Mitten im Krieg, in dem sich die von Russland überfallene Ukraine zur Wehr setzt, rückt ein altes Verbrechen der Sowjetunion, begangen an Millionen Bauern der Ukraine, wieder in den Mittelpunkt. Es geht um Holodomor, Mord durch Hunger. Passiert ist es vor 90 Jahren in der Ukraine, ausgelöst durch die Politik des Diktators Josef Stalin. Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer kamen zu Tode, verhungerten. Das Verbrechen wurde lange totgeschwiegen, erst die Perestroika und Glasnost durch Michail Gorbatschow Ende der 80er Jahre änderten dies. Kürzlich gedachte die Ukraine dieses Menschheitsverbrechens.
Der deutsche Bundestag wird die Hungerkatastrophe in der Ukraine 1930 bis 1933 als Völkermord einstufen. Ein entsprechender Antrag von Grünen, SPD, Union und FDP sieht das vor und nimmt damit die Sicht der Ukraine ein, die von Moskau nicht geteilt wird. Russlands Präsident Putin betreibt seit längerem eine Rehabilitierung Stalins. Dabei sind die Massenverbrechen Stalins an Ukrainern, Kulaken, an Gegnern jeder Art belegt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier begrüßte den Antrag des Parlaments. Im Interview mit der Deutschen Welle sagte er, der Holodomor als Verbrechen sei in Deutschland wenig bekannt. „Aber wir müssen uns erinnern, dass gerade die Ukraine Opfer dieser Hungerkatastrophe war. Sie war nicht das Ergebnis von Missernten, wie über Jahre hinweg von der russischen Geschichtswissenschaft behauptet worden ist.“ Auch Bundeskanzler Olaf Scholz erinnerte an die Opfer des Holodomor. „Heute sind wir uns einig, dass Hunger nie wieder als Waffe eingesetzt werden darf“.
Initiiert haben den gemeinsamen Antrag („Holodomor in der Ukraine: Erinnern-Gedenken-Mahnen“) der Ampel-Fraktionen und der Union der Grünen-Politiker Robin Wagener, der SPD-Mann Dietmar Nietan, der Liberale Ulrich Lechte und der Christdemokrat Knut Abraham. „Einseitige russische Narrative“ werden in dem Papier zurückgewiesen, die Bundesregierung wird aufgefordert, Bildungsangebote zu schaffen, um Wissen über Stalins repressive Zwangskollektivierung weiterzuverbreiten. Zudem soll die Regierung „die Ukraine als Opfer der imperialistischen Politik Wladimir Putins weiterhin politisch, finanziell, humanitär und militärisch unterstützen.“ Robin Wagener sieht, so die FAZ, Russlands Präsidenten Putin „in der grausamen und verbrecherischen Tradition Stalins.“ Heute werde die Ukraine erneut mit russischem Terror überzogen. „Erneut sollen durch Gewalt und Terror der Ukraine die Lebensgrundlagen entzogen, das gesamte Land unterworfen werden.“
„Die Kernsätze des Antrags lauten: „Betroffen von Hunger und Repressionen war die gesamte Ukraine, nicht nur deren getreideproduzierende Regionen. Damit liegt aus heutiger Perspektive eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe. “ Der Holodomor reihe sich ein in die Liste menschenverachtender Verbrechen totalitärer Systeme, in deren Zuge vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa Millionen Menschenleben ausgelöscht wurden.“ Das Verbrechen sei Teil der gemeinsamen europäischen Geschichte.“
Völkermord („eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“)ist seit 1948 eine Straftat im Völkerstrafrecht, für die es keine Verjährung gibt. (zit. nach taz) Die Bundesregierung hat die von Deutschen verübten Mordtaten an Herero und Nama 1904 bis 1908 im Jahre 2021 als Völkermord anerkannt, sie zahlt freiwillig über 30 Jahre 1,1 Milliarden Euro an Namibia. Auch der Mord an Armeniern im Osmanischen Reich 1915, von Türkei-Präsident Erdogan nicht anerkannt, gilt als Völkermord wie der Holocaust an den Juden und die Ermordund der Tutsi im afrikanischen Ruanda 1994.
Zurück zum Holodomor. „Die große Hungersnot war“, folgt man Historikern wie Heinrich August Winkler(Geschichte des Westens) „eine unmittelbare Folge der Kollektivierung der Landwirtschaft.“ Die Ernteerträge wären seit 1928 vor allem auch infolge der brutalen Eingriffe des Regimes und des Widerstands dagegen drastisch gesunken. Verschärft hätten den Mangel an Nahrungsmitteln aber auch, so schreibt Winkler weiter, der Getreideexport ins kapitalistische Ausland, auch an Devisen zu gelangen, die man für die Mechanisierung der Landwirtschaft, den Kauf von Traktoren, benötigte. Vom Hunger betroffen waren die vom Staat ausgeraubten Bauern der eigentlich reichen Agrargebiete in der Ukraine und des nördlichen Kaukasus. Der Hunger sei so groß gewesen, dass die verzweifelten Menschen nahezu alles gegessen hätten, auch Menschenfleisch. Inwieweit die Hungersnot von Stalin bewusst dazu genutzt wurde, um den Widerstand der Bauern zu brechen und den ukrainischen Nationalismus zu vernichten, ist umstritten. Aber selbst Winkler, der dieses Ansinnen Stalins bestreitet, räumt ein, dass Stalins Regime dies „billigend in Kauf“ genommen habe „als Folge der Kollektivierung der Landwirtschaft und der forcierten Industrialisierung, die sich ohne Zwangsarbeit ehemaliger Bauern nicht durchführen ließ.“ Die Opferzahl wird mit über sechs Millionen geschätzt, darunter vier Millionen Ukrainer, eine Million Opfer aus Kasachstan und eine weitere Million aus dem nördlichen Kaukasus.
Liest man eine Reportage in der „Zeit“ unter der Überschrift „Als Stalin die Ukrainer mit Hunger tötete“, wird von Überlebenden geschildert, in welch aussichtsloser Situation viele Menschen waren. „Es gab absolut nichts zu essen. Wir aßen Gras, Pfannkuchen aus Blättern und erfrorene Kartoffeln….Fast alle sind gestorben.. Fast alle Kinder starben. Es gab eine Grube, und da warfen sie sie hinein, wie Schlamm. Die Grube war groß genug für das ganze Dorf“. Die Kollektivierung der Ukraine, das war Terror, die Bauern mussten ihr Land, ihr Vieh und ihre Werkzeuge an Kolchosen abgeben. Wer sich dagegen wehrte, den brandmarkten die Bolschewiki unter Stalin als Kulaken, so nannte man in der Zarenzeit wohlhabende Großbauern. Jetzt wurden sie mit dem Namen Kulaken als Klassenfeinde und konterrevolutionäre Elemente geächtet, die es als „Klasse zu eliminieren“ galt. So wurde Stalin in einem Regierungsdekret 1929 zitiert. Die Folge: Kulaken wurden verhaftet, ausgegrenzt, deportiert, ermordet. „Die Vernichtung der Bevölkerung wurde billigend in Kauf genommen, um die eigenen Ziele zu erreichen.“ So der Historiker Robert Kindler in der „Zeit.“ Wurden die vorgegebenen enorm hohen Quoten beim Getreide nicht erreicht, wurde der Druck auf die Bauern noch erhöht, Menschenleben interessierte sie nicht. Menschen wurden wegen Diebstahls winzigster Mengen Lebensmittel mit dem Tod oder Arbeitslager bestraft.
Grausam, brutal, unmenschlich. Der Holodomor ist in der Ukraine ein zentraler Aspekt der Erinnerungskultur, nicht jedoch in Russland. Diese Kultur ist auch Teil der Distanzierung von der kommunistischen Vergangenheit und sie dient der Konsolidierung der ukrainischen Nation. (Der Historiker Gerhard Simon)Dass des Holodomor kürzlich in Kiew besonders gedacht wurde-es war der 90.Jahrestag-, ist angesichts der Verbrechen und des Kriegs, den Putin gegen den Nachbarn führt, verständlich. Präsident Wolodymyr Selenskyj schrieb am Gedenktag: „Einst wollten sie uns durch Hunger zerstören, nun durch Dunkelheit und Kälte.“ Aber die Ukrainer ließen sich damals wie heute nicht von den Russen brechen. „Wir werden den Tod erneut besiegen.“ Und der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andrij Jermak wurde mit den Worten zitiert: „Die Russen werden für alle Opfer des Holodomor bezahlen und für die heutigen Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden.“
Bildquelle: Von Alexander Wienerberger – Diocesan Archive of Vienna (Diözesanarchiv Wien)/BA Innitzer, Gemeinfrei