Per Definition ist eine Selbstverständlichkeit etwas, das erwartet und vorausgesetzt wird. So ist es selbstverständlich, dass wir, wenn sich unsere Sehstärke verändert, einen Augenoptiker aufsuchen, wir im Todesfall auf die Begleitung durch eine Bestattungsfachkraft vertrauen und wir unser Dach vom Dachdecker decken lassen. Unsere vier- und zweirädrigen Fortbewegungsmittel sind bei Kraftfahrzeug- und Zweiradmechatronikern in kompetenten Händen und gewährleisten zuverlässig unsere Mobilität. Straßenbauer/-innen sorgen dafür, dass wir auf geebneten Wegen von A nach B kommen und Maurer schaffen uns neben Wohn- und Arbeitsräumen sichere Rückzugsorte.
Bis dahin: alles selbstverständlich. Doch wie sähe es in unseren Wohnungen, auf unseren Straßen, auf unseren Köpfen und in unserer Welt aus, wenn die Dienstleistungen der über 130 Handwerksberufe nicht mehr selbstverständlich sind? Sprichwörtlich nicht auszumalen. Oder anders gesagt: das Gegenteil unserer Zivilisation, wie wir sie kennen.
Auch, wenn das oben beschriebene Szenario zunächst wie eine Dystopie klingt und leicht als übertriebene Weltuntergangsstimmung abgetan wird, ist der Fachkräftemangel eine Entwicklung, die schon jetzt und auch in Zukunft nicht ohne spürbare Folgen an uns vorübergehen wird.
Auch, wenn uns ChatGPT beim Texte schreiben überholt, wir mit unseren Handys zahlen und fahrerlose Transportsysteme künftig unsere Pakete ausliefern, herrscht in den Köpfen vieler noch die alte Denke: Ein Studium ist der alleinige Weg zum beruflichen Erfolg. Wenn es darum geht, sich für die Gleichwertigkeit von Studium und beruflicher Ausbildung einzusetzen, wirkt es manchmal so, als würden Politik und Handwerk in zwei unterschiedlichen Fremdsprachen kommunizieren. Dabei geht es nicht darum, die Sprache des Gegenübers auf C2-Sprachniveau zu beherrschen. Es geht vielmehr um Verständigung mit einer Handvoll gemeinsamer Vokabeln.
An dieser Stelle möchte ich Sie mit Gina, Max und Pia bekanntmachen. Sie sind drei von insgesamt neun Gesichtern unserer Kampagne „Mach aus deinem Leben ein Werk“. Die Dachdeckermeisterin, der Bäckermeister und die Installateur- und Heizungsbauerin zeigen, dass das Handwerk ein Vehikel und Sprungbrett in eine Selbständigkeit im eigenen Betrieb darstellt oder anders gesagt: Das Handwerk ist Wegbereiter in ein selbstbestimmtes Leben.
Bevor es soweit ist, müssen wir junge Menschen über die Chancen und Potentiale einer Ausbildung informieren. Das tun wir in und mit unserer Karrierewerkstatt. Die dortigen Kolleginnen und Kollegen der Beruflichen Orientierung bieten eine Anlaufstelle für potentielle Auszubildende, um auf der Suche nach dem passenden Ausbildungsberuf individuell zu unterstützen.
Stichwort Selbstverständlichkeit: Längst ist es nicht mehr so, dass wir allein darauf warten, dass die jungen Menschen zu uns kommen. Wir gehen raus und holen sie zielgruppengerecht in ihrer Lebenswelt ab: Auf dem Schulhof, am Kickertisch, per WhatsApp und Instagram – stets auf der Suche nach neuen Mitteln und Wegen der Ansprache. Ende Mai sprechen wir die jungen Menschen da an, wo normalerweise die Elton Johns, Herbert Grönemeyers und Peter Gabriels unserer Zeit und die Capital Bras, Post Malones und Sidos der jungen Generation auf der Bühne stehen: in der Kölner Lanxess Arena auf ca. 3.000 Quadratmetern auf der größten Ausbildungsbörse im Kölner Raum, dem AZUBI MEETUP HANDWERK.
Was für uns alle, gewerkübergreifend, aber auch im privaten Bereich und speziell in der Wohnungs- und Baubranche spürbar ist, sind die hohen Energiekosten, Personalmangel, steigende Verbraucherpreise und Materialknappheit. Viele Betriebe leiden unter der aktuellen Situation und stehen durch Kunden-Zurückhaltung, Materialengpässe und Auftragsstornierungen stark unter Druck.
Mit der Entscheidung der Bundesregierung, Eigentümer bei neuen Heizungen zum Heizungstausch zu verpflichten, steht das Handwerk vor großen Herausforderungen. Die Nachfrage nach Solaranlagen und Wärmepumpen wird weiter steigen – doch wo sind die Handwerkerinnen und Handwerker, die diese fachgerecht installieren? Der Fachkräftemangel wird zum vielzitierten Nadelöhr der Energiewende. Um die Zukunft von morgen zu gestalten ist schnelles Handeln gefragt – und das eigentlich schon gestern.
Zum Autor: Garrelt Duin ist Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer zu Köln.
Als Minister für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk in Nordrhein-Westfalen setzte er von 2012 bis 2017 Akzente in den Bereichen Digitalisierung, Industriepolitik und Handwerk. Bei der thyssenkrupp AG beschäftigte er sich als Personalverantwortlicher vor allem mit den Themen Personalführung und –entwicklung, Arbeitsrecht und Mitbestimmung. Der gebürtige Ostfriese lebt in Essen und in Köln.
Er leidet seit Kindesbeinen an und mit dem HSV.