Es jährt sich nun bald zum 70. Mal, dass die Deutschen von der Nazi-Diktatur befreit wurden, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, dass wenige Tage zuvor das KZ Dachau, das erste Lager, das die Nazis gebaut hatten und das zugleich das letzte KZ des Reiches war, das von den Amerikanern befreit wurde. Einen Tag danach, am 30. April 1945, nahmen die US-Soldaten München ein und setzten dem NS-Schreckensregime in der bayerischen Metropole ein Ende. Und es dauerte exakt 70 Jahre, bis es dieselbe Stadt München schafft, ein NS-Dokumentationszentrum auf die Beine zu stellen. Am 30. April 2015 wird es eingeweiht.
Lang hat es gedauert, sehr lang, bis die Nachkriegsdeutschen sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten. Der Mantel des Schweigens wurde über die Schreckensherrschaft gelegt, die eigene Geschichte zunächst verdeckt oder vertuscht, ein neuer Feind, die Sowjetunion, half dabei, die braune Vergangenheit und das eigene Mitwirken hintanzustellen. Der Auschwitz-Prozess musste bis in die 60er Jahre warten und wurde nur mit großen Widerständen durchgefochten.
Der Prozess gegen den SS-Mann Oskar Gröning, den Buchhalter von Auschwitz, findet erst in diesen Tagen statt. Dass einer wie Gröning, ein Mitmacher, der sich selbst für ein kleines Rädchen im System hielt, ohne den aber das System nicht gelaufen wäre, mit 93 Jahren angeklagt wird, darauf musste Jahre gewartet werden. Gröning hat sich schuldig bekannt, die Angehörigen der Opfer um Vergebung gebeten. Es muss nicht mehr bewiesen werden, dass ein SS-Mann jemanden umgebracht hat, es reicht, wenn jemand Handlanger war. Dieser Gröning gibt auch zu, dass er ziemlich schnell bemerkt hat, was in Auschwitz mit den Häftlingen passierte, dass sie in die Gaskammern geschickt wurden.
Hauptstadt der Bewegung
Nun also hat sich München diesem Problem gestellt. Ausgerechnet München, die Schöne, die sich in der braunen Zeit den wenig schmückenden Beinamen „Hauptstadt der Bewegung“ erwarb, jene Stadt, die es so gern hört, wenn man ihre Leichtigkeit und Fröhlichkeit, ihre Liebe zur Kunst heraushebt. Warum, so fragte die „Süddeutsche Zeitung“ vor Tagen in einer Seite-3-Reportage, „warum ist ausgerechnet die lebenslustige Kunst- und Bierstadt zur Keimzelle des NS-Staates geworden“? Und warum hat diese Stadt, die sich nach dem Krieg zur „heimlichen Hauptstadt“ der Bundesrepublik entwickelte und zum Anziehungspunkt nicht nur vieler Touristen geworden ist, so lange gebraucht, bis sie sich diesem dunklen Fleck auch in Form eines solchen Zentrums stellt?
Winfried Nerdinger, Gründungsdirektor des neuen NS-Dokumentationszentrums mitten in dem Gelände, auf dem sich einst die Nazis breit gemacht hatten, also im Bereich des Königsplatzes, nahe bei der Brienner Straße, einer feine Gegend, hat vor Jahren schon von einer „Hauptstadt der Verdrängung“ gesprochen. Verstehen kann das der Zeitgenosse kaum, der hier vor Jahrzehnten an der Universität studiert und der nicht nur Schwabing schätzen gelernt hat, eben die lässige Art zu leben, die auch heute bei allem Tempo in der Innenstadt zu spüren ist. Leben und Leben lassen, eben München.
Verstehen im Sinne von Erklären kann man das nicht, wenn man daran denkt, dass vor Jahrzehnten der SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel, ein über Zweifel erhabener Mann, lange Jahre Oberbürgermeister dieser Stadt war. Richtig ist, er selber hat sich nichts vorzuwerfen, hat viel für die Aussöhnung mit den Juden getan, aber die gesellschaftlichen Kräfte, die es offensichtlich verstanden, verschont zu werden mit diesen peinlichen Fragen, hätten vor Scham in den Boden kriechen müssen, wäre eine solche Debatte angestoßen worden.
Die „Süddeutsche Zeitung“ hat dieses Thema aufgegriffen, wissend, dass einer ihrer früheren Chefredakteure, Hermann Proebst, in dieses Nazi-System verstrickt war, was sie in diesem Artikel nicht verschweigt und worüber sie schon mal an anderer Stelle klar und deutlich geschrieben hat. Nein, kein Verdrängen.
Vergessen, verdrängen
70 Jahre, das sind einige Generationen. Aus der einst leuchtenden Kunststadt München, wie sie Thomas Mann liebte, war eine braune Vorzeigestadt geworden. Und die SZ verschweigt auch nicht, wie die Deutschen und natürlich auch die Münchner sich kurz nach dem Krieg schnell zu Opfern machten. Als hätten sie nicht Hitler zugejubelt und seien sie nicht verantwortlich dafür, dass am Ende fast alles zerstört war, ja auch das schöne München.
Vergessen, verdrängen, das ist auch das Thema, wenn man sich des Konzentrationslagers Dachau annimmt. In Dachau, keine halbe Stunde von München entfernt, wurde 1933, nur wenige Tage nach der Machtübernahme der Nazis mit Adolf Hitler, ein erstes KZ errichtet für politische Gefangene, um Kommunisten und Sozialdemokraten durch strenge und harte Erziehung der Volksgemeinschaft als nützliche Glieder zuzuführen, indem man ihnen beibringt, wie man ordentlich arbeitet. So ähnlich hat es Wolfgang Benz, der ehemalige Leiter des Zentrums für Antisemitismus, formuliert. Und das angebliche Nicht-Wissen der Deutschen hat Benz mit der Aussage zurückgewiesen: „Es stand doch in der Zeitung.“ Es habe Konzerte vor dem KZ mit der SA-Kapelle für die Bevölkerung gegeben.
Auch in Dachau hat man das Thema einige Jahre verdrängt. Erst 1965 wurde das einstige KZ in eine Gedenkstätte umgewandelt. Eine Initiative ehemaliger Häftlinge im „Comité-Internationale de Dachau“ hatte Druck gemacht.
Arbeiten im Steinbruch und in der Rüstung
200 000 Menschen aus ganz Europa wurden zwischen 1933 und 1945 in Dachau eingesperrt, erst die Politischen, also Kommunisten, Sozialdemokraten, engagierte Christen, Nazi-Gegner, dann Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle. 41 000 wurden ermordet oder starben an den Folgen von Folterungen, Prügeln, an Hunger und Kälte. Die Häftlinge mussten hart, sehr hart arbeiten- im Straßenbau, in Kiesgruben und später in den Rüstungsbetrieben. Immer wieder gab es Einzel-Exekutionen, russische Kriegsgefangene wurden im Dutzend erschossen. Und als die Amerikaner anrückten, trieb die SS rund 7000 Häftlinge auf einen der berüchtigten Todesmärsche, viele kamen um.
Martin Niemöller, Mitglied der bekennenden evangelischen Kirche, war in Dachau eingesperrt wie der jüdische Sozialist Léon Blum aus Frankreich, den das Vichy-Regime an die Nazis überstellt hatte, Kurt Schussnigg, den österreichischen Regierungschef, transportierte man nach Dachau wie auch den SPD-Reichstagsabgeordneten Josef Felder aus Augsburg, der nach dem Krieg Mitglied des Deutschen Bundestags war.
Wie Sklaven gehalten
Die Häftlinge wurden in Dachau wie Sklaven gehalten. Man kann das u.a. nachlesen in dem Buch von Dirk Kämpfer über den früheren Präsidenten des FC Bayern München, Kurt Landauer, an den sich der Münchner Erfolgsklub erst in den letzten Jahren erinnerte und zwar auf Betreiben der Ultras, also einer Fangruppe der Bayern. Und seit im Fernsehen ein Film über „Landauer“ gezeigt wurde, wussten es nicht nur die Fans, wer dieser Mann war: ein Jude, von den Nazis vertrieben, in Dachau eingesperrt, dort gequält, gefoltert, verprügelt, gedemütigt. Landauer kam frei, konnte in die Schweiz fliehen und kehrte nach dem Krieg nach München zurück und wurde wieder aktiv für seinen Verein, den FC Bayern.
Die Biografie von Kämper, die auch in diesem Blog schon vor Monaten besprochen worden war, erzählt die Geschichte auch vom Alltag des Kurt Landauer und der anderen Mithäftlinge. Vier seiner Geschwister werden von den Nazis umgebracht, unter dem Einfluss der Nazis kommt es auch beim FC Bayern, der eigentlich als Juden-Klub gilt, zu Hasstiraden auf jüdische Mitglieder. 1938 wird Landauer von der Gestapo verhaftet und auf einem LKW zusammen mit anderen Leidensgenossen ins Lager Dachau gefahren, durch das Tor, das die Inschrift „Arbeit macht frei“ trägt. In Empfang genommen werden die neuen Häftlinge dort mit Schlägen der Wachleute.
Man kann das nachlesen, wie es zuging in Dachau, wie es einer wie Landauer erlebte: Sechs Stunden stehen in der Kälte, nachdem er die ersten Schläge auf den Kopf erhalten hat, Landauer bekommt die Registriernummer 20029. Befehl: „Alles ausziehen, hopp Judensau!“ Nackt unter die Dusche, erst kochend heißes, dann eiskaltes Wasser, die geschundenen Körper werden brutal geschrubbt, wer aufschreit, bekommt Prügel mit Schläuchen. Juden erhalten mitten im Winter nur leichte Bekleidung. Landauer friert am ganzen Körper, als es im Laufschritt nach draußen geht, dann Stehen bei Eiseskälte. Viele Männer, meist über 70 Jahre alt, können sich kaum auf den Beinen halten. Hier geht es um Leben und Tod. „Dachau ist schlimmer als alles, was er je im Krieg erlebt hat“, wird Landauer zitiert. Schnell merkt er, weil es sich herumgesprochen hat, in welcher Gesellschaft er sich befindet: Ärzte, Regierungsräte, Anwälte, Wissenschaftler, Bürgermeister. Die jungen Bestien der SS schlagen zu, egal, in welchem körperlichen Zustand der Gepeinigte ist.
Schon nach einigen Tagen, so steht es in der Biographie, hat er zahlreiche Menschen sterben sehen, es gibt solche, die zu Tode geprügelt werden, es gibt Menschen, die an Entkräftung sterben, es gibt welche, die sterben, weil die nötigen Medikamente fehlen und es gibt Menschen, die das Angebot der SS annehmen: das Seil, das sie auf Anfrage ausgehändigt bekommen, aber bitte nicht „vor dem eigenen Block, weil es Papierkram bedeutet.“
Die Hölle
Die Hölle nennt Landauer Dachau, das Lager, in dem nur die SS-Leute das Sagen haben, in dem es kein Recht mehr gibt für andere, für die Häftlinge, für die Juden schon gar nicht. Sie treffen immer die schlimmsten Schikanen, kriegen die meiste Prügel, müssen am längsten in der Eiseskälte draußen ausharren.
Kurt Landauer, der FC-Bayern-Präsident, ein Jude, der im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hat. Ein Punkt, dem er schließlich die Freilassung verdankt.
Ex-Häftling Kurt Schumacher erster SPD-Chef
Der politische Neuanfang zumindest in einem Teil Deutschlands begann schon vor der Kapitulation des Nazi-Reichs. Und zwar in der späteren britischen Besatzungszone. In Hannover berief ein gewisser Kurt Schumacher, der die Qualen im KZ Dachau, die Prügel durch die SS-Leute wie die Schwerstarbeit im Steinbruch mühsam überlebt hatte und im März 1943 das KZ Dachau verlassen durfte, am 19. April, neun Tage, nachdem die Amerikaner Hannover befreit hatten, ein Treffen ein, um die SPD wieder zu gründen. Am 6. Mai wurde der erste Ortsverein der SPD in der Stadt an der Leine ins Leben gerufen, das so genannte „Büro Schumacher“ wurde zur vorläufigen Parteizentrale. Schumacher wurde der erste SPD-Parteichef nach dem Krieg und im Bundestag in Bonn der Gegenspieler von Konrad Adenauer, dem ersten Bundeskanzler.
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