Nach der Vize-Präsidentschaft ins höchste politische Amt der Vereinigten Staaten zu gelangen, ist nicht unbedingt ein automatischer, aber doch ein realistischer Weg. Joe Biden, der President-elect, strebt auf die Vollendung dieses Weges zu, wenn er am 20. Januar als 46. Präsident der Vereinigten Staaten in sein Amt eingeführt wird. Seine staatsmännischen Vorzüge und die reichhaltige Erfahrung aus den acht Jahren als Vize von Barack Obama waren wertvolles Kapital für den Wahlerfolg der Demokraten. Der designierten Vize-Präsidentin Kamala Harris kommt ein nicht zu unterschätzender Anteil am knappen Sieg zu.
Sie hatte selbst Ambitionen auf die Präsidentschaftskandidatur gehabt, blieb allerdings aussichtslos, schied früh aus dem Rennen um die Nominierung aus und kehrte als Joe Bidens Running Mate auf die Bühne zurück. Der Kandidat, mit dem die Demokraten den furchtbaren Amtsinhaber Donald Trump aus dem Amt jagen wollten, hatte sich Zeit gelassen mit der Auswahl. Selbstverständlich war die Entscheidung sorgfältig gewogen und durch und durch strategisch ausgerichtet. Eine Frau, eine Schwarze, eine Vertreterin der Mittelschicht, eine Senatorin mit Regierungserfahrung, eine ehrgeizige und erfolgreiche Juristin: die 56-Jährige hatte einiges zu bieten, was in dieser eminent wichtigen Wahl zusätzliche Wählergruppen ansprechen würde.
Kamala Harris war in ihrem Leben oft die Erste: mit 30 schon Bezirksstaatsanwältin von San Francisco, sechs Jahre später Justizministerin von Kalifornien, jetzt Vize-Präsidentin. Frau und schwarz sind die Attribute, die sie selbst offensiv anspricht: „Ich bin schwarz und stolz darauf“, sagt sie und hebt in ihrer Siegesrede nicht nur hervor, die erste Frau und die erste Frau aus einer Einwandererfamilie in diesem Amt zu sein. Vielmehr betont sie den historischen Erfolg für die Frauen- und Bürgerrechtsbewegung, wenn sie sagt: „Ich stehe auf ihren Schultern.“ Und sie macht ihre persönliche Karriere zum Hoffnungszeichen für die jungen Frauen. Der umjubelte Satz: „Ich werde die erste Frau in diesem Amt sein, aber nicht die letzte.“
Sie dankt ihrer Mutter, der Brustkrebsforscherin Shyamala Gopalan, die 1960 aus Indien nach Amerika emigrierte und den aus Jamaika stammenden Wirtschaftsprofessor Donald J. Harris heiratete. Als Kamala sieben Jahre alt war, trennten sich ihre Eltern. Kamala und ihre Schwester Maya wuchsen bei der Mutter auf, zunächst in Montreal, Kanada, später wieder in Oakland, Kalifornien. Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe gehört zu den prägenden Erfahrungen; die Mutter stärkt ihre Töchter mit ihrem Kampfgeist. Die Aufforderung „Sitzt nicht nur herum und beschwert euch. Tut was“, klingt heute auch in den Reden von Harris an. Ehrgeizig träumen und entschlossen handeln, empfiehlt sie der jungen Generation.
Gleich, als Joe Biden sich im Sommer für Kamala Harris entschieden hatte, grummelte es in der Demokratischen Partei. Sie habe kein klares Profil, hieß es, und sie sei nicht links genug. Die Kritik aus der Anhängerschaft von Bernie Sanders, der im Kampf um die Nominierung zuletzt Biden unterlegen war, verstummte jedoch rasch. Die parteiinternen Rivalitäten traten hinter das gemeinsame Ziel zurück; die Demokraten zeigten sich diszipliniert geschlossen, wie lange nicht. Das hatten sie Trump zu verdanken, und man wird sehen, wie lange das hält.
Kamala Harris hat zwei Stichpunkte genannt – Klimawandel und Rassimus – zu denen sie politische Akzente setzen will. Vor allem aber verspricht sie, ebenso wie Biden, sich um Einigung zu bemühen, um die Versöhnung der tief gespaltenen Gesellschaft, die Heilung der „Seele unseres Landes“. Und sie betont gewissermaßen die Grundpfeiler ihrer politischen Haltung, indem sie den Wählern bescheinigt, für Hoffnung, Einheit, Wissenschaft, Anstand und die Wahrheit gestimmt zu haben. Ein Gegenentwurf zu Trump, wie ihn auch Biden verkörpert, zugewandt, menschlich, präsidial in dem Sinn, wie es sich eine Mehrheit der Wähler nach vier katastrophalen Jahren ersehnt hat.
Für Kamala Harris bedeutet das Amt der Vize-Präsidentin sicher nicht die Endstation ihrer Ambitionen. Es ist ein Zwischenhalt. Sie strebt ohne Zweifel danach, ein weiteres Mal die Erste zu sein – die erste Frau im US-amerikanischen Präsidentenamt. Als potenzielle Nachfolgerin von Joe Biden, der am 20. November sein 78. Lebensjahr vollendet, könnte sie sogar ganz ohne Wahl ans Ziel gelangen.
Bildquelle: Wikipedia, Gage Skidmore from Peoria, AZ, United States of America, CC BY-SA 2.0 , via Wikimedia Commons