein kann: 2029/30 soll „der Russe“, obwohl noch auf unabsehbare Zeit in einen verlustreichen Krieg gegen die Ukraine verwickelt, über die notwendigen militärischen Fähigkeiten verfügen, um auch einen NATO-Staat und den „Freien Westen“ – wie es schon wieder heißt – anzugreifen.
Selbst wenn Wladimir Putin, dem man als „durchgeknalltem Diktator“ inzwischen alles zutraut – selbst die Ermordung eines deutschen Rüstungsmanagers –, das wollte, würde es wohl kaum gelingen, weil die russische Armee allein mehrere Wochen brauchte, um ein ukrainisches Stahlwerk zu besetzen, und weil die USA zehnmal so viel für Rüstung ausgeben wie Russland – von den Militäretats der übrigen 31 NATO-Staaten gar nicht zu reden. In Wahrheit ist es übrigens genau umgekehrt: NATO-Truppen stehen an der russischen Westgrenze, eine Kampfbrigade der Bundeswehr demnächst nur wenige Kilometer davon entfernt in Litauen.
Für die damals wie heute geforderte „Kriegstüchtigkeit“ der Bundesrepublik steht wie kein anderer Bum-Bum Boris Pistorius, der die Abschreckungslogik als Mantra vor sich herträgt: „Die beste Form, einen Krieg zu verhindern, ist Abschreckung. Abschreckung ist die beste Verteidigung.“ (Focus 17/2024 v. 19.4.2024, S. 39) Das ist zwar als Sicherheitsphilosophie intellektuell eher schlicht, aber dem Alltagsbewusstsein nicht fremd: Wenn mich jemand bedroht, schaffe ich mir eine Keule an. Tut er dasselbe, besorge ich mir eine größere Keule. Beschafft er sich eine noch größere Keule, hole ich mir eine zweite. Tut er das auch, nehme ich eine dritte Keule zur Hand. Und so weiter und so fort … Wenn die Sicherheitspolitik aller Staaten der primitiven Abschreckungslogik von Boris Pistorius folgen würde, die an Konflikte in der Steinzeit erinnert, versänke die Welt im Rüstungswahn eines permanenten Wettrüstens. Es geht im Nuklearzeitalter allerdings längst nicht mehr um „Kriegstüchtigkeit“, sondern um europäische Friedensfähigkeit in einem kollektiven Sicherheitssystem.
Die von Pistorius mit großem Eifer vorangetriebene „Ertüchtigung der Bundeswehr“ klingt eher nach Turnvater Jahn, der die deutsche Jugend fit für den Krieg gegen Frankreich machen wollte, und den Holzschwertern von Kleinkindern, als nach einer modernen Armee, die weit über 50 Milliarden Euro jährlich und zudem ein „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro bekommt, das besser zur Bekämpfung der Kinder- und Altersarmut, der Bildungsmisere, der Wohnungsnot sowie des Pflegenotstandes aufgelegt worden wäre. Man fragt sich, warum es in deutschen Massenmedien kein lautes Auflachen gab, als Heeresinspekteur Alfons Mais auf Twitter die Bundeswehr allen Ernstes als „mehr oder weniger blank“ bezeichnete, und warum nicht bloß die Ukraine, sondern auch die NATO-Verbündeten ständig nach den angeblich funktionsunfähigen Waffensystemen der Bundeswehr (z.B. dem Panzer Leopard II oder dem Taurus-Marschflugkörper) rufen.
Ab dem übernächsten Jahr sollen erneut Mittelstreckenraketen der USA in Deutschland stationiert werden. Die heutige, in mehrfacher Hinsicht, besonders hinsichtlich des Strebens nach Erstschlagsfähigkeit an die „Nachrüstung“ der 1980er-Jahre erinnernde Aufrüstungswelle wird ebenfalls mit einer (fehlenden) Abschreckungswirkung begründet. So trug ein Bericht über die von US- und Bundesregierung geplante Aufstellung von SM-6-Raketen, einer landgestützten Version des Marschflugkörpers Tomahawk und Hyperschallwaffen den Titel „Die Lücke in der Abschreckung schließen“ (vgl. Süddeutsche Zeitung v. 12.7.2024). Wolfgang Lieb hat kürzlich überzeugend dargelegt, dass die neuen Waffensysteme mit Abschreckung nichts zu tun haben, sondern noch gefährlicher als Pershing II und Cruise-Missiles sind, weil sie „nicht nur gleichfalls Atombomben tragen können, sondern erheblich schneller, treffgenauer, schwieriger abwehrbar und teilweise deutlich weitreichender in Russland einschlagen können.“
Anzeichen einer sozialpolitischen Zeitenwende
Die geplante Hochrüstung nützt ausschließlich Rüstungskonzernen, ihren am Gewinn beteiligten Topmanagern und ihren Aktionären, während alle übrigen Gesellschaftsmitglieder im Realisierungsfall höhere Steuern zahlen oder auf ihnen bisher zustehende Leistungen des Staates verzichten müssen. Wer die jüngsten Debatten über das Bürgergeld und die Kindergrundsicherung verfolgt hat, konnte bemerken, dass der außen-, energie- und rüstungspolitischen Zeitenwende von Olaf Scholz eine sozialpolitische Zeitenwende folgt. Auch ein reiches Land wie die Bundesrepublik kann sich keinen Rüstungsstaat leisten, wenn es seinen hoch entwickelten Wohlfahrtsstaat behalten will.
In der TV-Talkshow „Maybrit Illner“ am 22. Februar 2024 hat Finanzminister Christian Lindner ein mehrjähriges Moratorium für die Sozialausgaben des Bundes gefordert, was auf eine weitere Demontage des Wohlfahrtsstaates hinausliefe, die für Armutsbetroffene und Armutsbedrohte existenzgefährdend sein kann. Denn wenn die sozialen Probleme wie bereits seit geraumer Zeit deutlich zunehmen, die ihrer Bewältigung dienenden Staatsausgaben aber nicht mehr steigen dürfen, handelt es sich um erhebliche reale Kürzungen in diesem Bereich. Dies gilt erst recht unter der Voraussetzung, dass sich die inflationären Tendenzen der vergangenen Jahre fortsetzen oder in Zukunft wiederholen.
Noch deutlicher als Lindner wurde Clemens Fuest, Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München, in derselben Talkshow: „Kanonen und Butter, es wäre schön, wenn das ginge, aber das ist Schlaraffenland, das geht nicht.“ Tatsächlich stellt sich angesichts der regierungsoffiziellen Hochrüstungspläne, die als „Ertüchtigung“ der Bundeswehr zur Verteidigung des Landes gegen einen russischen Angriff verharmlost werden, hinsichtlich der zukünftigen Gesellschaftsentwicklung die Frage: „Rüstungs- oder Sozialstaat?“ Dass ein neoliberaler Ökonom für „Kanonen ohne Butter“ plädierte, war keine große Überraschung. Fuest suchte die Fernsehzuschauer/innen zwar mit seiner Feststellung zu beruhigen, der Wohlfahrtsstaat werde im Zuge der geforderten Schwerpunktverschiebung vom Sozialetat zum Rüstungshaushalt nicht „zusammengekürzt“, sondern nur „kleiner“ gemacht. Möglicherweise steht der Wohlfahrtsstaat gleichwohl vor einem ähnlich gravierenden Einschnitt wie um die Jahrtausendwende, als er mithilfe der Agenda 2010, der Riester-Reform und den Hartz-Gesetzen einer neoliberalen Schrumpfkur unterzogen wurde.
Der soziale Frieden darf nicht dem Militäretat geopfert werden. Während der Beschäftigungseffekt von Rüstungsausgaben gering ist, wirken diese nämlich als Inflationstreiber, weil die Kosten neuer Waffensysteme erfahrungsgemäß aus dem Ruder laufen. Die durchschnittlichen Preissteigerungen liegen bei Rüstungsgütern deutlich höher als bei zivilen.
Wiedergeburt der Friedensbewegung?
Das überzeugendste Argument gegen die neuerliche Stationierung von Mittelstreckenraketen ausgerechnet in der Bundesrepublik hat der spätere Verteidigungsminister und SPD-Kanzler Helmut Schmidt bereits 1961 in seinem Buch „Verteidigung oder Vergeltung“ vorgebracht: „Landgestützte Raketen gehören nach Alaska, Labrador, Grönland oder in die Wüsten Libyens oder Vorderasiens, keineswegs aber in dichtbesiedelte Gebiete; sie sind Anziehungspunkte für die nuklearen Raketen des Gegners. Alles was Feuer auf sich zieht, ist für Staaten mit hoher Bevölkerungsdichte oder kleiner Fläche unerwünscht.“ (Helmut Schmidt, zit. nach: Christoph Butterwegge/Heinz-Gerd Hofschen, Sozialdemokratie, Krieg und Frieden, Heilbronn 1984, S. 324)
Etwas mehr als 20 Jahre später stellten die USA unter tätiger Mithilfe von Bundeskanzler Helmut Schmidt und seinem Nachfolger Helmut Kohl nach einem heftig umstrittenen Bundestagsbeschluss vom 22. November 1983 atomare Mittelstreckenwaffen (Pershing II und Cruise-Missiles) in Westdeutschland auf. Olaf Scholz, damals stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungsozialisten, verstand sich als Teil des Massenprotests gegen die Raketenstationierung und veröffentlichte gemeinsam mit zwei anderen Funktionären der sozialdemokratischen Jugendorganisation einen Buchbeitrag zur Neuausrichtung der Friedensbewegung. Darin stellten sie kategorisch fest: „Für die Jungsozialisten war und ist der US-Imperialismus die Hauptgefahr für den Weltfrieden.“ (Adolf Claussen/Olaf Scholz/Siegfried Ziegert, Der Kampf hat erst begonnen, in: Christoph Butterwegge u.a., Friedensbewegung – Was nun?, Probleme und Perspektiven nach der Raketenstationierung, Hamburg 1983, S. 76) Seinerzeit berücksichtigten Scholz und seine Koautoren noch die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, wie ihre Verwendung des Imperialismusbegriffs zeigt, reduzierten das Problem der Hochrüstung, der Kriegsvorbereitung und völkerrechtswidrigen Kriegsführung also nicht auf einzelne Personen wie heute auf Wladimir Putin.
Man fragt sich unwillkürlich, wer im Laufe der Zeit eine größere Wandlung durchgemacht hat: Olaf Scholz oder der US-Imperialismus. Letzterer lieferte mit der nicht durch die UN-Charta gedeckten Bombardierung Belgrads im Kosovokrieg, dem am 5. Februar 2003 durch eine Lüge des damaligen Außenministers Colin Powell über die angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins im UN-Weltsicherheitsrat gerechtfertigten Angriffskrieg gegen den Irak, dem Afghanistankrieg sowie der Folterpraxis im Abu-Graib-Gefängnis und auf dem Luftwaffenstützpunkt Guantanamo (Kuba) genug Indizien dafür, dass sein aggressiver Charakter bis heute erhalten geblieben ist. Wohl eher ist Scholz den linken, antimilitaristischen und sozialistischen Grundüberzeugungen seiner Jugend auf dem langen Weg bis ins Kanzleramt untreu geworden.
Angesichts der wachsenden Kriegsgefahr wäre ein Wiederaufleben der Friedensbewegung nach dem Vorbild des Massenprotests gegen die Stationierung der US-amerikanischen Mittelstreckenraketen in den 1980er-Jahren wünschenswert. Ob es dazu kommt, hängt entscheidend vom Ausgang der nächsten Bundestagswahl ab. Nur wenn sich SPD und Bündnis 90/Die Grünen in der Opposition befinden, können sie eine Schlüsselrolle im Kampf gegen die „Nachrüstung 2.0“ spielen. Noch ausschlaggebender dürfte die zukünftige Positionierung von Gewerkschaften, Kirchen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren in der „neuen Nachrüstungsdebatte“ sein. Gerade weil der außen-, energie- und militärpolitischen Zeitenwende, die Olaf Scholz in seiner ersten Regierungserklärung zum Ukrainekrieg am 27. Februar 2022 ausgerufen hat, eine sozialpolitische Zeitenwende folgt, müssen die soziale und die Friedensfrage miteinander verknüpft werden.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge war in den 1980er-Jahren einer der Sprecher des Bremer Friedensforums und in den frühen 1990er-Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung. Er hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und kürzlich die Bücher „Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung“ sowie „Umverteilung des Reichtums“ veröffentlicht.
Der Zeitpunkt der angeblich nur „sozialpolitischen“ Zeitenwende – in Wahrheit ist sie auch eine klimapolitische und damit industriepolitische Zeitenwende, ist das Haushalts-Jahr 2028. Das ist der jetzt von der BuRe ins Parlament eingebrachten Finanzplanung zu entnehmen.
• Bundeshaushalt 2025 und Finanzplan 2024 bis 2028 – Einzelplan 14, Bundesministerium der Verteidigung
2025: 53,25 Mrd Euro
2026: 53,25 Mrd Euro
2027: 53,5 Mrd Euro
2028: 80 Mrd Euro
Selten so viel Realitätsverweigerung gelesen wie hier bei Prof. Butterwege.