Eins gleich vorweg: Ich bin engagierter evangelischer Christ, selbstredend Kirchensteuerzahler und besuche auch den sonntäglichen Gottesdienst – nicht sehr oft, aber immerhin. Ich habe also überhaupt nichts gegen die Kirche, im Gegenteil. Aber dass sie jetzt im neusten Lockdown bevorzugt wird und die Gotteshäuser weiter offen halten darf, während beispielsweise Theater und Konzertsäle auch bei den besten Hygiene-Konzepten schließen müssen; – das leuchtet nicht ein, und ich verstehe alle, die dagegen Sturm laufen. Denn ich verstehe es auch nicht.
Jetzt aber eröffnet sich der Kirche eine ungeahnte Chance: Sie könnte auf das vom Staat zugestandene Privileg von sich aus verzichten und damit zeigen: Christen stehen in dieser Welt, sie gehören zu dieser Welt, und wenn andere verzichten müssen, verzichten sie mit.
Die drastischen Einschränkungen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der Konferenz mit den Ministerpräsidenten verkündet hat, enthalten viele Härten und auch Ungerechtigkeiten. Nur ein Beispiel: Ungezählte Restaurant- und Barbesitzer haben sich schon seit langem an die Hygiene-Regeln gehalten. Sie können für sich in Anspruch nehmen, dass ihre Etablissements keine Viren-Schleudern waren. Wie sollten sie nicht Wut und Frust über den verordneten Lockdown empfinden ?
„Doch mit Gerechtigkeit lässt sich das Virus nicht bekämpfen“ – ein sehr simpler und zugleich überzeugender Befund des jüngsten Newsletters von t-online. Nur die drastische Minimierung von Kontakten kann die bislang rasante Ausbreitung des Corona-Erregers bremsen. Und weil sich die meisten Infektionswege nicht mehr nachvollziehen lassen, muss der ganz große Hammer rausgeholt werden. Denn es gilt, so viele Menschen wie möglich davon abzuhalten, mit anderen in Kontakt zu treten. Da trifft es eben Gerechte wie Sünder. Gastronomie, Hotels, Theater, Kinos, Konzertveranstalter – sie müssen jetzt, schuldig oder unschuldig, dafür büßen, dass wir in Deutschland nach einem guten Sommer dem Virus wieder viel zu viel Raum gelassen haben. Und jetzt kommen wir immer näher an den Kollaps unseres Gesundheitssystems.
Wer ins Feld führt, aber die Gotteshäuser müssten unbedingt offen bleiben, weil die Kirche den Menschen in der Krise Halt und Trost spende, dem sei entgegnet, allzu viele Menschen können das ja nicht mehr sein. Der Massenexodus der Kirchensteuerzahler hat seit Jahren für beide Konfessionen existenzbedrohende Ausmaße angenommen. Und wer sagt, dass nicht auch der kulturbeflissene Agnostiker Halt und Trost in einer guten Theaterinszenierung oder einem wunderbaren Konzert findet ? Schließlich leben wir nicht in einem Gottesstaat. Carsten Brosda, der anerkannt kluge Kultursenator von Hamburg brachte es auf den Punkt: Die Gesellschaft müsse anerkennen, „dass die Sinnsuche nicht nur in den Kirchen stattfindet, sondern auch an anderen Orten“.
In der ersten Infektions-Phase, als schon mal fast alles dicht gemacht wurde, bewiesen ungezählte Gemeinden einen Einfallsreichtum in der Verkündigung, der staunen machte. Mit primitivsten technischen Mitteln wurden Gottesdienste und Orgelkonzerte gestreamt, wurden live auf die heimischen Computer übertragen. Engagierte Kirchenmusiker ließen die Sänger*Innen ihrer Chöre zuhause einzeln singen, setzten die Stimmen auf dem heimischen PC zu einem beglückenden Wohlklang zusammen und schickten den Chorgesang raus in die Gemeinde. Und schließlich lässt sich die Einsamkeit in Zeiten von Corona nicht nur im Gottesdienst durchbrechen. Christliche Zuwendung kann man auch anders praktizieren.
Würde die Kirche also von sich ihre Gotteshäuser geschlossen halten, solange auch die anderen nicht öffnen dürfen, wäre das gelebte Solidariät. Was für ein Zuwachs an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft, der der Kirche winkt. Sie wäre im besten Sinne: – Krisengewinnlerin.
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Danke für Ihre Stimme. Genau diese Gedanken haben ich und meine Bekannten aus der Kulturbranche seit der Verkündung des Lockdowns. Unabhängig davon, dass ich selbst in der Kulturbranche tätig bin, brauche ich als ganz normaler Alltagsverbraucher keine Kirche in meinem Leben, dafür aber Theater oder Galerien. In diesen Bedürfnissen bin ich nicht vereinzelt. Warum soll in einem theoretisch sekulären Staat eine gesellschaftliche Gruppe bevorzugt werden? In vielen Museen und Galerien hatte man schon in den Zeiten vor der Pandemie nicht so viele Besucher auf einmal, so dass man ruhig sehr großzügige Abstände von anderen Menschen aufbewahren konnte (wenn man sogar dort nicht alleine war). In letzten Monaten achtete man noch mehr darauf, um sich beim Galeriebesuch nicht in die Quere zu kommen. Ich sehe auch keinen großen Unterschied zwischen den in einer Kirche und in einem Theater sitzenden Menschen. Die Kulturbranche verhungert. 75% der Novembereinnahmen vom letzten Jahr sind für viele kein Angebot, denn als Künstler verdient man sehr unregelmäßig. Schon jetzt haben viele Menschen Besuche in solchen Orten vermieden, was sich auch negativ auf die finanzielle Lage der Kulturschaffenden ausgewirkt hat. Dazu kamen Einschränkungen in den Besucherzahlen. Es geht allerdings nicht nur ums Geld, sondern auch um unglaublich viel Arbeit, die in die Vorbereitung gewisser Events mit der Entwicklung der Hygienekonzepte gesteckt und durch die Regierung einfach so in den Mülleimer weggeschmießen wurde. Da kommen die offenen Kirchen tatsächlich wie eine bittere Kirsche auf der Torte vor.
Ich stimme Ihnen voll zu. Folgenden Satz möchte ich ergänzen: „Ich sehe auch keinen großen Unterschied zwischen den in einer Kirche und in einem Theater sitzenden Menschen.“ Leider gibt es einen Unterschied: die Leute in der Kirche sprechen Gebete bzw. Antworten, und sie singen (sollten dabei allerdings die Maske aufbehalten . . .) . Aus einer aktuellen Gottesdienstordnung: „Sie tragen in der Kirche eine Mund-Nase-Bedeckung, ausgenommen solange Sie an Ihrem Platz sitzen, stehen oder knien – da darf man die Maske ablegen. Beim Kommuniongang bitte anlegen.“ Das wurde im Theater etc. strenger gehandhabt.