„Versöhnen statt spalten“, das war das Grundmotiv für das politische Reden und Handeln von Johannes Rau, der am 16. Januar dieses Jahres neunzig Jahre geworden wäre. Wie zentral dieser Leitgedanke für die Politik ganz allgemein sein sollte, das erleben wir, wenn wir in die USA schauen. Dort hat ein Präsident vier Jahre lang die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben, deren Folgen mit dem Sturm auf das Kapitol ihren demokratieverachtenden bildhaften Ausdruck gefunden hat.
Zu seinen Lebzeiten hielten viele Raus Leitlinie für zu menschelnd, zu wenig programmatisch, doch sie war grundlegender, umfassender und humaner als die allermeisten ausformulierten politischen Programme – vor allem war sie „nahe bei den Menschen“. Johannes Rau wurde „Menschenfischer“ genannt, und diese Zuschreibung passte, denn er wollte die Menschen für seine Politik gewinnen; nicht vorweg marschieren und den Kontakt verlieren, er wollte sie mitnehmen. Johannes Rau baute vor allem auf den „Mundfunk“ und weniger auf den Rundfunk. Deswegen zog er unermüdlich durchs Land und suchte das unmittelbare Gespräch mit den Menschen. Dank seines Gedächtnisses kannte er viele beim Namen.
Johannes Rau war alles andere als ein Dogmatiker, aber er hatte eine klare, christlich fundierte Wertvorstellung und er war umso beharrlicher, wenn es darum ging, das politisch Mögliche möglich zu machen. Die Menschen vertrauten ihm, weil er sagte, was er tun kann und er tat, was er sagte.
Von 1987 bis 1996 war ich zunächst stellvertretender und dann Sprecher des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen. Mit keinem anderen Menschen habe ich beruflich so dicht, so intensiv über einen so langen Zeitraum zusammenarbeiten und mich auch in sein Welt- und Menschenbild hineindenken dürfen.
Das Bohren dicker Bretter
Aus meiner damaligen Rolle weiß ich, dass Raus Umgang mit Journalistinnen und Journalisten äußerst vorsichtig war, denn er ließ sich vor politischen Entscheidungen nur ungern in die Karten schauen. Journalismus lebt vom echten oder vermeintlichen Nachrichtenwert und vom Streit – möglichst sogar über Personen. Jemand, der wie Johannes Rau nicht mit der Axt den gordischen Knoten zerschlug, sondern der Politik als das „Bohren dicker Bretter“ verstand, konnte und wollte nicht jeden Tag eine „neue Sau durchs Dorf jagen“. Jemand der auf Konsens setzt, wollte möglichst den Streit auf offener Bühne vermeiden, deshalb sagte er gelegentlich: „Öffentliche Rat´schläge` können auch Schläge sein“.
Johannes Rau war ein Künstler der Sprache und er wog seine Worte ab. Seine Waffe war – wie er das 1977 bei seinem knappen Abstimmungssieg gegen Friedhelm Farthmann bei der Wahl zum Landesvorsitzenden der NRW-SPD sagte – das „Florett und nicht der schwere Säbel“. Aufgewachsen im Bergischen Wuppertal, also an der Grenze zwischen dem Westfälischen und dem Rheinischen, hatte er, wie er immer spöttelte, etwas von der „Leichtigkeit“ der Westfalen und von der „Bodenständigkeit“ der Rheinländer. Lebenszugewandtheit und die Fähigkeit zur humorvollen Anekdote, selbstbewusstes Understatement, Selbstdisziplin und persönlicher Einsatz gingen bei ihm eine Charaktersymbiose ein. Viele, die ihn als biertrinkenden und skatklopfenden Anekdotenerzähler abtaten, konnten gar nicht erahnen, wie viel Fleiß und Mühe bis zur Auszehrung hinter dem nach außen fröhlichen und lebensfrohen Menschen standen.
Auf welchen politischen Positionen Johannes Rau auch immer gewirkt hat, er hat nie Verletzte zurückgelassen. Ob als junger Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Wuppertal – ein Amt, das er, ganz typisch für seinen Wunsch nach Bürgernähe, immer als seine „schönste Aufgabe“ bezeichnet hat – ob als jüngster Abgeordneter und kulturpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion gegen seine streitbare politische Gegnerin Christine Teusch von der CDU. Auch gegenüber dem vom persönlichen Temperament her ganz gegensätzlichen Arbeits- und Sozialminister und späteren SPD-Landtagsfraktionsvorsitzenden Friedhelm Farthmann hat er es bei allen Kontroversen nie zu einem Bruch kommen lassen und mit Diether Posser, der mit ihm um das Amt des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten konkurrierte, blieb eine dauerhafte persönliche Freundschaft.
Konsens statt Konfrontation
Er beendete politische Diskussionen nicht mit einem „Basta“, sondern er suchte lange nach Bündnispartnern und Mehrheiten, lotete Kompromisse aus und setzte auf Konsens, statt auf Konfrontation. Ich habe erlebt, wie er in seinen Kabinetten so unterschiedliche Temperamente, Talente und Begabungen wie den liberalen Rechtspolitiker Herbert Schnoor und das sozialdemokratische „Ruhrgebiets-Urgestein“ Hermann Heinemann, den in wissenschaftlicher Distanz und Detailbesessenheit vortragenden Wirtschaftsprofessor Reimut Jochimsen und den hoch engagierten und heißblütigen Klaus Matthiesen, den intellektuell brillanten und deshalb manchmal arrogant wirkenden Christoph Zöpel und den immer auch ein Gewerkschafter gebliebenen Heinz Schleußer, die niemals aufgebende Kämpferin Anke Brunn und den väterlichen Hans Schwier nach oft stundenlangen Debatten nicht nur zusammenhalten und zusammenführen, sondern ohne ausdrückliche eigene Vorgaben in einen Beschluss einbinden konnte, der ihm vielleicht zu Beginn der Debatte noch gar nicht ganz klar war, der aber zu dem von ihm gewünschten Ergebnis führte – mit allen notwendigen Differenzierungen.
Johannes Rau liebte in der politischen Debatte und auch im kleinen Kreis die Frageform. Etwa: „Sollte man nicht auch bedenken?“ „Wäre es nicht vernünftig, dieses oder jenes zu tun?“ Und er mochte den Konjunktiv und den Komparativ: „Wäre es nicht besser?“ „Entschiede man sich so oder so, dann hätte das diese oder jene Folgen.“ Aus seinen Reden eine Nachricht zu machen, war für mich als Regierungssprecher häufig eine schwierige Gratwanderung. Johannes Rau hat auch im heftigsten Wettstreit, und selbst wenn er sich persönlicher Angriffe erwehren musste, nie seinen Gegner als Person angegriffen, er hat seine Meinung in der Sache dagegengestellt, aber dabei meist dem Angreifer Brücken gebaut. Er hat mit diesem Stil und mit diesem Umgang mit dem politischen Gegner Mehrheiten für sich gewonnen. Er selbst hat seine Form der politischen Auseinandersetzung einmal so charakterisiert: „Niemand sollte Behutsamkeit in der Sprache mit Zögerlichkeit in der Sache verwechseln.“
Die Bürgerinnen und Bürger spürten, woran sie mit ihm waren und sie vertrauten darauf, dass er wohlabgewogene Entscheidungen traf – und das war das politische Erfolgsgeheimnis, das ihm dreimal die absolute Mehrheit der Mandate im NRW-Landtag verschaffte und ihn mit immerhin noch 46% der Stimmen eine Koalition mit Bündnis90/Die Grünen erreichen ließ. Nacheinander scheiterten an ihm die Herausforderer Kurt Biedenkopf, Bernhard Worms, Norbert Blüm und Helmut Linssen von der CDU, und das waren ja nicht alles politische Leichtgewichte. Es war eine spannungsgeladene Rot-Grüne-Koalition, an die sich viele Sozialdemokraten an der Ruhr nicht gewöhnen wollten.
Dass die Metropole Ruhr fast eine halbe Million Bergleute und mehr als zweihunderttausend Stahlarbeiter und der Niederrhein und das Münsterland hunderttausende in der Textilindustrie Beschäftigte verloren haben, ohne dass es zu Unruhen gekommen ist und ohne dass die Menschen „ins Bergfreie“ gefallen sind, das hat ganz viel mit Johannes Rau zu tun.
Dass eine Hochschulwüste, wie das Ruhrgebiet bis in die sechziger Jahre eine war, heute eine der dichtesten Hochschullandschaften ist, hat sehr viel mit Johannes Rau zu tun.
Dass Nordrhein-Westfalen kein von der britischen Besatzungsmacht zusammengestückeltes Bindestrichland geblieben, sondern ein Land mit einer eigenen Identität und gar einem Heimatgefühl geworden ist, hat noch mehr mit Johannes Rau zu tun.
Raus moderierender Führungsstil traf bei seiner ihm von der SPD auf Bundesebene eher abgenötigten Kandidatur für das Amt des Bundeskanzlers im Jahre 1987 auf den unbeugsamen Machterhaltungswillen des Amtsinhabers Helmut Kohl. Obwohl die CDU auch Stimmen einbüßte, siegte sie gegen eine zu wenig entschlossene SPD.
Er hat viele Brücken gebaut
Tief enttäuscht über einige prominente CDU- und FDP-Politiker war er nach dem Scheitern seiner ersten Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten im Jahre 1994, denn ohne solche Zusagen unter vier Augen hätte er sich gar nicht in diese ganz besondere Art von „Wahlkampf“ mit dem später gewählten Roman Herzog begeben. Von mancher Seite wurde ihm vorgehalten, er hätte seine Kandidatur im zweiten Wahlgang zugunsten von Hildegard Hamm-Brücher zurückziehen sollen. Doch dieser Ausweg eines Rückzugs aus der Kandidatur stand ihm gar nicht mehr offen, weil die Wahlmänner (und es waren überwiegend Männer) von der FDP die (von ihnen ungeliebte) Kandidatin längst im Stich gelassen hatten. Über dieses traurige Kapitel muss man nur die Biografie von Hildegard Hamm-Brücher „Freiheit ist mehr als ein Wort“ nachlesen.
„Seine“ SPD, für die er im Parteivorstand und im Präsidium über Jahrzehnte viele Brücken gebaut hat und die Sprachlosigkeit zwischen manchen ihrer führenden Repräsentanten überwand, hielt ihm die Treue und nominierte ihn 1998 ein zweites Mal als ihren Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten. Das Vertrauen der Grünen bei dieser zweiten Kandidatur hatte er durch seinen fairen, ja geradezu pädagogischen Umgang mit diesem Koalitionspartner gewonnen.
Johannes Rau hatte als Bundespräsident anders als sein Vorgänger Roman Herzog und sein Nachfolger Horst Köhler für die Medien keinen Neuigkeitswert und sein Hang zu den leiseren und mahnenden Tönen ließen ihn zu Beginn seiner Amtszeit in einer die Zuspitzung fordernden elektronischen Medienwelt nicht so viel Gehör finden, wie er das verdient gehabt hätte oder wie er sich das gewünscht hatte.
Das wichtigste politische Mittel eines Bundespräsidenten ist das Wort. Und wenn man zumal die „Berliner Reden“ von Johannes Rau nachliest, so stellt man fest, dass er mit seinen Überzeugungen und Einsichten noch heute Orientierung geben kann. Diese politischen Reden sind immer noch auf der Höhe der Zeit.
Mit seiner Rede etwa über die Zuwanderung unter dem Titel „Ohne Angst und Träumereien: Gemeinsam in Deutschland leben“ hat er Richtungsweisendes über die Flucht von Tausenden von Kriegen nach Deutschland Vertriebenen im Jahre 2015 vorweggenommen. Und an seinem Plädoyer für einen „Fortschritt nach menschlichem Maß“ könnte sich bei uns die Debatte um die fortschreitende Digitalisierung ausrichten. „Die Globalisierung gestalten kann nur, wer klare Wertvorstellungen jenseits des Wirtschaftlichen hat. Wir müssen uns darüber klar werden, wie wir Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen in Zeiten der Globalisierung sichern und fördern können“, mahnte Rau in seiner Berliner Rede 2002. Hätte die Politik solchen Ratschlägen mehr Beachtung geschenkt, hätte es nicht bei so vielen Menschen zu Ängsten vor der Globalisierung und zur Regression einer zunehmenden gesellschaftlichen Minderheit auf bornierte nationale Abgrenzung und Fremdenfeindlichkeit kommen müssen.
Dass es zu einer Respektierung zwischen Israel und Deutschland, ja sogar zu Freundschaften zwischen Juden und Deutschen gekommen ist, daran hat Johannes Rau einen hohen Anteil. Das bewies nicht zuletzt die erste Rede eines deutschen Politikers in deutscher Sprache vor der Knesset im Jahre 2000. Die persönliche Wertschätzung, die er in Israel genoss, zeigten die tröstenden Worte von Shimon Peres nach seiner Abstimmungsniederlage in der Bundesversammlung: „Johannes, komm zu uns, bei uns hast Du die Mehrheit auf Deiner Seite.“ Dass ihn dennoch Jassir Arafat als einen „Neffen im Geiste für den Friedensprozess“ im Nahen Osten bezeichnet hat, ist einmal mehr ein Ausdruck der Fähigkeit von Johannes Rau, Brücken zu bauen, Menschen, ja sogar Feinde zusammenführen.
Ökologie und Ökonomie in sozialer Verantwortung
Johannes Rau war schon in seinem Regierungsbündnis mit den Grünen dafür eingetreten, dass wir den Raubbau an der Natur und die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen nur aufhalten können, wenn – wie seine Formel lautete – „Ökologie und Ökonomie in sozialer Verantwortung“ zusammengebracht werden.
Heute stehen wir vor der Frage, wie können wir aus der durch Corona ausgelösten Krise wieder herausfinden. Auch dafür könnte Johannes Rau noch heute Orientierung geben:
„Unternehmen erwarten von der Politik zu Recht, dass sie ihnen Planungssicherheit gibt. Weniger Sicherheit als den Unternehmen darf man auch den Menschen nicht zumuten.
Ein soziales Sicherungssystem, das die großen Lebensrisiken auffangen kann, stärkt die Freiheit des Einzelnen. Wer Angst hat vor dem, was morgen wird, der klammert sich mit aller Kraft an das, was heute ist. Ein Grundgefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit macht offen für neue Wege.
Der Sozialstaat ist kein Bremsklotz für die wirtschaftliche Dynamik. Im Gegenteil: Richtig geordnet stärkt er die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, weil er die Menschen entlastet und Freiraum schafft für Kreativität und Leistung…Dass die Menschen auf Solidarität und Gerechtigkeit im Inneren vertrauen können, das ist die Voraussetzung dafür, dass wir mehr Gerechtigkeit im globalen Maßstab erreichen können.“
Bildquelle: Wikipedia, Holger Noß, Johannes Rau 2002 am Tag der Deutschen Einheit in Berlin, CC BY-SA 2.5
Hallo Wolfgang Lieb,
Kluger Artikel über Johannes. Chapeau!
Falls Dich Deine Wege – natürlich nach Corona – mal wieder in den hohen Norden führen, ich würde mich über einen Anruf freuen. Der Bremer Kaffee ist immer noch gut ….
Dein Werner W. Blinda
Wolfgang, das hast du schön geschrieben. Und wahr ist es auch noch.