Wo ist eigentlich die SPD? fragte mich gestern ein guter Freund. Wo soll sie schon sein, antwortete ich lapidar. Immerhin stehen wir vor dem 1. Mai. Und irgendwie habe ich diesen Tag der Arbeit immer auch mit der SPD verbunden, sagte er weiter, der ältesten Partei in Deutschland, der Arbeiterpartei, die mal Volkspartei war, der aber das Volk abhanden gekommen sein muss. Oder wie soll man die 15 oder gar nur 13 Prozent erklären, die laut Umfragen der einst stolzen Sozialdemokratie noch ihre Stimme geben würden?
„Verlustanzeige“, so der Titel im Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“. Ein Satz als Unterzeile erklärt die Überschrift: „Eine Bitte zum ‘Tag der Arbeit‘: Wenn Sie die SPD irgendwo sehen, bitte umgehend melden!“ Der Autor Nils Minkmar ist Journalist, Historiker und Publizist, der für das ZDF, die SZ, Geo und Merian, die Zeit, die FAS, die FAZ und den Spiegel gearbeitet hat. Heute ist er freier Autor, dem der Ruf nacheilt, ein „Analytiker und Generalist“ zu sein, einer, der „Phänomene beobachtet und mit seinen oft klugen Gedanken reflektiert“ (Johannes Kloth). Wie heute das Phänomen „SPD“ und was aus dieser großen Partei geworden ist.
Es ist ein irritierendes Schauspiel. Die Zuschauer sehen die Stromschnelle, auf die das Schiff zusteuert. Sie schreien der Crew zu, warnen vor der Gefahr. Doch die Steuerleute sehen weg, erkennen oder wollen nicht erkennen, dass das Boot unterzugehen droht, wenn das Ruder nicht herumgerissen wird.
Kein Schauspiel, keine Filmszene aus „Fluß ohne Wiederkehr“, sondern Realität aus dem wirklichen Leben. Der einstige „Tanker SPD“ (Peter Glotz), der damals eine Million Mitglieder an Bord hatte, von denen aber mehr als die Hälfte das Schiff wieder verlassen haben. Ein Schiff, das nur noch die traurige Größe eines Kahns hat, scheint manövrierunfähig.
Seit Monaten warten Mitglieder und die rar gewordenen Wähler auf einen Kick, ein Lebenszeichen für den Wahlkampf. Doch die einen scheinen zu glauben, dass der September noch weit hin ist. Andere im Willy-Brandt-Haus scheinen eher daran interessiert, sich für den Tag nach der Wahl in Stellung zu bringen. In Stellung, wofür? Für eine gerupfte, zerfledderte Partei?
Dem charismatischem Bundesgeschäftsführer Peter Glotz traute man in den achtziger Jahren zu, den Tanker – wenn auch mühsam – auf Kurs zu halten. Einen Generalsekretär wie Lars Klingbeil halten die meisten für einen Leichtmatrosen, nicht einmal in der Lage, den Kahn zu sichern, geschweige denn, ihn für eine Kampagne in Schwung zu bringen. Der eine Parteivorsitzende ist abgetaucht, die Co-Parteivorsitzende strickt mit ihrem Steigbügelhalter und Stellvertreter Kevin Kühnert daran, nach dem Wahltag als Vorsitzende nicht unterzugehen. Warum, frage ich mich, hat sie sich – der Sympathie und Wählerstimmen nicht gerade zufliegen – wählen lassen zur SPD-Vorsitzenden? In die Riege von Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel, selbst Oskar Lafontaine oder Gerhard Schröder gehört sie nicht.
Doch wer soll die Partei retten? Olaf Scholz, der Kandidat? Er steht allein auf der Bühne und gefällt sich in dieser Rolle. Aber er hat sich verrechnet. Er lässt die Zeit verstreichen, weil er darauf spekuliert hat, sich den Wählern als regierungserfahrener Erbe von Angela Merkel anzubieten. Die aber wollen das Erbe einer abgewirtschafteten und ermüdeten Merkel-Ära nicht. Und peinlich: Er muss sich selber loben, wie er das vor Tagen getan hat, indem er seine Eigenschaften herausstrich, an denen es der Konkurrenz ums Kanzleramt mangele. Auch wenn er nicht Unrecht hat, selbst für jene, die ihn schätzen ob seiner unbestrittenen Fähigkeiten und Erfahrungen.
Erfahrung, gar Regierungserfahrung, erweist sich in der gefühligen Welt der Grün-Enthusiasten eher als Manko. Deren neue Welt besteht aus Radwegen und nicht aus Solidarität. Wenn die SPD nicht den Mut hat, dies glasklar zu benennen, droht sie zerrieben zu werden zwischen Konservativen und Wohlfühldemokraten.
Die SPD muss wieder die Partei der Arbeit sein. Das, was sie immer in ihren großen Zeiten war. Der Betriebsrat der Nation, der Anwalt der kleinen Leute, im Grunde aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich kümmert um Corona am Arbeitsplatz, Familie und Arbeit, bessere Löhne für die Millionen Mini-Jobber, all die Boten, die ausgebeutet werden, Arbeit und Klima, ja die Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie, damit der Planet nicht kaputt geht und Lebensgrundlage für die nächsten Generationen bleibt, Gleichberechtigung der Frau, was auch bedeutet, dass sie gleiche Bezahlung bekommen müssten bei gleicher Qualifikation und natürlich gleiche Aufstiegschancen für Frauen. Frauen gehören in die Chefetagen von Daimler wie von VW, der Deutschen Bank. Oder sollen etwa die gescheiterten Männer als Vorbilder dienen? Es gäbe so viele Themen, Ungerechtigkeiten in diesem Land, die zu beseitigen eine SPD gebraucht würde, wenn sie denn zur Stelle wäre mit neuen Ideen und sich nicht im Willy-Brandt-Haus verkriechen würde. Willy Brandt, wenigstens an ihm könnten sie sich orientieren die Genossinnen und Genossen: Aufstieg durch Bildung, hieß eine der Lösungen aus jenen Jahren, die immer noch modern sind.
Der Aufmacher der SZ in der Wirtschaft hat die Überschrift: „Der Sozialdemokrat“. Aber es ist der neue US-Präsident Joe Biden gemeint, der u.a. bei Reichen ein beliebtes Steuerschlupfloch schließen will. Es lohnt sich sein gerade verkündetes Programm zu lesen, man wähnt sich in alten SPD-Papieren, ja bei Willy Brandt und „Mehr Demokratie wagen“. Wo bleibt das Wagnis des Olaf Scholz und der anderen führenden Sozialdemokraten?
Eine nachhaltige Wirtschaft ist gefragt, nicht so sehr das Lächeln, mit dem Annalena Baerbock und Robert Habeck die Sorgen und Probleme überspielen wollen. Die SPD muss raus in die urbanen Milieus, vor Ort mit den Menschen reden, sie muss die Bereiche Technologie und Kunst und Kultur zurückgewinnen. Es gibt verdammt viel zu tun. Nicht zu vergessen die europäischen Fragen, Russland muss wieder an den Tisch der Europäer geholt werden, Sanktionen lösen nichts. Willy Brandt und Egon Bahr haben Deutschland zu neuen außenpolitischen Ufern geführt, die schwierige Aussöhnung mit dem Osten realisiert. Es war die Zeit des Kalten Kriegs, die Wege der SPD damals waren steinig, riskant, die Unions-Opposition tobte. Brandt erhielt den Friedensnobelpreis. Es gibt keinen Grund für die heutige SPD in Schutt und Asche zu gehen, sondern im Wissen um ihre Geschichte und all, das was sie in über 70 Jahren für diese Republik geleistet hat, mit erhobenem Haupt für die Zukunft dieses Landes und die Menschen zu kämpfen.Mit ihren Themen.
Die Stromschnelle ist nahe. Zeit bis September, gut vier Monate also noch? Keineswegs. Spätestens Ende Juli ist die Zeit abgefahren. Sommerferien, wie immer auch in Pandemiezeiten aussehen werden. Auf einen kurzen Endspurt im September zu hoffen, ist trügerisch, da immer mehr Wähler ihre Stimmen längst per Briefwahl abgegeben haben werden – wie die Landtagswahlen gezeigt haben.
Wenn im Mai oder Juni nicht endlich ein Motivationsschub kommt, sieht es düster aus. Die Partei und ihre Wahlkreiskandidaten brauchen einen neuen Schwung,
Die SPD wird gebraucht! Nicht als Selbsterfahrungsgruppe, sondern als die Kraft, die das Land sieben Jahrzehnte mitgestaltet hat. Wenn diesen Anspruch die Akteure im Willy-Brandt-Haus, in der Bundesregierung, in der Bundestagsfraktion und in den Ländern nicht selbst gestalten, dürfen sie sich nicht wundern, dass der schlingernde Kahn von den Wählern nicht vermisst wird. Es ist höchste Zeit, das Steuer entschlossen in die Hand zu nehmen. Einer verunsicherten Laschet-CDU und einer überbewerteten Grünen-Euphorie endlich die Stirn zu zeigen.
Die Wiederauferstehung der SPD. Was für ein schöner Traum. Leider scheint keiner von den „Führungspersönlichkeiten“ in der Lage diesen Traum zu verwirklichen. Die SPD hat einfach den Kontakt zu ihren Wählern und damit zur Realität verloren. Der Niedergang der SPD hat auch mit dem Aufstieg der AFD zu tun. Viele Ihrer Wähler sind zu den braunen Hetzern gewechselt, da sie ihre Interessen bei der SPD nicht mehr vertreten fühlen. Das ist nicht nur keine Lösung, sondern eine erhebliche Gefahr für unsere liberale Demokratie.
Ob andere Parteien thematisch die Lücke füllen können, scheint fraglich.
An der SPD-Führung habe ich eine ganze Menge auszusetzen. Damit stehe ich nicht alleine da. Es gibt Defizite, die muss sich die SPD-Führung anrechnen lassen. Beißt die Maus keinen Faden ab. Aber die ironische Aufforderung: „Wenn Sie die SPD irgendwo sehen, bitte umgehend melden!“ – die zeugt von sozialer Unkenntnis. Wollen wir´s ausprobieren?
Die meisten Betriebs- und Personalräte haben heute noch das Mitgliedsbuch der SPD in der Schublade. Lebenshilfe, VdK, Sozialverband Deutschlands (Reichsbund) , Deutscher Städtetag, Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) und viele andere Vereinigungen – SPD geführt. Von 75 Oberbürgermeisterinnen und -meistern der deutschen Großstädte haben immer noch 48 das Mitgliedsbuch der SPD daheim – ich wiederhole mich: in der Schublade.
Man muss schon eine Art Leseschwäche haben, wenn man das nicht bemerkt. Bei ALDI gibt´s schon Lesebrillen ab vier €!