Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen bemerkenswerten Beitrag über die Notwendigkeit des Respekts in der deutschen Gesellschaft veröffentlicht: „Plädoyer für eine Gesellschaft des Respekts“, 1. März, Seite 6: „Gegenwart“.
Das Wort aus sieben Buchstaben wird, so scheint es, das zentrale und begründende Wort für das Programm der SPD im Bundestagswahlkampf 2021 sein. Zu hoffen ist, dass der so annoncierte Respekt im Verlaufe der Umsetzung auf die Info-Happen der PR-Ebene seinen gediegenen Ansatz durch Scholz nicht verliert.
Wer Respekt will, muss eine Vorstellung von Ordnung haben: Von dem, was der Mensch vorgefunden hat, was er geschaffen hat. Was der Mensch darf und was nicht. Wer also Respekt will, geht über das Soziale hinaus, ergänzt das Soziale um das Vorgefundene, Natur oder Schöpfung oder beides – wie es denn belieben mag.
Das ist aufschlussreich, denn bisher bewegten sich die zentralen Begriffe und Vorstellungen der Sozialdemokratie anlässlich solcher Wahlkämpfe auf den Ebenen der sozialen Gerechtigkeit, der Reform, der Innovation, der Leistungsfähigkeit, der Ebene einer neuen Zeit beziehungsweise einer besseren Zukunft. Was darüber hinaus reichte, das war privat.
Nun wird das Wort Respekt herausgehoben, ein Wort, das Scholz in seinem Text schillernd nennt, das aber tatsächlich nicht schillernd ist, sondern zu oft bedenkenlos und wenig durchdacht genutzt worden ist. Zu wünschen ist, dass dies allen klar ist, die nun mit dem Wort Respekt umgehen.
Respekt kennzeichnet ja eine Eigenschaft. Eigenschaften verweisen zurück auf den oder die, der sie hat oder vergisst oder ablehnt. In diesem Fall auf Verantwortung
Das Wort Respekt teilt das Ideen-Schicksal der Worte Barmherzigkeit und/oder Nächstenliebe: Seit Jahrhunderten sprachlich vertraut, von ehernem Bestand aber eben auch missachtet und niedergetrampelt. Willy Brandt hat vor vielen Jahren den Versuch unternommen, die traditionelle Solidarität der Arbeiterbewegung und die christliche Nächstenliebe ein Stück weit zusammen zu bringen. Er empfahl das Wort „Compassion“, also die in diesem Wort zum Ausdruck kommende Fähigkeit des Mitleidens. Compassion hat sich nicht durchgesetzt.
Scholz wählt ideell einen anderen Punkt des Anknüpfens. Er erinnert in seinem Text kurz an den österreichischen Publizisten Robert Misik. Der hat vor zwei Jahren ein aufrüttelndes Büchlein über das Lebensgefühl, über die fehlende Wertschätzung der aus der Arbeiterklasse rührenden und in die Jetztzeit transportierten, oft offen verachteten Menschen geschrieben (Robert Misik: Die falschen Freunde der einfachen Leute. Edition suhrkamp, 138 Seiten, € 14,40). Denen und deren Auffassungen von Gleichheit, von Leistung und Gerechtigkeit, so schrieb Misik, werde der Respekt verweigert.
Manchen derer, die sich den alten und sicher nicht guten Zeiten verbunden fühlen, wird es dennoch warm um das Herz werden. Es ist als wenn neben der digitalisierten SPD wieder ein mechanisches, aufziehbares Herz zu schlagen begonnen hätte. Ob so die Klüfte zwischen dem identitäts-fixierten Teil der SPD, dann den Fridays für Future- Verpflichteten und auf der dritten Seite den Industrie- und Sozialpolitisch verhafteten SPD-Mitgliedern überbrückt werden können, wie Scholz hofft, weiß ich nicht. Es ist ein Versuch.
Scholz Analyse
- vom allmählichen Verschleißen der alten Aufstiegsschichten beziehungsweise der Meritokratie und
- vom Dahinwelkens der alten Arbeitsgesellschaft in welcher die Facharbeit dominierte,
ist im Wesentlichen richtig – es ist freilich eine westdeutsche Betrachtung, die den eigenen politisch-gesellschaftlichen Entwicklungsweg der früheren DDR außer Acht lässt. Ja, fehlender Respekt gehört zu den Grundübeln der deutschen Gegenwart. Ob die deutsche Sozialdemokratie die Aufgabe „stemmt“, auf allen Ebenen Respekt und Anerkennung zu generieren, ist offen. Es ist wohl die „letzte Ausfahrt“ vor der langen, langen Strecke ohne Wiederkehr.
Bildquelle: SPD, Thomas Trutschel / Photothek