Viel bisher Unvorstellbares passiert seit einer Woche. Putins Krieg, flüchtende und getötete Menschen; Deutschlands politische Kehrtwende, wirksamer internationaler Wirtschaftskrieg gegen Russland, moralische Erwägungen sogar bei internationalen Sportverbänden – ja sogar Schalke verzichtet auf das Geld von Gazprom – die kürzlich für überflüssig (Trump) oder scheintot (Macron) erklärte Nato findet zu einhelliger Ge- und Entschlossenheit und Deutschland rüstet in unvorstellbarer Dimension auf.
Ein halbes Jahrhundert hat die von Willy Brandt und Egon Bahr erdachte und durchgesetzte europäische Friedensordnung der Schlussakte von Helsinki funktioniert. Sie hat zum Untergang des leninistischen Blocks mit der Sowjetunion und zur Überwindung der deutschen und europäischen Teilung beigetragen. Danach hat sie anscheinend noch weitere drei Jahrzehnte für Frieden und Stabilität zwischen den Staaten Europas sorgen können.
In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts freute man sich über eine „Friedensdividende“ und stritt darüber, ob der Westen gesiegt habe oder bloß übrig geblieben sei. China begann den alten Glauben zu widerlegen, das Kapitalismus und Demokratie einander bedingen. Russsland schien hingegen vorsichtig einen Weg nach Westen einzuschlagen. Ein hierzulande erlebbarer Beleg dafür war eine Rede, die Präsident Putin 2001 vor dem Deutschen Bundestag in Berlin hielt. Kaum jemand bezweifelte damals, dass ein „europäisches Haus“ und deutsch-russische Freundschaft möglich werden könnten. Putin trat nach 9/11 dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus bei und in Russland tätige Wirtschaftsmanager lobten zunehmende rechtsstaatliche Verlässlichkeit und abnehmende Korruption.
2007 trat Putin vor der Münchner Sicherheitskonferenz auf und hielt eine wütende Rede, mit der er die Abkehr Russlands von westlichen Werten verkündete – im Grunde von allem, was die Rede knapp 6 Jahre zuvor im Bundestag erhoffen ließ. Es handelte sich diesmal um eine anti-westliche Feindschaftserklärung.
Dessen ungeachtet wurden verschiedene Verhandlungen erfolgreich fortgesetzt, so das neue START-Abkommen über die Begrenzung der Interkontinentalraketen, das 2010 von Obama und Medwedew (der für eine Wahlperiode die Ämter von Präsident und Ministerpräsident mit Putin getauscht hatte, um Putin eine dritte Präsidentschaftskandidatur zu ermöglichen) unterzeichnet wurde.
Bezeichnete die Münchner Rede also eine große Wende der Politik Putins? Und wenn ja, was hat dazu geführt?
Seit Ende der 90er Jahre bedrohten zwei Streitpunkte das amerikanisch-russische Verhältnis. Zum einen das von Präsident Bush vorangetriebene Raketenabwehrsystem und zum zweiten die NATO-Osterweiterung. Nach der Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns in die NATO 1999 verfolgte Russland offenbar weiterhin die Idee eines „Europäischen Hauses“, bei dem sogar Russlands eigene NATO-Mitgliedschaft denkbar war. 2002 beteiligte sich Russland an der Nahost-Initiative der USA, der sogenannten Roadmap. Im selben Jahr veränderte G.W. Bush die Militärdoktrin der USA dahingehend, dass künftig auch mit nuklearen Präventivschlägen der USA gerechnet werden sollte. Parallel wurde das US-Raketenabwehrsystem vorangetrieben. Nur wenig glaubhaft klangen die Behauptungen, es sei nicht gegen Russland sondern gegen Iran und Nordkorea gerichtet. Das Programm wurde später von Präsident Obama zwar gestoppt, aber nur, um es technisch und hinsichtlich der Stationierungsorte in Europa zu verändern.
Offenbar entscheidend für den öffentlichen Sinneswandel Putins dürfte das Jahr 2004 gewesen sein.
Es ist das Jahr der zweiten NATO-Osterweiterung um die drei baltischen Staaten, Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien – und der „Orangenen Revolution“ in der Ukraine. Die Ukrainer erstritten sich dabei mehr Demokratie und entmachteten eine pro-russische Regierung. Deren offenbar von Moskau verlangte Distanzierung vorangegangener EU-Beitrittspläne waren der Zündfunke für den Aufstand, der seinen Namen von den orangefarbenen Symbolen der damaligen Opposition erhielt. Der Beitrittswille der Ukraine zu EU und NATO hat inzwischen – seit 2019 – Verfassungsrang.
Schon die erste, von Bill Clinton nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen veranlasste Osterweiterung 1999 war auf heftige Kritik namhafter US-amerikanischer Sicherheitsexperten gestoßen, darunter George F. Kennan und Robert McNamara, die eine Verhärtung der russischen Politik einschließlich eines europäischen Krieges als deren Folgewirkung vorhersagten. Vielleicht wäre es danach aber noch möglich gewesen, den Konflikt mit Russland einzuhegen. Aber die Erfahrung, dass 5 Jahre später ein vermeintlicher Vasallenstaat dem Einfluss Moskaus entgleitet während gleichzeitig die USA, die NATO und auch die EU immer weniger Bereitschaft zeigten, russische Interessen zu berücksichtigen, dürften entscheidend für Putins Sinneswandel gewesen sein.
Auch wenn zu jener Zeit eine Chance zur Stabilisierung des Friedens verpasst worden ist, kann das den russischen Angriffskrieg – das allein ist bereits ein Kriegsverbrechen – gegen die Ukraine nicht rechtfertigen.
Ob die These von 2004 als Wendejahr für Putins Strategien zutrifft, werden vielleicht Historiker in einigen Jahrzehnten erst entschlüsseln können. Sicher ist, dass Putin die Ankündigungen seiner Münchner Rede Zug um Zug umgesetzt und überboten hat. Von der homophoben Gesetzgebung über die Unterdrückung und Verfolgung der Opposition, die nicht vor Morden und Giftanschlägen zurückschreckt, der aktiven Schwächung des Westens durch Unterstützung rechtsextremistischer Parteien in Westeuropa bis zur Aufrüstung, der Krimokupation, des (kaum) verdeckten Krieges in der Ostukraine dient alles dem Ziel, dem Westen Grenzen aufzuzeigen und die Dimensionen wahlweise der Sowjetunion oder des Zarenreiches wieder herzustellen. Zu verstehen ist das allenfalls als Überreaktion auf die anscheinend zwar eher später als früher aber sehr wahrscheinlich eintretende EU- und NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Zu rechtfertigen ist es überhaupt nicht.
Der Weg vom Schröder Freund*,“ lupenreinen Demokraten“ zum Tyrannen und grausamen Kriegsverbrecher ist verstörend und erschreckend. Diejenigen, die schon einmal unfreiwillig zu Russland oder zur russischen Einflusszone gehört haben, haben das offenbar früher gesehen, als beispielsweise Westdeutsche, die sich lange in der Überzeugung bestätigt fühlten, dass der – letztlich nur noch kommerzielle – Interessenausgleich mit Russland auch zukünftig friedenssichernde Qualitäten haben werde.
Die nun von einer rot-grün-gelben Bundesregierung ausgerufene groß dimensionierte militärische Aufrüstung macht keine Freude und die weitgehende Isolierung des Kriegstreibers Russland kann nicht ewig dauern; zu beidem gibt es jedoch jetzt keine plausible Alternative.
Im Rückblick irritiert eine in weltpolitischen Maßstäben eher für unbedeutend gehaltene Begebenheit das Bild. Der „nette“ Putin von 2001 verfolgte bereits damals unerbittlich Michail Chodorkowski. Ein Neureicher, der sich von anderen sogenannten Oligarchen, die sich, wie er selbst, ehemaliges Volkseigentum unter den Nagel gerissen hatten und damit zu unermesslichen persönlichen Reichtum gekommen waren, in einem wesentlichen Punkt unterschied: Er unterstützte die linksliberale Partei Jobloko, die damals Abgeordnete in der Duma hatte und ein demokratisches Russland erstrebt. Die Partei gibt es noch, sie ist aber völlig marginalisiert. Chodorkowski wurde nach langjähriger Haft wegen vorgeblicher Steuervergehen auf Betreiben der Bundesregierung und begleitet von Hans-Dietrich Genscher aus Russland ausgeflogen und lebt heute in London.
Gehörte sein Schicksal bereits zu einer langfristigen Strategie der Machtsicherung, die Putin die Unterstützung des großen Geldes sicherte? Andere Superreiche haben sich jedenfalls seither nicht mehr politisch oder gar kritisch zu Putin geäußert.
Erst in dieser Woche hörte man, dass einige von ihnen den Krieg gegen die Ukraine nicht billigen. Andere, obwohl beispielsweise Mitbesitzer russischer Propagandamedien, betonen ihr angebliches Unpolitisch-Sein wohl nur zu dem Zweck, an ihr aus Russland ausgelagertes Vermögen zu kommen.
Chodorkowski unterstützte damals innenpolitisch eine Partei, die Ähnliches anstrebte als das, was Putin im Bundestag angeboten hatte.
Auch im Zorn über einen grässlichen Krieg und die dafür verantwortliche russische Kamarilla rund um Putin bleibt die Suche nach Erklärungen für einen so radikalen Politkwechsel vom (Möchte-gern-) Freund zum Feind und Agressor notwendig.
Nach heutigem Stand (4. 3. 22) ist Putin allerdings immer noch ein „Friend of Gerd“ (Schröder), dessen Freundeskreis im Zuge der Entwicklung ansonsten jedoch stark schrumpft.