Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einem Kriegerdenkmal-auch Ehrenmal genannt- in Ihrer Gemeinde und auf dem finden Sie in Stein gemeißelt den Namen eines KZ-Arztes von Auschwitz. Unter den anderen Namen der Gefallenen und Vermissten des Zweiten Weltkrieges. Das glauben Sie nicht? Doch, die Geschichte ist nicht erfunden, sie stimmt, sie ist sogar aktuell. Das mit dem Ehrenmal wurde erst vor Wochen einer breiten Öffentlichkeit bekannt durch einen Bericht des MDR. Der Name des Arztes: Dr. med. Eduard Wirths, er war Standortarzt des einstigen Konzentrationslagers Auschwitz, Chef des berüchtigten Doktors Josef Mengele. Er stand damals über Jahre an der Rampe und entschied darüber, wer zunächst ins Arbeitslager kam und wer direkt in die Gaskammer geschickt wurde. Hunderttausende wurden so ermordet, Wirths gab das Zeichen dazu.
Ein Massenmörder. Und doch findet sich sein Name auf dem Ehrenmal des Ortes Geroldshausen in der Nähe von Würzburg. Ehrenmal, das gibts in jeder Gemeinde, weil die Kriege in Europa überall Leben kosteten, Millionen. Davor stehen am Volkstrauertag Menschen und gedenken ihrer gefallenen und vermissten Söhne und Väter, sie verneigen sich vielleicht, beten ein paar Sätze oder reden nur über die Betroffenen. Gefallen in dem von Hitler-Deutschland angezettelten Krieg, die Soldaten ja, aber doch nicht die Ärzte von Auschwitz. Sie waren nicht Opfer, sie waren Täter. Wie Dr. med. Eduard Wirths, der übrigens ganz früh NSDAP-Mitglied wurde, dann zur SA ging und zur SS wechselte. Er diente, wenn man zynisch sein will, in Dachau, Auschwitz, in Neuengamme, in Bergen-Belsen. Und dazu gehörten auch medizinische Versuche, für die er sich schon während seiner Studienzeit an der Uni in Jena interessiert hat. Das besagen Unterlagen aus jenen Jahren.
Aufgeschreckt durch Medien-Berichte
Die Gemeinde Geroldshausen von etwas mehr als 1000 Seelen ist aufgeschreckt durch die Berichte im Fernsehen, in der „Süddeutschen Zeitung“, in der „Bild“-Zeitung, in der Regional-Presse wie der „Main-Post“. Die „Jüdische Allgemeine“ überschrieb ihren Kommentar: „Auschwitz begann auch in Geroldshausen“. „Denkmal für einen SS-Arzt“, hieß es in anderen Medien. Oder: „Wie kommt der NS-Massenmörder aufs Kriegerdenkmal“. Oder: „Diskussion um KZ-Arzt auf Kriegerdenkmal“. Oder: „Überlebende von Auschwitz sind empört“. Oder: „Auschwitz-Komitee fordert Namens-Entfernung“. Die Bild-Zeitung titelte: „Nazi-Schande auf Kriegerdenkmal- Chef von KZ-Schlächter Mengele gemeißelt“. So etwas liest man nirgendwo gern, schon weil es den Ruf eines Dorfes ziemlich in Verruf bringt.
Die Gemeinde Geroldshausen wird handeln, so ist es beschlossen, aber man zögert, ob man den Namen einfach ausradieren soll, oder besser rausmeißeln, das wäre zwar handwerklich einfach, aber man will sich nicht dem Vorwurf aussetzen, man wolle damit die Untaten von Wirths vergessen machen, verdrängen, vertuschen. Bürgermeister Gunther Ehrhardt meint es ernst, er hat das mit dem Ehrenmal nicht gewusst. Als erstes hat die Gemeinde eine Info-Tafel neben das Ehrenmal gestellt. Dort heißt es wörtlich: „Der Name Dr. Eduard Wirths hat nichts auf dem Denkmal zu suchen. Der Gemeinderat verurteilt die von Dr. Eduard Wirths während des Dritten Reiches als Standortarzt in verschiedenen Konzentrationslagern verübten Kriegsverbrechen auf das Schärfste. Der Umgang mit dem Kriegerdenkmal übersteigt in ihrer Bedeutung die Möglichkeiten der Gemeinde. Die Gemeinde sucht deshalb umgehend hierzu die Unterstützung geeigneter Personen oder Institutionen. Nach dieser Aufarbeitung entscheidet der Gemeinderat, in welcher Form die damalige Entscheidung revidiert wird.“
Zur damaligen Entscheidung: Wirths wurde nach Ende des Krieges als Kriegsverbrecher im britischen Internierungslager Staumühle inhaftiert. Dort starb er an den Folgen eines Selbstmordversuchs mit dem Strick. Das war im September 1945. Möglich, dass er deshalb in der Versenkung verschwand, während nach Mengele gefahndet wurde, dem es aber gelang, mit Hilfe seiner Familie nach Südamerika zu entkommen. Ähnlich der Weg von Eichmann, den aber die Israelis später zu fassen kriegten und ihn nach Israel entführten, um ihm dort den Prozess zu machen und hinzurichten. Etwa sechs Jahre später, 1952, entschied der Gemeinderat von Geroldshausen, das bestehende Kriegerdenkmal zu erweitern. Den Auftrag erhielt der örtliche Steinmetzbetrieb Wirths, die Namen der Gefallenen und Vermissten des Zweiten Weltkriegs in das Monument zu meißeln. Niemand dachte sich wohl etwas dabei, dass auch der Name Dr. Eduard Wirths in den aus der Region stammenden Muschelkalk eingehauen wurde. Zumal die Familie des Auschwitz-Arztes im Dorf Geroldshausen angesehen war. Aber eindeutig klar ist: Wirths gehörte nie und nimmer zu den Gefallenen und Vermissten des Krieges. Das wird die Familie gewusst haben. Und setzte ihn doch auf die Gedenktafel.
Mittätertum vieler Deutscher
Doch niemand sonst schien das aufgefallen zu sein all die Jahre, niemand sagte etwas über das Denkmal, weil vielleicht niemand den Namen des Dr. Eduard Wirths dort entdeckt haben wird oder will. Das weiß man so genau nicht. Nach dem Krieg wollten viele alte Nazis nichts mehr davon wissen, wollten höchstens Mitläufer gewesen sein, aber keine Täter. Zur Erinnerung: Es dauerte 40 Jahre, ehe mit Richard von Weizsäcker ein Bundespräsident in seiner berühmt gewordenen Rede aus Anlass des Kriegsendes am 8. Mai 1945 von Befreiung durch die Alliierten sprach, nicht länger von Niederlage. Weizsäcker sprach auch offen das Mittätertum vieler Deutscher mit den Verbrechen der Nazis an, kritisierte, dass sie weggeschaut hätten, wenn der jüdische Nachbar abgeholt worden und nie mehr zurückgekehrt sei. Oder denken wir an den Fall Filbinger, der es trotz seiner Vergangenheit als Marine-Richter immerhin bis zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten geschafft hatte, ehe er vom Schriftsteller Rolf Hochhuth wegen seiner Vergangenheit als „furchtbarer Jurist“ beschrieben wurde und in der Folge zurücktreten musste. Wie konnte das passieren, hätte man zu manchen Karrieren ehemaliger Nazi-Größen in der späteren Bundesrepublik die Frage stellen können? Es gab so viele.
Aber so ernst nahmen es viele Deutsche mit der sogenannten Aufarbeitung ihrer NS-Zeit nicht, Land und Moral lagen am Boden, viele hatten nichts mehr, alles war kaputt. Gern lenkten sie von ihrer eigenen braunen Vergangenheit ab und stürzten sich auf die kommunistische Gefahr. Nur so ist doch die Inschrift auf dem Ehrenmal in Geroldshausen zu erklären. Für Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, ist die Ehrung des früheren Auschwitz-Arztes unerträglich. Für die Überlebenden von Auschwitz sei die historische Lüge entsetzlich. Sie dürfte für sie kaum zu ertragen sein. Und sie ist ein trauriges Zeichen für das, was man mancherorts die Aufarbeitung unserer schlimmen Vergangenheit nennt und dabei das Leid der Opfer verdrängt oder schlicht und einfach unter den Tisch fallen lässt. Heubner erinnert in einem Beitrag für die „Jüdische Allgemeine“ daran, dass die große Mehrzahl der SS-Täter aus den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern nie einen Gerichtssaal von innen gesehen hätten. „Die allermeisten von ihnen kehrten nach Kriegsende ohne jedes Anzeichen von Schuldbewusstsein zu ihren Familien und Nachbarn zurück. Niemand fragte, wo sie gewesen waren, niemand sprach ihnen die Ehre ab.“ Und selbst einer wie Wirths fragte in einem Brief an seine Frau: „Was nur habe ich verbrochen?“ Und er meinte noch 1945, dass „wir uns mit dem besten Gewissen vor unserem Herrgott und vor den Menschen verantworten können.“ Unfassbar, diese Heuchelei, weil er möglicherweise ein paar Juden gerettet oder dafür gesorgt haben könnte, dass die schlimmsten hygienischen Zustände in Auschwitz mit seiner Hilfe beseitigt wurden.
Heubner findet den Namen von Wirths auf dem Ehrenmal befremdlich, weil viele gewusst hätten, dass dieser Eduard Wirths als Kriegsverbrecher -wegen seiner Verbrechen in Auschwitz- an den Folgen eines Selbstmordversuchs gestorben war. Aber man habe nicht nachgefragt bei Wirths ebenso wenig wie man nachgefragt habe, wo denn „die jüdischen Bewohner von Gerolshausen und die Sintiza Paula Spindler und ihre dreijährige Tochter geblieben waren.“.
76 Jahre nach Kriegsende wird die Gemeinde von Geroldshausen von einem Teil ihrer unschönen Geschichte eingeholt. Sie muss sich ihr stellen, sie wird sich ihr stellen, das haben sie im Gemeinderat so beschlossen. Sie dürfen sich, so hat es Heubner gesagt, nicht hinter der alten Floskel „Jetzt muss doch endlich mal Schluss sein“ verstecken. Der Namenszug von Eduard Wirths gehörte nie auf das Ehrenmal, er gehört dort entfernt. Als Zeichen, dass man verstanden hat, der Opfer gedenken zu müssen. Aber auch als eine Art „Selbstachtung der Dorfgemeinschaft und der Erkenntnis, dass Auschwitz auch in Geroldshausen begonnen hat.“(Heubner)
Die Gemeinde lässt sich vom Internationalen Auschwitz-Komitee beraten, um „eine gute Erinnerungs- und Mahnkultur für die Bevölkerung einzurichten.“ Man bedauert zutiefst, „dass mit der bisherigen unzulänglichen verharmlosenden Darstellung des Lebenswegs von Eduard Wirths und der Inschrift auf dem Kriegerdenkmal den Opfern von Auschwitz und allen Opfern des Zweiten Weltkriegs solange Unrecht getan und die Gefühle der Überlebenden verletzt wurden.“ Geroldshausen will eine ehrliche und schonungslose Auseinandersetzung, damit „die Erinnerung an den Holocaust für die nachfolgenden Generationen eine unerschütterliche Mahnung bleibt. „Auch die Familie Wirths, die noch in Geroldshausen lebt, will die „Beteiligung des Familienmitglieds an den verübten Verbrechen nicht leugnen oder schönreden.“